Die Beresina (belosruss: Bjaresina) ist ein rechter Nebenfluss des Dnjepr, der sich nach gut 600 Kilometer bei Homel mit diesem vereint. Da er an seinem Mittellauf oft nur gute 20 Meter breit und nicht allzu tief ist, friert er im Winter schnell zu. Allerdings sorgte im November 1812 kurzfristiges Tauwetter dafür, dass die Eisdecke brach und der Wasserstand deutlich höher war als üblich.
Das machte die Beresina zu einem ernsthaften Hindernis für Napoleons Grande Armée. Die hatte ab Mitte Oktober das vom Brand verwüstete Moskau endlich verlassen und schleppte sich nun auf der Route zurück, die sie schon auf ihrem Hinmarsch ruiniert und verkotet hatte; ständig bedrängt von nachrückenden russischen Truppen und dem einsetzenden Winter. Den Übergang über die Beresina zu gewinnen, wurde für Napoleon I. zum entscheidenden Nadelöhr.
Der russische Admiral Pawel Wassiljewitsch Tschitschagow (1767–1849) erhielt den Befehl, dies zu verhindern. Der Sohn eines Marineoffiziers aus niederem Adel hatte eine steile Karriere gemacht. Bereits als Fünfjähriger war er als Adjutant seines Vaters in die russische Flotte eingetreten. Schon 1788 war er Kapitän, gelangte nach der Beseitigung Zar Pauls I. 1801 in die Entourage Alexanders I. und wurde 1802 mit 35 Jahren zum Marineminister ernannt.
Da er zuvor einige Zeit in England gelebt hatte, hatte Tschitschagow eine Vorstellung vom technischen und gesellschaftlichen Vorsprung des Westens. Er fürchtete die Royal Navy und bewunderte Napoleon. In St. Petersburg galt er als einer der maßgeblichen Unterstützer eines Bündnisses mit Frankreich, was ihm viele Gegner eintrug. Der junge Zar aber bewunderte den unkonventionellen Admiral und übertrug ihm nach der Invasion Napoleons 1812 das Kommando über die Moldauarmee, nachdem deren Chef Michail Kutusow zum Oberbefehlshaber der russischen Truppen ernannt worden war.
Während Napoleon mit seiner bereits arg dezimierten Armee in Moskau auf Friedensfühler Alexanders wartete, hatte Tschitschagow seine 60.000 Mann von der osmanischen Grenze nach Norden marschieren lassen. Dort deckte er die russische Flanke zunächst gegen das österreichische Korps, das an der Seite Napoleons nach Russland vorgedrungen war. Ende Oktober erhielt er von Kutusow den Befehl, den Franzosen den Übergang über die Beresina zu verlegen. Das sollte den übrigen zarischen Armeen die Möglichkeit geben, den Gegner auf dem Ostufer einzuschließen und zu vernichten.
Um die Österreicher in Schach zu halten, teilte der Admiral seine Armee. Mit 27.000 Mann zielte er auf Minsk, das die Franzosen zu einer Nachschubbasis ausgebaut hatten. Am 16. November zog er in Minsk ein. Siegesgewiss erließ Tschitschagow eine Proklamation an seine Soldaten:
„Napoleons Armee ist auf der Flucht. Der Mann, der alles Übel über Europa gebracht hat, befindet sich in ihren Reihen. Wir schneiden ihm den Rückzugsweg ab. Es kann durchaus sein, dass es dem Allmächtigen gefällt, seine Bestrafung der Menschheit zu beenden und ihn uns in die Hände zu liefern. Daher will ich, dass jeder seine Beschreibung kennt: Er ist von geringer Größe, untersetzt, bleich, mit kurzem, dickem Hals, einem großen Kopf und schwarzem Haar. Um alle Eventualitäten auszuschließen, nehmt alle Personen von geringem Wuchs gefangen und bringt sie mir.“
Das trug dem Admiral zahlreiche untersetzte Gefangene ein – aber keinen Napoleon. Der erreichte mit dem Kern seiner Truppen, rund 45.000 Mann, am 25. November den Ort Borisow (Baryssau) am Mittellauf der Beresina. Dort gab es eine Brücke, die aber in den Kämpfen zwischen den Vorhuten beider Armeen inzwischen in Flammen aufgegangen war.
Tschitschagow stand also vor dem Problem, den Fluss über Dutzende Kilometer abschirmen zu müssen. Die Bitte an den russischen General Peter von Wittgenstein, sich mit ihm zu vereinen, ignorierte dieser geflissentlich. Er operierte im Norden der Grande Armée und hätte die Beresina wohl rechtzeitig überqueren können. Aber er mochte sich nicht dem Befehl Tschitschagows unterstellen. Auch teilte er dessen Respekt vor Napoleons Feldherrngenie, sodass er lieber mit dem Gros der russischen Truppen Fühlung hielt, die dem Kaiser in respektvollem Abstand folgten.
Da er das Hochufer bei Borisow besetzt hielt, ging Tschitschagow davon aus, dass Napoleon sich nördlich oder südlich einen anderen Übergang suchen würde. Dass der Franzose auf Minsk und dessen Magazine halten würde, schien ihm die wahrscheinlichste Lösung zu sein. Darin wurde er auch von Kutusow bestärkt, der ihm in einem Brief voraussagte, Napoleon werde sich nach Süden wenden, wenn er Borisow blockiert vorfinden würde.
Da auch Napoleon einen (kleinen) Teil seiner Truppen nach Süden schickte, schluckte der Admiral den Köder. Während er diese verfolgte, marschierten die Franzosen jedoch nach Norden, nach Studjanka, wo ein General eine Furt entdeckt hatte. Umgehend begannen Pioniere mit dem Bau von zwei Brücken.
Bis zu 15 Minuten mussten die Männer im eisigen Wasser ausharren, viele erfroren, wurden von der Strömung weggerissen oder von Eisschollen zermalmt. Am Mittag des 26. November 1812 war die erste Brücke fertig, kurz darauf stand daneben ein weiterer, stabilerer Übergang, der für Wagen und Artillerie reserviert war. Umgehend begann der Abmarsch, allerdings nur für Truppen mit Waffen und guter Ordnung. Mehrmals brachen Brückenteile ein, konnten aber wieder instand gesetzt werden.
Tschitschagow hatte inzwischen seinen Fehler erkannt und machte sich auf den Rückweg. Aber seine Leute waren erschöpft, eine Meuterei schien möglich. „Meine Ermahnungen zeigten keine Wirkung“, schrieb der Admiral später in seinen Erinnerungen. „Ich sah mich zu der Drohung genötigt, auf sie zu feuern. Ich ließ eine Kanone aufprotzen und diese von hinten auf sie zielen.“ Missmutig zogen seine Leute los.
Als sie die Brücken bei Studjanka erreichten, hatten die, die von der Grande Armée noch übrig waren, den Fluss bereits passiert. Nicht mehr hinübergekommen aber waren etwa 15.000 Nachzügler – Versprengte, Diener, Frauen, Kinder – die der Armee gefolgt waren und die sich in Panik über die Brücken drängten, als die russischen Verfolger sich dem Ostufer näherten.
Napoleon hatte am Morgen des 28. November den Befehl gegeben, die Brücken in Brand zu setzen. Doch der Kommandeur der Nachhut verzögerte die Ausführung, um möglichst vielen Zivilisten den Weg offenzuhalten. Als die russischen Kolonnen aber in Sichtweite waren, wurden die Bauten angesteckt. Zurück blieben Tote und Sterbende.
Ein russischer General beschrieb die entsetzliche Szenerie: „Massen von Menschen, darunter viele Frauen mit Kindern und Säuglingen waren bis zu dem mit Eis bedeckten Fluss hinabgestiegen. Diejenigen, deren Elend hier mit dem Tod sein Ende fand, waren die Glücklichen. Sie wurden von den Überlebenden beneidet.“ Das Eis, das sich inzwischen wieder auf dem Wasser gebildet hatte, „war durchsichtig wie Glas. Darunter sah man Leichen über die ganze Breite der Wasserfläche“.
Ein anderer Offizier erinnerte sich: „Das erste, was wir sahen, war eine Frau, die zusammengebrochen und im Eis festgeklemmt war ... in dem einen Arm hielt sie einen Säugling ... Ihre ausdrucksstarken Augen hefteten sich auf einen Mann, der neben sie gefallen und schon erfroren war. Zwischen ihnen, auf dem Eis, lag ihr totes Kind.“
Napoleon hatte sich mit Erfolg „aus einer der schlimmsten Lagen, in denen sich je ein Feldherr befunden hat“ befreit, schrieb der preußische Offizier Carl von Clausewitz, der den Krieg auf russischer Seite mitmachte. Die Schuld dafür wurde Tschitschagow zugeschrieben. Erst Generationen später rückten Historiker die Maßstäbe zurecht und verwiesen auch auf die Verantwortung Kutusows und Wittgensteins. Der Admiral verlor sein Kommando und verbrachte den Rest seines Lebens in Westeuropa. Eingebürgert in England, starb er 1849 in Paris.
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