Interview ǀ „Corona hat uns sanft gemacht“ — der Freitag

„Corona hat uns sanft gemacht“

Interview Naomi Klein will nicht zum Status quo vor Corona zurück. Sie sieht in der Krise historische Chancen
| The Guardian | 57
„Corona hat uns sanft gemacht“

Foto: Tim Bauer/Headpress/Laif

Die Krise ist auch eine Chance – dieser Satz ist in Corona zur Phrase verkommen. Naomi Klein jedoch hat diese These schon immer vertreten. Nun erklärt die Autorin, wie sie zu verstehen ist: Dass die Krise spüren lässt, wie abhängig Menschen voneinander sind. Dass der Kapitalismus sich in Katastrophen rasant wandelt, aber stets Ungleichheit produziert – wenn nicht dagegen gekämpft wird. Wie immer.

Frau Klein, wie geht es Ihnen im Lockdown?

Naomi Klein: Ich habe es ziemlich gut erwischt, wie viele, die auf Zoom unterrichtet haben und das zugleich mit Homeschooling und Back-Experimenten kombinieren konnten. Jetzt bin ich mit meiner Familie für den Sommer wieder in Kanada, in Quarantäne, weil man in Kanada, wenn man aus den USA kommt, in eine ziemlich strikte Quarantäne kommt. Ich habe das Haus seit fast zwei Wochen nicht mehr verlassen. Ich entwickle gerade ziemliche Ängste vor dem Ende der Quarantäne.

In einem Ihrer jüngsten Essays zitieren Sie einen Tech-Unternehmer: „Menschen sind eine biologische Gefahrenquelle, Maschinen nicht.“ Das hat bei mir Gänsehaut und Zukunftsängste ausgelöst. Sie sprechen von einem „Screen New Deal“.

Das Silicon Valley hatte schon vor Corona die Agenda, möglichst viele unserer persönlichen körperlichen Erfahrungen durch technologische Vermittlung zu ersetzen. Also etwa persönliches Lernen durch virtuelles Lernen, persönliche Arztkontakte durch Telemedizin und Zusteller durch Roboter. Jetzt wird uns all das als berührungslose Technologie angepriesen, um etwas zu ersetzen, was als Problem dargestellt wird, nämlich das Problem der Berührung. Und doch ist das, was wir auf persönlicher Ebene am meisten vermissen, Berührung. Wir müssen uns jetzt fragen, besonders, da wir noch keinen Impfstoff haben: Wie werden wir mit dem Coronavirus in Zukunft leben? Werden wir einen Prä-Corona-Normalzustand akzeptieren, aber jetzt in stark verarmter Form, ohne die Beziehungen, die uns ausmachen? Werden wir unseren Kindern zumuten, dass sie nur noch technologisch vermittelt lernen? Oder werden wir in Menschen investieren? Anstatt unser ganzes Geld in einen „Screen New Deal“ zu stecken und zu versuchen, Probleme auf eine Weise zu lösen, die unsere Lebensqualität mindert: Warum stellen wir nicht im großen Stil Lehrer:innen ein? Warum lassen wir nicht doppelt so viele Lehrer:innen in halb so großen Klassenzimmern unterrichten und überlegen uns, wie wir den Unterricht nach draußen verlagern können? Es gäbe so viele Möglichkeiten, auf diese Krise zu reagieren, ohne dass wir zu einem Status quo zurückkehren, wie er vor Corona war, nur schlechter, mit mehr Überwachung, mehr Bildschirmen und weniger menschlichen Kontakten.

Gibt es Regierungen, die in diese Richtung denken?

Es hat mich ermutigt, als Jacinda Ardern von einer Vier-Tage-Woche sprach, als Antwort auf das Problem, dass Neuseeland sehr abhängig vom Tourismus ist. Zugleich ist Neuseeland wahrscheinlich das Land, das mit der Pandemie besser als jedes andere fertiggeworden ist. Wenn es keine Touristen mehr gibt, führt das zu der Idee, dass die Neuseeländer vielleicht einfach weniger arbeiten, trotzdem gleich bezahlt werden, aber mehr Freizeit haben. Wie werden wir langsamer? Darüber denke ich sehr viel nach. Für mich fühlt es sich so an, als ob jedes Mal, wenn wir mit Druck zum „Normalzustand“ zurückwollen, das Virus hochschnellt und sagt: „Langsamer.“

Zur Person

Naomi Klein, 50, wuchs in Montreal in Kanada auf und wurde 1999 mit dem globalisierungskritischen Buch No Logo weltbekannt. Heute ist sie Professorin auf dem Gloria-Steinem-Lehrstuhl für Medien, Kultur und Feministische Studien der Rutgers-Universität in New Jersey. 2019 veröffentlichte sie ihr Buch On Fire: The Burning Case for a Green New Deal, das auf Deutsch unter dem Titel Warum nur ein Green New Deal unseren Planeten retten kann bei Hoffmann und Campe erschien

Wir alle lieben diese Momente der Verlangsamung, aber zugleich gibt es eine Dringlichkeit, nichts an unserer Lebensweise zu ändern, sondern einfach so weiterzumachen, wie es vorher war.

Das ist Wahnsinn. Dabei ist es nur eine Minderheit, die alles öffnen will. Der Mehrheit macht es Sorgen, wieder zur Arbeit zurückzukehren, bevor es sicher ist, Kinder zur Schule zu schicken, bevor es sicher ist. Manchmal wird das so dargestellt, als gäbe man den Menschen, was sie wollen, aber die Umfragen geben das nicht her.

Mich würde interessieren, was Sie dazu sagen, dass der Tod von George Floyd genau jetzt zu derartigen Protesten geführt hat?

Mich beeindruckt, wie inmitten einer Krise auf der ganzen Welt diese gewaltigen Demonstrationen gegen Rassismus stattfinden. Es ist nicht der erste Aufstand dieser Art. Aber ich glaube, es gibt Aspekte daran, die damit zu tun haben, wie stark sich die Pandemie auf Afroamerikaner in Städten wie Chicago auswirkt, wo nach einigen Zählungen 70 Prozent der Corona-Todesopfer Afroamerikaner waren. Ob es nun daran liegt, dass sie gefährdete Jobs ohne Schutzmaßnahmen ausüben, oder an den Folgen der Umweltverschmutzung in ihren Gemeinden, am Stress, an Traumata, unsicheren Arbeitsplätzen oder ungleicher Gesundheitsversorgung. Schwarze Gemeinden tragen eine unverhältnismäßig hohe Last der durch Corona verursachten Todesfälle und widerlegen damit die Idee, dass wir alle gemeinsam davon betroffen sind. Dann gibt es eine Frage, die sich viele Menschen stellen, nämlich: Was machen all diese Nicht-Schwarzen bei den Protesten? Das ist neu, jedenfalls in diesem Ausmaß. Warum ist es diesmal anders? Ein möglicher Grund liegt in der Sanftheit, die die Pandemie in unsere Kultur gebracht hat. Wer entschleunigt, spürt mehr, im Hamsterrad ist nicht viel Zeit für Empathie. Von Anfang an hat das Virus uns gezwungen, über wechselseitige Abhängigkeiten und Beziehungen nachzudenken. Auf einmal überlegen wir: Alles, was ich berühre, hat das jemand anders berührt? Die Lebensmittel, die ich esse, das Paket, das gerade geliefert wurde, die Lebensmittel in den Regalen. Der Kapitalismus bringt uns bei, über derlei Zusammenhänge nicht nachzudenken. Der Zwang, auf vernetztere Art und Weise zu denken, hat viele von uns sanft genug gemacht, um über diese rassistischen Gräueltaten nachzudenken und nicht zu sagen: Och, das ist nicht mein Problem.

In der neuen Einleitung zu Ihrem Buch schreiben Sie: „Was vor der Katastrophe schlimm war, wurde danach unerträglich“ – es ist unerträglich, wie Schwarze von der Polizei behandelt werden.

Wenn sich eine Katastrophe ereignet, heißt es: „Der Klimawandel unterscheidet nicht, die Pandemie trifft uns alle gleich. Wir sitzen alle im selben Boot.“ Aber das stimmt nicht. Katastrophen wirken wie Vergrößerungsgläser, wie Verstärker. Wenn du vorher einen Job in einem Lager von Amazon hattest, der dich krank machte, oder in einem Pflegeheim lebtest, wo du so behandelt wurdest, als sei dein Leben wertlos, dann war das vorher schlimm – aber jetzt ist es unerträglich. Wenn du vorher entbehrlich warst, bist du jetzt jemand, der geopfert werden kann. Wir reden hier nur über die Gewalt, die wir sehen können, nicht die Gewalt, die verborgen ist: häusliche Gewalt. Im Klartext: Wenn Männer Stress haben, kriegen Frauen Hiebe, Kinder genauso. Der Lockdown ist deshalb so stressig, weil die Familie sich nicht mehr ausweichen kann. Dazu kommen Entlassungen, wirtschaftlicher Stress. Es ist gerade eine sehr üble Situation für Frauen.

Sie haben sich im vergangenen Jahr sehr für einen Green New Deal und die Kampagne von Bernie Sanders eingesetzt. Wie sehen Sie die Chance dafür jetzt?

Mein Wunschergebnis wäre sicher ein Präsidentschaftskandidat gewesen, der eine Kampagne mit dem Green New Deal im Zentrum führt. Ich denke, dass wir das nur in einem Zusammenspiel aus Massenprotesten und Druck von außen und Aufgeschlossenheit von innen erreichen können. Mit Bernie gab es diese Chance, mit Joe Biden ist es schwieriger, aber nicht unmöglich. Am Ende meines Buches On Fire habe ich zehn Gründe dafür genannt, dass ein Green New Deal gute Klimapolitik wäre. Einer ist: Er ist rezessionssicher. In der Klimabewegung haben wir die schlechte Bilanz, immer dann Fortschritte zu erzielen, wenn es der Wirtschaft relativ gut geht. Der Grund dafür ist, dass die Klimalösungen, die Regierungen uns zugestehen, in der Regel neoliberale, marktbasierte Lösungen sind, wie zum Beispiel eine Politik der erneuerbaren Energien, die den Eindruck erwecken, Energiekosten zu verteuern, oder eine CO₂-Steuer, die das Benzin teurer macht. Sobald man einen wirtschaftlichen Abschwung hat, verflüchtigt sich die Unterstützung für diese Politik. Das haben wir nach der Finanzkrise von 2008 gesehen. Das Klima hat den Ruf bekommen, eine bourgeoise Angelegenheit zu sein – ein Thema, um das man sich kümmert, wenn man sich keine Sorgen machen muss, wie man die Miete zahlt. Das Wichtige am Green New Deal ist, dass er sich an das Vorbild eines der größten Konjunkturprogramme aller Zeiten während der größten Wirtschaftskrise aller Zeiten anlehnt: den New Deal von Roosevelt während der Großen Depression. Deshalb war die häufigste Kritik, die ich bekam, als ich vor etwas weniger als einem Jahr mein Buch On Fire veröffentlichte: „Wir tun solche Dinge nicht, wenn es der Wirtschaft gut geht.“ Die einzigen Momente, in denen unsere Gesellschaften sich schnell bewegt haben und sich grundlegend verändert haben, waren Augenblicke der wirtschaftlichen Depression oder Kriege. Aber wir wissen jetzt, wie schnell Veränderung möglich ist, wir haben es gesehen. Wir haben unser Leben von Grund auf verändert. Und wir haben bemerkt, dass unsere Regierungen über Billionen von Dollar verfügen, die sie die ganze Zeit hätten einsetzen können. Das alles hat ziemliches Radikalisierungspotenzial. Deshalb glaube ich: Wir haben eine Chance. Ich würde mich selbst nicht als optimistisch bezeichnen, denn es ist immer noch eine Zukunft, die wir erst erkämpfen müssen. Aber wenn wir auf Augenblicke in der Geschichte schauen, in denen große Veränderungen gewonnen wurden, dann sind es Momente wie dieser.

Katharine Viner ist Chefredakteurin des Guardian

Übersetzung: Pepe Egger

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Geschrieben von

Katharine Viner | The Guardian

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