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Wie der KZ-Film "Nacht und Nebel" missbraucht wurde

Filmredakteur
Alain Resnais' legendäres "Nacht und Nebel" prägte unser Bild von KZs mehr als "Holocaust" und "Schindlers Liste". Doch der Film wurde verändert.

Wer Mitte der Fünfziger, zehn Jahre nach dem Untergang des Dritten Reiches, Bildmaterial über Konzentrationslager suchte, hatte es nicht leicht. Die wenigen von den Nazis gemachten, verharmlosenden Aufnahmen lagen verstreut in Archiven von Washington bis Moskau, die schockierenden Wochenschauen der KZ-Befreier befanden sich unter militärischem Verschluss, und die Filme – kaum ein halbes Dutzend – die sich bald nach Kriegsende damit befasst hatten, wurden nicht mehr gespielt. Der Massenmord war medial praktisch nicht vorhanden. Dann kam "Nacht und Nebel".

"Nacht und Nebel" ist ein Dokumentarfilm über das KZ-System, in Auftrag gegeben von zwei Organisationen früherer französischer Widerstandskämpfer und Deportierter, gedreht von Alain Resnais, getextet von dem KZ-Überlebenden und Dichter Jean Cayrol und mit Musik versehen durch den Emigranten Hanns Eisler.

Deutsche Botschaft äußerte Bedenken

Der Film, 32 Minuten lang, wurde 1956 für die Festspiele in Cannes eingereicht. Das Festival akzeptierte ihn und schickte die Wettbewerbsliste an den Staatssekretär für Industrie und Handel; damals musste die Regierung dem Cannes-Programm zustimmen. Als der Staatssekretär die offizielle Liste bekannt gab, war Resnais' Film verschwunden.

Nun liegt endlich die definitive Studie über "Nacht und Nebel" vor, die nicht nur erklärt, warum Resnais unser aller Vorstellung von KZs entscheidend geprägt hat, mehr als "Holocaust", sondern auch die Widerstände beschreibt, auf die der Film überall stieß. Sylvie Lindeperg vollzieht nicht nur die Entstehung nach, sondern malt ein Zeitpanorama.

Sie verfolgt akribisch, was dem Verschwinden vorausging. Die deutsche Botschaft hatte Bedenken geäußert. Eine Vorführung in Cannes könne "die Stimmung vergiften" und dem Ansehen der Bundesrepublik schaden, da der normale Zuschauer nicht in der Lage sei, "sich den Unterschied zwischen den kriminellen Anführern des Nazi-Regimes und dem heutigen Deutschland klar zu machen".

Zahlreiche Filme wurden zurückgezogen

Auch die französische Bürokratie sah in Resnais' Film eher ein Hindernis. Man solle ihn ausschließen, falls zu vermuten sei, dass seine Vorführung "Handelsrepressalien seitens unseres besten Kunden nach sich ziehen" könne. Der "beste Kunde" war West-Deutschland.

Solche Erwägungen waren damals gang und gäbe. Artikel 5 der Festivalsatzung ermöglichte die Ablehnung von Filmen, "die ein nationales Gefühl verletzen". Verletzte Gefühle gab es zuhauf. Die Norweger zogen ihren Deportationsfilm "Flucht aus der Hölle" zurück, weil die Deutschen verletzt waren.

Die Engländer zogen "Marsch durch die Hölle" zurück, weil die Japaner ihre Soldaten diffamiert sahen. Und die Russen protestierten gegen Helmut Käutners "Himmel ohne Sterne", der die deutsche Teilung aus westlicher Sicht darstellte.

Fast jedes Land veränderte den Film

Die sturen Deutschen zogen Käutner nicht zurück, die Franzosen waren verärgert und schlossen "Himmel" aus – und "Nacht und Nebel" wurde in Cannes doch aufgeführt, wenn auch nicht im Wettbewerb.

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Um den Schaden bei der fragilen deutsch-französischen Aussöhnung zu begrenzen, erklärte sich das Bonner Bundespresseamt bereit, die Übersetzungs- und Synchronisationskosten zu übernehmen.

Damit verbunden waren Forderungen. Der Name des Komponisten solle aus dem Vorspann gelöscht werden, denn Eisler hatte auch die DDR-Hymne komponiert. Die Franzosen verweigerten das, gaben aber an einem anderen Punkt nach: Jener Teil der Musik, in der Eisler das "Lied der Deutschen" karikierte, wurde entfernt. Das waren nur die erste von vielen Händen, die an "Nacht und Nebel" herumzerren sollten. Fast jedes Land versuchte den Film zu verändern, zu instrumentalisieren, zu verfälschen.

Celan textete konkreter als Cayrol

Cayrol ließ Lyriker Paul Celan die deutschen Texte schreiben, den Autor der "Todesfuge". Celan steigerte Cayrols Abstraktions- und Dichtegrad – und wurde zugleich konkreter. Aus "dem alten Konzentrationsmonster" wird beim ihm "Rassenwahn", aus "Zyklon-Gas" das "Giftgas Zyklon B". Celans Kommentar verdeutlicht auch, dass die Geschichte nicht abgeschlossen und verarbeitet ist.

Während Cayrol unter Bilder von Lageraufsehern den Text "Ich bin nicht verantwortlich / Wer also ist verantwortlich?" legt, verwendet Celan ein stärkeres Wort, das in die Gegenwart greift: "Ich bin nicht schuld / Wer also ist schuld?".

Auch die DDR verfolgte Absichten. Resnais und Cayrol hatten eine Warnung ans Ende gesetzt: "Und wir, die wir aufrichtig auf diese Ruinen blicken und nicht hören, dass man endlos schreit." Die Schreie haben mit Kriegsende nicht aufgehört, es gibt anderswo Lager mit Gefolterten.

Es gibt eine DDR-Version des Films

In der DDR-Version las sich das anders: "In einem Teil der Welt haben die Toten zu schreien aufgehört, weil das Unkraut bis zur Wurzel ausgerissen worden ist." Das stand im Einklang mit der eigenen antifaschistischen Legitimation, die alle Schuld auf den westdeutschen Staat als Rechtsnachfolger des Dritten Reichs abwälzte.

Die Franzosen verlangten Änderungen: "Und wir denken nicht daran, uns umzublicken, wir überhören die Schreie, die nicht enden wollen" hieß es dann in der Defa-Synchronisation von Henryk Kelsch, der in der Résistance gewesen war.

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Damit waren die Probleme von "Nacht und Nebel" längst nicht ausgestanden. Japan verbot die Einfuhr, weil die Szenen mit nackten Toten das "öffentliche Schamgefühl" verletzen könnten.

Briten störten sich an nackten Toten

Auch der britische Zensor störte sich an nackten Leichen und ausgehöhlten Schädeln und war mit dem Hinweis nicht zu beeindrucken, exakt diese Bilder seien nach Kriegsende dem englischen Publikum gezeigt worden.

Die Zeiten hatten sich geändert. Damals sollten die Szenen die Briten darauf vorbereiten, dass Deutschland der Prozess gemacht wurde. Jetzt war die Bundesrepublik ein Verbündeter im Kampf gegen den Kommunismus.

Am schlimmsten gebeutelt wurde "Nacht und Nebel" in den USA, und zwar nicht durch eine ideologische, sondern durch die kommerzielle Zensur. Kein Verleih wollte den Film, die Fernsehnetze winkten ab und nur eine kleine Station zeigte sich interessiert, die Metropolitan Broadcasting Corporation.

Die integrierte ihn stückweise in eine einstündige Sendung über KZ-Grausamkeiten. Ein Moderator stellte Augenzeugen vor und spielte, wie es gerade passte, Ausschnitte aus "Nacht und Nebel" ein. Erst als der Eichmann-Prozess begann, kam es zu Aufführungen des kompletten Films.

Sylvie Lindeperg: Nacht und Nebel. Vorwerk 8, Berlin. 350 S., 19 Euro .

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