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Genre ist ein elementarer Begriff fast jeder Geisteswissenschaft.Footnote 1 Bild-, Film-, Literatur-, Musik-, Theaterwissenschaft: Sie alle weisen ihren Gegenständen generische Merkmale zu und sind offenbar darauf angewiesen, ihren Gegenstandsbereich mittels solcher Zuweisungen zu ordnen, ob aus pragmatischen oder heuristischen, politischen oder strategischen Gründen. Diese Ordnung kann auch mittels anderer Kategorien hergestellt und legitimiert werden, etwa diachron in Form von Epochen oder hierarchisch als Kanon. Genres haben zwar auch einen zeitlichen Vektor und sind in Wertungen involviert, sie sind zugleich jedoch offener formuliert und durch den Fokus auf ÄhnlichkeitenFootnote 2 zwischen Bildern, Filmen, Texten oder Stücken (potenziell) synchron organisiert.

Dieser Ordnungs- und Wertungsfunktion werden Texte und andere Ausdrucksformen nicht nur unterworfen; sobald generische Zuschreibungen bekannt sind, können diese in die Produktion neuer Texte und Ausdrucksformen einfließen und dabei auch neu verhandelt werden: „[A]ll texts are strongly shaped by their relation to one or more genres, which in turn they may modify“, heißt es bei John Frow (2015: 1). Genres sind demnach nicht einfach vorhanden; sie werden hergestellt, rezipiert und genutzt. Eine wissenschaftliche Herangehensweise, die sich für diese „uses of genre“ und für das Populäre von Genres, welches dieser Beitrag thematisiert, interessiert, wird den Fragen „how do genres work in practice, what do we do with genre classifications, what are their social dimensions?“ (Frow 2015: 2) nachgehen müssen.

Mit diesen Fragen ist auch klar, warum die oft evozierte Vorstellung eines irgendwo auffindbaren, stabilen Genresystems oder von Genre als einer vorliegenden ‚Sache‘ von jüngerer Genretheorie im Zuge der „konstruktivistische[n] Synthese“ (Hempfer 1973: 122) verworfen wurde. Klaus Hempfers Auflösung des Widerspruchs zwischen den beiden ontologischen Auffassungen von Genre (es gibt Genre vs. es gibt Genre nicht) führte ein neues Paradigma in die deutschsprachige, literaturwissenschaftliche Genretheorie ein, das parallel dazu in anderen Disziplinen sowie Sprachräumen emergierte und in den folgenden Dekaden unterschiedliche genretheoretische Projekte zur Folge hatte.Footnote 3

Genres werden seitdem in Bezug auf kulturelle Artefakte und ihre Ähnlichkeitsverhältnisse (sowohl strukturalistisch als auch produktionsorientiert) ebenso wie auf kognitive Strukturen (eher rezeptionsorientiert, aber auch hinsichtlich einer kommunikativen Funktion), auf kulturelle, identitäre und funktionale Implikationen sowie das Zusammenspiel dieser Dimensionen beschrieben – etwa als „literarisch-soziale Institutionen“ (Voßkamp 1977: 30; vgl. auch Gymnich und Neumann 2007: 34). So bezeichnet Fredric Jameson Genres in einem frühen Aufsatz als „essentially contracts between a writer and his readers“ bzw. als „literary institutions, which like the other institutions of social life are based on tacit agreements or contracts“ (Jameson 1975: 135). Zu Problemen führt dabei – Jamesons doppelte Metapher deutet es an – immer wieder die Angabe des Aggregatzustands eines Genres: Realisiert es sich in kulturellen Artefakten, handelt es sich um ein abstraktes Konstrukt? Wenn letzteres der Fall ist, wo werden Genres dann geprägt? Und wie verhalten sich etwa emergierende, nicht-artikulierte Konventionen zu artikulierten Genrenamen bzw. eben konkrete Artefakte zu Genres?

Gerade vor dem Hintergrund solcher Unklarheiten bewährt sich die integrative Kraft eines diskurstheoretischen bzw. praxeologischen Genrebegriffs, wie ihn jüngst etwa Werner Michler ausgearbeitet hat (Michler 2015; vgl. aber etwa auch Fohrmann 1988: 283 sowie für den Film Neale 1980: 51–55; Ritzer 2020: 156–159; für Pop-Musik Frith 1996b: 75–88). Genre erscheint dann als Prozess, dessen Regeln und Strukturen beschreibbar sind; der bisweilen in Begriffen kristallisiert, die für Kommunikation und Wertung unerlässlich sind – die aber eben keine ‚Sachen‘ bezeichnen: „texts themselves are insufficient to understand how genres are created, merge, evolve, or disappear. We need to look outside the texts to locate the range of sites in which genres operate, change, proliferate, and die out“ (Mittell 2001: 7). Schaut man über den Tellerrand des Texts hinaus, rückt die Prozesshaftigkeit von Genre-Zuschreibungen und ihre Einbettung in die Mechanismen textueller (oder medialer) Kommunikation in den Blick: „Genres exist only through the creation, circulation, and reception of texts within cultural contexts“ (Mittell 2001: 8). Sie sind, so wäre festzuhalten, nicht nur Produkt und Agent im Kulturbetrieb, sondern auch über den Bereich des Ästhetischen als ordnendes und wertendes Element relevant.

Der vorliegende Beitrag wird diese Prozesshaftigkeit und die von Frow aufgeworfene, praxeologisch ausgerichtete Frage nach den „uses of genre“ aufgreifen und sie in fünf Schritten mit der Frage nach dem Verhältnis von Genre und Popularität zu beantworten versuchen: 1) Genre und Popularität: enge vs. breite Begriffe, 2) Relationale Popularität: Genre als Vergleichskategorie und Popularisierungsakteur, 3) Produzierte Popularität: Genre als Vergleichsprovokation, 4) Rezipierte Popularität: Ästhetische und soziale Gruppen, 5) Genrification: Zu den jüngsten Transformationen des Populären.

8.1 Genre und Popularität: Enge vs. breite Begriffe

Ausgehend von den skizzierten allgemeinen Einsichten lässt sich nach dem Konnex von Popularität und Genre fragen, der im Diskurs zweifelsohne vorhanden ist – Begriffe wie Zirkulation und Rezeption legen dies unmittelbar nahe, denn was viel zirkuliert und breit rezipiert wird, ist viel beachtet und somit nachweislich populär (Hecken 2006: 85; Döring et al. 2021). Gerade traditionelle Auffassungen von Popularität binden die Begriffe jedoch noch enger aneinander. Eggo Müller bietet im Handbuch Populäre Kultur etwa diese Position an: „Das Phänomen ‚Genre‘ kann als ein intrinsisches der populären Kultur resp. Unterhaltung betrachtet werden“ (Müller 2003: 213). Etwa zeitgleich resümiert Ken Gelder: „Popular fiction is, essentially, genre fiction“ (Gelder 2004: 1; vgl. auch Rosenberg 1982). Und jüngst hat auch Moritz Baßler den Konnex zwischen populärer Literatur und Genre bestätigt, mit Verweis auf die längere Tradition einer derartigen Segmentierung in der Pop-Musik (vgl. Baßler 2021: 136). Das leuchtet zunächst ein, zumal Genre im Deutschen auch in Abgrenzung zum Gattungsbegriff verwendet wird: ‚Ernste‘ Literatur wird hier nach Gattungen (Lyrik, Prosa, Drama) sortiert, ‚unterhaltende‘ Literatur nach Genres (Krimi, Western, Romance, Fantasy). Allerdings eint diese Aussagen ein spezifischeres Verständnis von Genre (etwa in Abgrenzung zur stärker nobilitierten Gattung), als wir zu Beginn vorgeschlagen haben – ansonsten wären diese Aussagen trivial. Genre wäre kein intrinsisches Merkmal populärer, sondern jeder Kultur.

Liest man Müllers Handbucheintrag aufmerksam, fällt ein (mindestens) doppeltes Verständnis von Genre auf: Während der Forschungsüberblick am Ende des Artikels einen breiten Genrebegriff öffnet, adressiert der Beginn (in dessen Rahmen das obige Zitat steht) den Konnex von Kulturindustrie („Absatzzahlen“, „Gebrauchswert“, „massenhafte Produktion“) und Genre. Bezeichnet wird diese Verwendung auch als „Genres im engeren Sinne“ (Müller 2003: 213) – ein Begriffsvorschlag zu diesem engeren Sinne, eine Abgrenzung zu ‚Genres im weiteren Sinne‘ entfaltet Müller jedoch nicht. Im Gegenteil finden sich viele der attribuierten Merkmale auch in allgemeiner Literatur zu Genres – was über das historische Faktum der expliziten Nutzung und Benennung von Genres in Paratexten etwa von Heftchenliteratur oder dem hier zitierten „Produktionssystem der Studioära“ (Müller 2003: 213) Hollywoods hinaus diesen engeren Begriff qualitativ prägt, bleibt unklar.

Gerade in Zeiten, in denen ursprünglich printbasierte Paratexte immer stärker ins Digitale abwandern und sich dort, z. B. in Form von Wikis oder Fanforen, gänzliche neue Dynamiken der Aushandlung auch über Genrezugehörigkeiten, Genreinhalte und Genregrenzen entwickeln (Werber und Stein 2023), scheint es ohnehin wenig angebracht, noch von einem Genreverständnis „im engeren Sinne“ zu sprechen. Zumal Absatzzahlen schon lange kein Grund mehr sind, Texte oder andere Artefakte dem Bereich kulturindustrieller Massenproduktion zuzuschlagen – auf der Spiegel-Bestsellerliste stehen Romane wie Daniel Kehlmanns Tyll direkt neben einem Silberband der Science-Fiction-Heftromanserie Perry Rhodan, und einem Besteller-Aufkleber werden sich die wenigsten Verlage und Autor:innen verwehren (Werber und Stein 2023).

Das Spezifikum eines ungeachtet dessen eng gefassten Genrebegriffs erschließt sich vielleicht, wenn man von einer autonomieästhetischen (und ideologiekritischen; vgl. auch Fohrmann 1988: 276) Position ausgeht und den Konnex von Genre und Wertung betrachtet. Genres nehmen in einzelnen Wertungsakten statische Gestalt an – so lassen sich Aussagen über große Textmengen treffen und, im Sinne der grundlegenden Ordnungsfunktion, kulturelle Felder hierarchisch, d. h. entlang der etablierten, aber spätestens seit 2000 verstärkt unter Druck geratenen ‚High‘/‚Low‘-Axiologie (vgl. Döring et al. 2021; Stein und Werber 2023) organisieren.Footnote 4

Alastair Fowler hat diese hierarchisierende Funktion beschrieben und dabei auf einen doppelten Genrebegriff ‚innerhalb‘ des Romans hingewiesen: „Thus there is a relatively firm distinction between the probable novelistic kinds and various others, particularly formulaic genres such as thrillers, westerns, and fantasy“ (Fowler 1979: 109; vgl. zur historischen Variabilität der hierarchisierenden Funktion DiMaggio 1987: 447–448). Historisch wurde über diese Dichotomie, wie bereits angedeutet, vor allem die Unterscheidung in ‚hohe‘ und ‚niedere‘ (hier:) Literatur organisiert, (mindestens) bis weit ins 20. Jahrhundert hinein.Footnote 5 Die Abwertung eines „Schematismus“ (Horkheimer und Adorno 2019: 131) findet ihren Widerhall etwa bei Horkheimer und Adorno, während die Aufspaltung von Genre an die Bestrebung erinnert, wissenschaftliche und alltägliche bzw. distributorische Genrebegriffe kategorial zu trennen (Frow 2015: 12–14).

Dieser Logik zufolge wären die extrem hohen Verkaufszahlen (über 125 Millionen) von E. L. Jamesʼ erotischer „Romance“-Trilogie Fifty Shades of Grey und deren oft konstatierter Mangel an literarischer Originalität ebenso ein Ausweis niederer Qualität wie die Ursprünge des Texts im Bereich der Fanfiction (McGurl 2021: 27, 116), der zwar ganz eigene Genresystematiken hervorbringen (slash/femslash, angst, smut/lemon, fluff) und sich damit an der Entstehung und Etablierung neuer Genres beteiligen, aber auch Konventionen und Klischees bedienen und damit zur weiteren Konsolidierung bereits etablierter Genres beitragen kann – so wurde Fifty Shades of Grey u. a. als „impoverished copy of Story of O“ kritisiert (Möser 2019: 101).Footnote 6 Im Sinne der Popularisierung zweiter Ordnung hingegen können der kommerzielle Erfolg eines Romans wie Fifty Shades of Grey und die damit einhergehende Popularisierung der „Contemporary Romance“ als einem der zurzeit angesagtesten Genres als Ausdruck einer grundlegenden Transformation des Populären gelesen werden. Denn ohne die zahlenmäßig nachweisliche Popularität, d. h. ohne die bahnbrechenden und werbeträchtigen Verkaufszahlen, und ohne die große Anzahl an „Romance“-Fanfictions und ihren Leser:innen wäre die „Contemporary Romance“ sicher kein kommerziell wie publizistisch florierendes Genre (Fifty Shades of Grey war über 100 Wochen auf der New York Times Best-seller-Liste und führte auch ähnlich prominente Bestsellerlisten wie die der Sunday Times an). „Some titles and their works have become canonized or so popular that many people automatically know or know about the piece: Romeo and Juliet, The Wizard of Oz, Fifty Shades of Grey“ (Saldaña 2014: 71).

Der enge Genrebegriff lässt sich, folgt man diesem Gedanken, als Element des „Resonanzregister[s]“ (Döring et al. 2021: 6) hochkultureller Akteur:innen gegenüber einer Popularisierung zweiter Ordnung erkennen, bei der Werke von Shakespeare, Frank L. Baum und E. L. James ohne Weiteres in einem Atemzug genannt werden können. Die Deutungshoheit über Begriffe und die Einteilung des Feldes, die den eigenen Wert sichert, soll so verteidigt, ein alternatives Bewertungsregime (also etwa: populär/nicht-populär) abgewehrt werden. Zusätzlich werden ‚abweichende‘ ästhetische Formen abgewertet, die sich über Aufwertungsstrategien wie engagierte Fandoms Legitimität verschaffen wollen.

Aus dem Blick gerät bei solchen statischen Zuschreibungen, die etwa eine ‚Trivialliteratur‘ en bloc aus dem Bereich der Literaturwissenschaft ausgrenzen (Kreuzer 1967: 177–178), der prozessuale Charakter von Genres, der sich etwa auch in der Teilhabe von Artefakten an ‚hohen‘ und ‚niederen‘ Genres oder der gemeinsamen Platzierung auf Bestsellerlisten oder in Expert:innenrankings sowie in der Tatsache realisiert, dass auch die im Englischen als ‚literary fiction‘ und damit als ‚ernsthaft‘ bezeichnete Literatur zunehmend Erzählformen und -elemente aus dem Bereich der ehemals abgewerteten ‚Trivialliteratur‘ übernimmt. Ob Comic, Krimi oder Abenteuerroman, sie haben allesamt Eingang in die Arbeit von Autoren wie Michael Chabon, Jonathan Lethem und Dave Eggers gefunden, die das Schreiben von Genre-Literatur nicht einmal mehr rechtfertigen müssen. McGurl spricht in diesem Zusammenhang mit durchaus wertendem Unterton vom „so-called genre turn in literary fiction“ und von der „colonization of literary fiction by the logic of genre“ (McGurl 2021: 15).

Auch in diesen Prozessen gibt es einen Konnex von ‚Genre‘ und ‚Popularität‘ – er ist aber nicht mehr in ihrer gemeinsamen ‚Trivialität‘ begründet, sondern etwa in ihrer relationalen Funktion. Ohne die Beobachtungen bisheriger Forschung zu verwerfen, möchten wir das Verhältnis von ‚Genre‘ und ‚Popularität‘ vor dem Hintergrund der jeweils reformulierten Konzepte neu fassen und den von Müller genannten eng gefassten Genre-Begriff durch ein breites Verständnis von Genre, Popularität und ihren Verflechtungen (statt schlicht: ‚populäre Genres‘) ersetzen.

8.2 Relationale Popularität: Genre als Vergleichskategorie und Popularisierungsakteur

‚Genres‘ sind in ihrer gruppenbildenden Funktion entscheidender Faktor einer Popularisierung zweiter Ordnung, die sich auf relationale ‚Popularität‘ stützt (vgl. Döring et al. 2021: 5). Insbesondere Musikcharts (Gebesmair 2008: 57; Brackett 2016: 27–29), aber auch Bestsellerlisten (Clement et al. 2008: 755; Oels 2010: 47), die Amazon sales ranks und die zahlreichen, qualitativen wie quantitativen Best-of-Listen im Internet („The 10 Best Novels of the Year“; „The 10 Most Popular Superhero Movies of All Time“) nutzen Genres neben anderen Kategorien wie Laufzeit, Land oder Zeitraum (Hecken 2017: 153), um einzelne Artefakte hinsichtlich ihres Absatzes, ihrer Besucherzahlen usw. vergleichbar zu machen. Die Kategorien regulieren also nicht nur, was in welchem Kontext um Beachtung konkurriert, sondern auch was überhaupt Zutritt zu einer Popularisierung zweiter Ordnung erhält.

Dabei entstehen feiner differenzierte Listen mit gemischten Urteilen, die zunehmend in Konkurrenz zu etablierten Charts und Bestsellerlisten treten und dabei selbst Beachtung erzielen (z. B. durch Klickzahlen, Reposts usw.). Wer wissen will, welche Texte und Genres gerade populär sind, muss sich nicht länger auf die New York Times- oder Spiegel-Bestsellerlisten verlassen, sondern kann sich viel präziser auf die eigenen (Partikular-)Interessen abgestimmt auf einer der vielen Webseiten, z. B. „Top Music Genres: Discover What Is Popular In 2023“ (Soundsuit 2023) oder „Top Streaming Music Genres of 2023“ (Dacombe 2023), informieren, auf denen die nach Verkaufs- und Streamingzahlen ausgewertete Popularität einzelner Genres gegenübergestellt wird. Und wer sich innerhalb eines bestimmten Genres ein Urteil über die Qualität einzelner Werke machen möchte, findet zahlreiche Rankings, die sich auf bestimmte Genres und Subgenres fokussieren und dazu oft nicht nur Verkaufszahlen (wenn überhaupt), sondern durchaus andere Wertungskriterien in Anschlag bringen – Beispiel hierfür wären Listen wie „10 Best Crime Thriller Comics“ (Land 2022) oder „The Most Influential Crime Comics Of All Time“ (Keller 2021) des 1995 von einem Comic-Fan als Internetform gegründeten und inzwischen führenden Onlinemagazins Comic Book Resources.Footnote 7

Das von Derrida formulierte „Gesetz der Gattung“ („die Gattungen dürfen sich nicht vermischen“; Derrida 1994: 249) findet hier einen dankbaren Anwendungsbereich. Beobachten ließ sich solch ein Prozess, als sich der Song „Old Town Road“ des Musikers Lil Nas X im März 2019 in drei Charts des insbesondere für solche Hitlisten bekannten Musikmagazins Billboard („Hot 100“, „Hot Country Songs“ und „Hot R&B/Hip-Hop Songs“) platzierte. Am 6. April hätte der Song rein quantitativ Platz 1 der „Hot Country Songs“ erreicht, doch Billboard schloss ihn von dieser Liste aus – mit der Begründung, er beinhalte nicht genügend Elemente modernen Countrys, um seine Platzierung zu rechtfertigen (Leight 2019). Kontrovers diskutierten nicht nur Musikmagazine, sondern auch Lil Nas X selbst die Entscheidung, gerade im Wissen um die rassistische Geschichte der Billboard-Charts (vgl. etwa Nathaus 2014: 143). An diesem Beispiel wird sehr deutlich, dass die von Frow benannten „uses of genre“ nicht allein der Ordnung ansonsten disparat erscheinender Texte, Songs oder anderer Ausdrucksformen dienen, sondern immer auch soziale, politische und wirtschaftliche Überlegungen einbeziehen, letztlich auch Ausdruck von Macht sind (Frow 2015: 2) und damit Gegenstand von Aushandlungen zwischen Kulturindustrie und Konsument:innen werden, die Henry Jenkins erstmals Anfang der 1990er Jahre als participatory culture beschrieb (Jenkins 1992; Jenkins 2018; Haas 2023).

Neben dieser Machtfrage, die sich auch zwischen den Genres Rap und Country entfalten lässt, erschien Sheldon Pearce in seinem Artikel für den Musikblog Pitchfork abseits der identitären Implikation das generelle Hüten von Genrekategorien angesichts gegenwärtiger Musikproduktion fraglich (Pearce 2019). Die Kategorisierung war in diesem Fall aber klar funktionalisiert: Es ging darum, wer um das auf 50 Plätze begrenzte beachtungsökonomische Kapital der „Hot Country Songs“ konkurrieren darf; um die Deutungshoheit über Country; und durch die Grenzüberschreitung auch um das Ordnungsprinzip, das „generic regime“Footnote 8 (Neale 1990: 57) von Billboard selbst. Diese Regimes sichern wiederum ab, dass Genres als Arenen für den Kampf um Beachtung und damit auch als Popularisierungsakteure fungieren können.

Diese Funktion haben Genres nicht nur in Hinblick auf beachtungsökonomische (sowie institutionelle und monetäre; vgl. Negus 1999: 49) Ressourcen; auch innerhalb bestimmter, eher traditionalistischer Genrekulturen kommt der Einhaltung von Grenzen eine wichtige Rolle zu, wenn Werturteile gesprochen oder Kanones errichtet werden.Footnote 9 Genres fungieren hier zunächst als Zuordnungsvoraussetzung, um einen Wert auf einer Skala platzieren zu können (Heydebrand und Winko 1996: 39; ähnlich: Frith 1996b: 97).Footnote 10 Innerhalb von Charts, aber auch solchen traditionalistischen Genrekulturen ist die Zuordnung als solche schon mit einem recht klaren, positiven Wert kodifiziert. Nicht nur stabilisieren sich Genres in dieser Verwendung (vgl. Gebesmair 2008: 56–57; Karpik 2011: 216). Akte der Pflege valorisieren auch das jeweilige Genre ‚als solches‘, ebenso wie sich die Platzierung vieler an einem Genre teilhabender Titel auf einer genreübergreifenden Liste wie der „Hot 100“ auf dessen Popularität auswirkt.Footnote 11

Genres akkumulieren also selbst (beachtungsökonomisches) Kapital, Charts geben bei passender Lektüre Auskunft über Konjunkturen auf dem Markt (Glowinski 1974: 174; Anand und Peterson 2000: 275–276; Lena und Peterson 2008: 699; Negus 1999: 7). Nur so können Genres kulturelle Felder kartieren und die Positionierung darauf ermöglichen (Bourdieu 1999: 368), ob im Anschluss an Beachtungserfolge (Jameson 1975: 136) oder gerade in Abgrenzung und Hoffnung auf eine avantgardistische Position (Fohrmann 1988: 280–281; Jauß 1982: 105–106). In diesen Wertungen setzt sich bisweilen auch ein pejoratives Verständnis von Genre als Binnendifferenz innerhalb genretheoretisch avancierter Positionen durch; John Frow führt das am Beispiel der Webseite „Genreflecting“ vor, deren Systematik davon ausgeht, „that the popular genres are in some sense more ‚generic‘ than ‚literary fiction‘“ (Frow 2015: 139).Footnote 12

Dieses Prestige als Teil des GenrewissensFootnote 13 (Berg 2014: 8) geht nicht nur wiederum in die Bewertung von Texten ein, sondern beeinflusst auch (Selektions-)Handlungen und Produktion innerhalb des Feldes (Heydebrand und Winko 1996: 79; stärker bezogen auf Genres: Michler 2005: 193). Es geht dabei auch um Spekulation auf dem kulturellen Markt: „Which artists will be successful and will they sustain their success? Which genres are worth investing in for the long term (or for a short period)? What are the up-coming future musical trends likely to be – and does the company have the skills (artists, staff) and structures (distribution and promotional) to be able to deal with them?“ (Negus 1999: 32).

Die Klassifikation ist wichtig, damit die Industrie bzw. entsprechende Akteur:innen Zahlen prozessieren und entsprechend handeln können (Gebesmair 2008: 146). Gleichzeitig fungiert sie als Orientierung für das Publikum wie auch als Grundlage für diverse Fanpraktiken: „Audiences use genres to organize fan practices (generically determined organizations, conferences, and Websites), personal preferences, and everyday conversations and viewing practices“ (Mittell 2001: 3).

8.3 Produzierte Popularität: Genre als Vergleichsprovokation

Genres bilden also nicht nur einen Weg, Popularisierung zweiter Ordnung leisten und die Ergebnisse prozessieren zu können, sondern auch eine Schnittstelle, um Beachtungserfolge in Entscheidungen in Produktion und Distribution übersetzen zu können. Genreprozesse sind dabei als Popularisierungsprozesse nicht auf Popularisierungen zweiter Ordnung festgelegt, Ähnlichkeit kann auch unabhängig oder nur informiert von vorheriger Popularität zur Popularisierung kultureller Artefakte eingesetzt werden. Dennoch interagieren Genreprozesse und Popularisierungen zweiter Ordnung auf vielfältige Weise. In der „digital literary sphere“ (Murray 2018) ist es gerade das Versprechen auf die Möglichkeit solcher Beachtungserfolge, die z. B. Amazons System des self-publishing antreibt und die Ausdifferenzierung einzelner populärer Genres und spezielle Subgenres (von „BWWM Billionaire Romance“ bis zu „Adult Baby Diaper Lover“) voranträgt (McGurl 2021: 53, 154). Einige kommerzielle Plattformen wie Wattpad, die Fans und Amateur:innen die Möglichkeiten des großen literarischen Erfolgs durch das Schreiben von vielbeachteter Genreliteratur in Aussicht stellen, werden zu weiteren Akteuren in der Herstellung, Verhandlung und Popularisierung von Genres (Deckbar 2023). Die Streaming-Plattform Netflix hat ein ganz eigenes Klassifikationssystem mit knapp 150 Genres entwickelt, die man über einen URL plus spezielle Zahlencodes aufrufen kann (Business Punk Redaktion 2023).

Charts und spektakuläre Beachtungserfolge, deren Veröffentlichung für Popularisierungen zweiter Ordnung unerlässlich ist, sind aber nur eine Quelle jener Informationen, die in Produktion und Distribution prozessiert werden können. Der Industrie stehen noch ganz andere Zahlen zur Verfügung, die in ihrer Metrisierung von Kultur, Artefakten und Publikum einem ähnlichen Geist entspringen, aber eine andere Funktion als Charts erfüllen.

Dass diese Zahlen überhaupt erhoben werden, hat mit den unsicheren Produktionsbedingungen in der KulturindustrieFootnote 14 zu tun. Popularität lässt sich nicht ohne Weiteres fabrizieren – es braucht die entsprechende Beachtung des Publikums, die sich auf einem freien Markt nicht (ohne Weiteres) erzwingen lässt. Genres haben hier den Vorteil, Erwartungen identifizierbar zu machen (Voßkamp 1977: 30) bzw. auch beim Publikum zu wecken und so Wertungen anzuleiten, Lektüren wahrscheinlich zu machen (Negus 1999: 23) – man denke an die durch Algorithmen generierten Lektüreempfehlungen auf Amazon und ähnlich organisierten Online-Plattformen („you may also like“/„what other people who bought the same item also bought“). Insbesondere dienen Genres aber dazu, eine Zielgruppe zu identifizieren – auch hier fungieren sie als Raster für quantitativ im Rahmen von Marktforschung erhobene Daten (Negus 1999: 53). Beides läuft in den Fragen zusammen, die Simon Frith als zentrale der Musikindustrie identifiziert – „what does it sound like?“ Und: „who will buy it?“Footnote 15 (Frith 1996b: 76).

Diese Fragen strukturieren nicht nur den Markt und den Produktionsprozess, sondern auch die Firmen, die mit Produktion, Distribution und Marketing betraut sind. Sie widmen sich Genres oder gliedern sich in Departments, die Genres gewidmet sind und in oben beschriebener Logik ebenfalls um Ressourcen der Firma konkurrieren (Negus 1999: 174). Andreas Gebesmair schreibt den Begriffen, die Genres hier signifikant werden lassen, die Funktion eines ‚Skripts‘ zu, das die gesamte Arbeit strukturiert (Gebesmair 2008: 57). Fraglich ist (empirisch), inwiefern diese auf Messung und Kategorisierung beruhenden Skripte Orientierung stiften und (bindend) zum Einsatz kommen (Neale 1990: 64) bzw. ob sie überhaupt effektiv sind (skeptisch: Negus 1999: 61; abwägend: Gebesmair 2008: 151, 282). Skripte können jedoch Entscheidungen legitimieren (Gebesmair 2008: 281–282) – und zwar mit jener Evidenz und Eigenwertigkeit, die auch Popularisierungen zweiter Ordnung legitimiert (Döring et al. 2021: 18).

Derartige Institutionalisierungsprozesse tragen zur Stabilisierung von Genres ebenso bei wie ihr Einsatz in der Beachtungsmessung und die begriffliche Reflexion, die dazu (in der Regel) nötig ist. Rick Altman hat am Beispiel des Films zudem darauf hingewiesen, dass Beachtungserfolge auch in der Entstehung von generischen Prozessen mitwirken; Elemente und Stilmittel erfolgreicher Filme, so seine historisierende These, werden von Produzierenden studiert und wiederholt, so lange, bis sich ein ästhetischer Zusammenhang verdichtet hat und beim Publikum auf entsprechende Erwartungen trifft (Altman 1999: 47–53). Das muss nicht als Standardisierung beschrieben werden; Altman selbst sieht den Prozess der Genrification als fortlaufend und somit potenziell offen.

Altmans Konzept erinnert an andere Beschreibungen davon, wie sich Genres (oder vergleichbare Prozesse) herausbilden, wie sie die Produktion von Kultur beeinflussen und welche ästhetischen Effekte sie zeitigen. So schreibt Jochen Venus: „Wann immer populäre Kulturen einen Aufmerksamkeitserfolg erzielen, kristallisiert an diesem Erfolg sofort ein Konvolut ähnlicher Produkte. Jedes Faszinosum geht unmittelbar in Serie, strahlt aus, metastasiert und bezieht immer mehr Rezipienten in die spezifische Form spektakulärer Selbstreferenz ein“ (Venus 2013: 67). Im (ikonischen) Verweis auf sich selbst ist die Serie als Form bereits angelegt; das „Konvolut ähnlicher Produkte“ scheint hingegen weniger auf das serielle Syntagma als viel eher auf das (tendenziell) paradigmatische Organisationsprinzip Genre zu verweisen.Footnote 16

Man könnte in diesem Grenzbereich von Serie und Genre sowohl die wachsende Prominenz von Buchreihen vor allem im Bereich der „Young Adult Fiction“ (z. B. Stephenie Meyers Twilight-Trilogie oder die Hunger Games-Bände von Suzanne Collins) als auch die sogenannte „Zombie Rennaissance“ nennen, die mehrere dutzend „examples across the spectrum from low to high culture“ (McGurl 2021: 238, 240) umfasst – darunter Colson Whiteheads Zone One (2011) und Hugh Howeys I, Zombie (2012). Weil diese Buchreihen und Genres populär sind, werden sie zudem durch Fan-Praktiken weiter popularisiert, z. B. durch Zombie-Fanfiction oder Fanfiction zu Twilight und Hunger Games.

Dazu passt auch, was Müller im Handbuch Populäre Kultur zur Herausbildung von Genres formuliert: „Auf dem kulturellen Markt erfolgreiche Artefakte werden zu Vorbildern für die massenhafte Produktion und Distribution immer neuer Artefakte desselben Typs, die den ‚Prototypen‘ variieren“ (Müller 2003: 213). Lässt man die kulturkritische Tönung beiseite (zu deren Kritik vgl. etwa Negus 1999: 21–23), ist der ästhetische Effekt der Ähnlichkeit, die über Erwartung bzw. Konvention stabilisiert und eingefordert wird, in all diesen Beschreibungen erkennbar – als Nebenprodukt der Produktion von Popularität. Zur Wiederholung gehört aber – ganz wie bei Umberto Ecos Einlassungen zur Serie – auch die Variation; sie ist riskant (Berg 2014: 8), zugleich jedoch im Sinn (genre-)historischer Entwicklungen und Kontingenzen notwendiger Bestandteil einer Genreästhetik (Neale 1980: 48–50; Neale 1990: 65–66).

Solche Variationen sind kaum zu systematisieren, können programmatisch oder kontingent geschehen, durch technische Neuerungen (Tonfilm, Sampling, Zentralperspektive) oder gesellschaftlichen Wandel (Voßkamp 1977) ermöglicht werden, Form oder Inhalt betreffen, bisher eher latente Elemente betonen oder Genres mischen – mit der Option, einen Crossover-Erfolg zu landen (Gebesmair 2008: 146; Neale 1990: 53–54), oder eben sanktioniert und ausgegrenzt zu werden wie „Old Town Road“ (vgl. gerade zum Konnex von Genre und Identität im Begriff ‚Crossover‘ Brackett 2016: 26, 281–285). Unabhängig davon kann eine hybride Form, wird sie als solche wahrgenommen, eine eigene Genrification erfahren, entsprechende Regeln und Stilverbünde ausbilden (Negus 1999: 26) – ein Beispiel hierfür wären die Crossover-Projekte zwischen Rap und Rock bzw. Metal in den 1980er und vor allem 1990er Jahren (die populär waren, aber dennoch oder gerade deswegen in ihren Szenen sanktioniert wurden; Lena und Peterson 2008: 706).

Variationen können nur auf Basis von Genrewissen geschehen; Innovation ließe sich sonst nicht als solche markieren.Footnote 17 Dieses Genrewissen transportiert sich freilich nicht nur in den Artefakten selbst; gerade andere Sektionen der Kulturindustrie wie Distribution oder Marketing werden im ParatextFootnote 18 aktiv und sind integraler Bestandteil des generischen Prozesses (Frith 1996b: 76). Gerade weil hier Antizipation geweckt werden soll, verbindet sich Paratext effektiv mit der Erwartungsfunktion von Genres. In der paratextuellen ‚Kommunikation‘ eines spezifischen Artefakts prägen sich hierzu Bilder aus, die eine generische Einordung leisten, nach und nach kodifiziert werdenFootnote 19 und damit selbst am Genreprozess teilnehmen.

Was in diesen ‚Aushandlungen‘, vor allem über serielle Erzählungen, nachweislich populär ist, d. h. hohe Beachtung durch viele Likes oder Replies generiert, wird größere Chancen haben, bei der generischen Einordnung von Texten Gehör zu finden, die auch für die wirkmächtige Grenzziehung zwischen Genrezugehörigkeit (alles, was den Konventionen eines Genres mehr oder weniger entspricht) und kanonischem Status (das, was zum aktiven Serienwissen und zur andauernden Seriengeschichte gezählt wird und was nicht) verantwortlich zeichnet (vgl. Werber und Stein 2023). Wichtiger Bestandteil dieser Prozesse ist zudem die Arbeit am Genrebegriff, wenn etwa Alben oder Filme in Fachgeschäften oder auf Streaming-Plattformen rubriziert werden – oder spätestens wenn sich abseits des Paratexts im engeren Sinne ein Diskurs in Kritik und Rezeption entfaltet (Neale 1990: 48–50).Footnote 20 Diese Namen ermöglichen die Reflexivität des Genres und damit einen zugehörigen Diskurs; sie begünstigen zudem, dass Genres in Wertungen zu Zuordnungsvoraussetzungen werden können.

In diesem Diskurs agieren nun viele Gruppen: die Produzierenden im engeren Sinne, diverse Departments der Industrie (Management, Vertrieb, Marketing), die klassifizieren und eine Gatekeeping-Funktion erfüllen (Negus 1999: 178), Handel und Plattformen, Journalist:innen und weitere Multiplikator:innen (etwa DJs, Pädagog:innen, Influencer:innen), vor allem aber die Rezipient:innen (Michler 2015: 50–51; Gebesmair 2008: 147). Hier entscheidet sich nicht zuletzt, ob jene Zielgruppe, die Produktion und Distribution anvisiert haben, existiert, ob ihre Vorschläge aufgenommen oder abgelehnt werden – und ob sich hier überhaupt ein als solches erkanntes Genre herausbildet. Sowohl Eric Weisbard als auch David Brackett grenzen etwa die Kategorien aus Industrie und (in ihrem Fall) Radio als „Marketing Category“ bzw. „(Radio) Format“ von Genres ab: „Genres are different. Ordinary people don’t proudly identify with formats, but some do identify with genres. One can have a hit song that goes ‚I was born country‘; probably not ‚I was born adult contemporary‘“ (Weisbard 2014: 3; vgl. Brackett 2016: 11).

Dabei handelt es sich um eine wichtige Eingrenzung, die zur sozialen Dimension von Genres führt, aber auch in ihren Konsequenzen für den kulturhistorischen Stellenwert von ‚Genre‘ zu beschreiben ist. In der Position von Weisbard und Brackett vollzieht sich nämlich nicht nur eine Eingrenzung, sondern auch Auf- oder zumindest Umwertung dessen, was ‚Genre‘ bedeutet. Wir erkennen eine wiederholte Kehrtwende: Bevor Genres im 19. Jahrhundert, unter dem Eindruck von Massenproduktion und Autonomieästhetik (vgl. zu den dime novels-produzierenden „fiction factories“ in den USA ab den 1860er Jahren Denning 1998: 17), zum Marker für Trivialität wurden, bestückten gerade sie den Bereich des Ästhetischen. Die hohe Kultur war der Bereich der gepflegten, sortierten Genres, populäre Kultur war hingegen unsortiert, wild wuchernd (Threadgold 1989: 121–122). Nun erscheinen in den Unterscheidungen von Brackett und Weisbard Genres nicht als bloße Kategorien, sondern als von Fans und bisweilen auch Kritik gepflegte Kultur.

Interessant ist vor diesem Hintergrund auch der Ausschluss von ‚Pop‘ durch Lena und Peterson aus ihrer Genre-Typologisierung. Im Anschluss an Weisbard formulieren sie: „At its core, pop music is music found in Billboard magazine’s Hot 100 Singles chart. Songs intended for the pop music market usually have their distinguishing genre characteristics purposely obscured or muted in the interest of gaining wider appeal“ (Lena und Peterson 2008: 699). Zwar können auch Genres populär werden, die „Hot 100“ erscheinen Lena und Peterson aber vor allem als Reservoir eines „pure pop“, der das ästhetische Äquivalent zur beliebigen Sammlung ist, die solche Charts mit ihrem Nebeneinander kontingenter Beachtungserfolge und eben fabrizierter, gleichförmiger Hits insgesamt darstellen.Footnote 21

Die populäre Kultur, nun quantitativ gedacht, ist wieder der unsortierte Bereich, ‚Pop‘ ein „way of doing business, or a target demographic, but not a genre“ (Lena und Peterson 2008: 700). Genres sind hingegen der gepflegte, kultivierte Bereich der Kultur; der Ort, an dem die Zielgruppe nicht nur existiert, sondern selbst zum Akteur wird. Ob man diese Verengung mitgeht oder nichtFootnote 22 – er konturiert die Bedeutung, die Gruppen für Genres und vice versa haben.

8.4 Rezipierte Popularität: Ästhetische und soziale Gruppen

Es mag nun als Anachronismus erscheinen, die oben aufgefächerten Akteur:innen in Genreprozessen auf Gruppen zu verkleinern, die sich vornehmlich in der Rezeption konstituieren und weniger funktional mit ihrem jeweiligen Genre verbunden sind. In der Genretheorie spielen jedoch gerade diese Gruppen eine wichtige Rolle. Zugleich versprechen sie einen Blick auf die Frage, wie neben ästhetischer auch soziale Kategorisierung nach der Erosion der ‚High‘/‚Low‘-Dichotomie organisiert, aber auch weiterhin gekoppelt sind (grundlegend: DiMaggio 1987). Zugleich muss sich das imaginäre ‚who will buy it‘ stets einer Konsumrealität stellen – findet die Zielgruppe eine lebendige Entsprechung?

Die besondere Bedeutung dieser Gruppen vor allem ab den 1950er Jahren, also nach der ersten Transformationsstufe des Populären, vor der Genres anders getragen, ihre Durchsetzung anders geleistet wurde (vgl. etwa zum Bildungsroman Dennerlein 2016), liegt in der Beschaffenheit der von Jenkins benannten participatory culture und den (verzögerten) Feedbackschleifen, die sich zwischen Akteur:innen des Marktes ergeben (vgl. Baßler und Drügh 2021: 100; Berlich 2022: 35). Die geringste Form, in der sich das Publikum unter diesen Vorzeichen in den Genreprozess einbringen kann, ist Beachtung, die registriert, gezählt, in Relation gesetzt und ausgestellt, bisweilen sogar als Paratext zum Teil des Artefakts wird. Das beginnt mit der Entscheidung über Kauf, Download oder Streaming eines Artefakts und reicht bis in die vielseitigen digitalen Praktiken der Beachtung und Beachtungsmessung: Klicks und Likes, Forendiskussionen, Fanfiction, Fanart u.v.m. Bereits vor der Popularisierung des Internets um 2000 waren solche Praktiken in Paratexten und Epitexten prominent. Marvel-Mastermind Stan Lee berichtete in den 1960er und 1970er Jahren in seiner Herausgeberkolumne und auf den Leserbriefseiten regelmäßig über die große Anzahl an Zuschriften, und die Leserbriefseiten selbst umfassten teilweise langwierige Diskussionen darüber, was einen guten und was einen schlechten Superheld:innencomic ausmacht, d. h. was als legitimer Beitrag zum Genre zählen darf und was nicht (Stein 2021: 82–156).

Partizipation kann also auch andere Formen annehmen; wichtig ist der grundlegende Modus, den wir zuvor als Pflege beschrieben haben. Kaspar Maase führt dazu aus: „Kenner und Fans […] haben als Genrespezialistinnen einen kompetenten Blick für Strukturelles und Formales und widmen den Gegenständen ihrer Begeisterung jede Menge Zeit“ (Maase 2022: 125). Diese Zeit kann sich in Praktiken wie dem Erstellen von Fanfiction, Fanzines, gerade in DIY-Zusammenhängen aber auch in der Produktion ‚primärer‘ Artefakte (Romane, Alben, Filme) manifestieren. Die Grenze zwischen Lai:innen und Expert:innen, die in Maases Darstellung noch konstitutiv ist, erodiert in den Transformationen des Populären. Es wird zunehmend unklarer, wer über das legitime Wissen wacht, über die Produktionsmittel verfügt oder Beachtung für ein Urteil oder ein Artefakt herstellen kann bzw. darf. So müssen neue Autoren:innen der langlebigsten Science-Fiction Heftromanserie Perry Rhodan (seit 1961) oftmals in das serieneigene und von Fans gepflegte Wiki („Perrypedia“) schauen, um sich Wissen über die Serienvergangenheit anzulesen (Werber 2022: 15).

Solche Fragen handeln Gruppen, die Genres konstituieren, idealtypisch unter sich aus, durchaus mit entsprechenden Asymmetrien (Hardy et al. 2018: 5; Ganz-Blättler 2000: 205–210) und verteilten, je nach Gruppe spezifischen Rollen (etwa: Moderation eines Forums, Herausgabe eines Fanzines, Veranstaltung von Shows). Darin liegt die maßgebliche Bedeutung dieser Gruppen für Genres im engeren Sinne – sie leisten die Kodifizierung (Lena und Peterson 2008: 702), ohne die es kein Genre gibt. Im Rahmen dieser Arbeit werden die Grenzen zwischen Produktion, Distribution, Kritik und Rezeption schnell durchlässig. In der Typologie von Lena und Peterson, die Genreformen nach ihrer Trägerschaft unterscheidet, ist die Form „Scene-Based“ im Gegensatz zu stärker an Produktion („Avant-Garde“) bzw. Distribution („Industry-based“) orientierten Formen die einzige, die sie in jeder Genregeschichte ihres Korpus nachweisen können (Lena und Peterson 2008: 701). Das betont die Bedeutung dieser Gruppen ebenso wie die grundsätzliche Idee, Genres hinsichtlich ihres sozialen Charakters (woher kommt ihr Kapital, wie sind sie organisiert, wer zeichnet für den Namen verantwortlichFootnote 23) zu untersuchen.

Der soziologische Blick eröffnet zugleich, dass diese Gruppen ihre Legitimität nicht (ganz) unter sich aushandeln; Identität spielt nicht nur als voluntaristische Identitätsarbeit, sondern auch als Resultat gesellschaftlicher Lektüreprozesse eine Rolle. Auf den (historischen) Konnex der Klassifikation von Menschen und kulturellen Artefakten auch in der populären Kultur und ihrem Chartsystem haben wir bereits hingewiesen, gerade mit Blick auf Kategorien wie class, gender oder race (Negus 1999: 177; Nathaus 2014: 143; Brackett 2016: 4; Lena 2012: 51; Genre und Gender verbindet bereits Derrida 1994; vgl. dazu auch Babka 2001).

Die Beschreibung dieser identitären Komponente gehört zu den Herausforderungen der Genretheorie, sowohl weil Identität innerhalb von Genres immer wieder performativ ausgehandelt wird, als auch weil Genres nicht selten aus stereotypisierenden Lektüren resultieren, die (nur) ganz bestimmte Identitäten markieren (historische Beispiele umfassen etwa „race music“ oder „Chick-Lit“; Brackett 2016: 88–104 bzw. Seidel 2019: 121–122). Die soziale Dimension von Genres ist also nach wie vor, auch ob des vereinzelten Persistierens von ‚High‘/‚Low‘-Vorstellungen im Diskurs, von Spannungsverhältnissen geprägt. Welche Ansätze gibt es nun, um diese Gruppen in ihrer spezifischen Verfasstheit zu greifen?Footnote 24

Die kursierenden Konzepte haben unterschiedliche Reichweiten und Implikationen, sind an unterschiedliche Fachkulturen angebunden und blicken teils selbst auf eine umfangreiche Geschichte zurück, allen voran ‚Subkultur‘. Vor allem in den Cultural Studies ein Schlüsselbegriff, prägte er zahlreiche Studien der 1970er Jahre (einschlägig: Hebdige 1979). Der Begriff markiert bereits eine (gesellschaftlich) untergeordnete Position,Footnote 25 die sich (gemäß dem Forschungsprogramm der Birmingham School) in diesen Studien spiegelt: In der jeweiligen (Sub-)Kultur drückt sich vor allem Klasse aus, Subkultur steht agonal zur herrschenden Kultur.

Gerade die Vorstellung einer homologen Beziehung zwischen Gruppen (meist Klassen) und kulturellen Formen ist seither in die Kritik geraten (Hesmondhalgh 2005: 31). Subkultur ist als Begriff mittlerweile verabschiedet (Beregow und Stäheli 2017: 302), hat sich historisch als zu unflexibel erwiesen, um die Verhältnisse von Gruppe, (gesellschaftlich vorgeformter) Identität und Ästhetik in ihrer Wechselseitigkeit und relativen Offenheit zu beschreiben (dazu etwa Frith 1996a: 110–111).

Als mögliche Alternative kursiert verstärkt seit den 1990er Jahren der Begriff ‚Szene‘. Sein semantisches Angebot verschiebt den Blick von der Position im kulturell-klassistischen Kräfteverhältnis zu einer eher räumlichen Dimension. Diese findet sich etwa einschlägig in einem Artikel von Will Straw verhandelt, der Identität als Kategorie in den Hintergrund rückt und stattdessen auf Orte fokussiert, an denen Gruppen (potenziell) quer zu identitären Kategorien gebildet werden (auch translokal, Raum ist hier also eher Perspektive; vgl. Straw 1991: 384). Der Begriff hat das Potenzial, Infrastrukturen und (räumliche) Organisation derartiger Gruppen zu beschreiben, ist seither jedoch immer wieder unspezifisch (etwa bei Lena und Peterson 2008: 703) oder trivial im Sinn der „musical (and music-associated) practices occurring within a particular geographical space“ (Hesmondhalgh 2005: 29) genutzt worden, wie David Hesmondhalgh resümiert.

Eine gewisse Unbestimmtheit ist ‚Neo-Tribe‘, einem ebenfalls seit den 1990er Jahren kursierenden Begriff, bereits konzeptuell eingeschrieben. Das ist für einen interdisziplinären Genrebegriff grundsätzlich von Vorteil, weil dabei die Konnotation einer Kunstsparte bzw. einer gesellschaftlichen Position zu Gunsten eines Fokus auf die Vergemeinschaftung selbst entfällt. Lanciert hat den Begriff, in Anlehnung an Arbeiten des französischen Soziologen Michel Maffesoli, Andy Bennett – und zwar bewusst als Alternative zu ‚Subkultur‘. Seine ‚Neo-Tribes‘ beschreiben, wie Personen frei zwischen ästhetischen, meist auch atmosphärischen Angeboten und Erlebnissen wechseln und dabei flüchtige Gruppen um ihre ästhetischen Erlebnisse formen (Bennett 1999: 611).

Auch hier spielen Räume eine wichtige Rolle (Hardy et al. 2018: 3), vor allem aber die Unverbindlichkeit, die Neo-Tribes von der hierarchischen Organisation der Klassengesellschaft, die Subkulturen noch stark auszeichnet, trennt. Welche identitären Effekte die Gemeinschaft zeitigt, aber auch, welche Identitäten Zugang zu ihnen haben (zu ähnlichen Problemen in der Lebensstilforschung: Otte und Rössel 2011: 19–21), steht hintan – zentriert ist ganz das Phänomen, um das herum sich der Tribe konstituiert. Auch die Frage, wie Neo-Tribes sich stabilisieren, findet erst jüngst in der Forschung Beachtung. Insgesamt ist die (heuristisch durchaus reizvolle) Offenheit des Konzepts auch seine Schwäche – um etwa die Organisation, Kodifizierung und Begrenzung von Genres zu beschreiben, bietet es wenig Orientierungspunkte (Hesmondhalgh 2005: 24).

Ein Gegenangebot ist jüngst aus grundsätzlich ähnlichen Überlegungen mit dem u. a. von Jochen Venus geprägten Begriff ‚Stilgemeinschaften‘ gemacht worden. Auch hier geht es um eine Annäherung von Stil und Leben,Footnote 26 um voluntaristische Zusammenkünfte im Zeichen ästhetischer Artefakte, die selbst (womöglich) ästhetischen Charakter haben. Sie lösen sich dezidiert von einer (in ‚Subkultur‘ wie beschrieben noch wirksamen) ‚High‘/‚Low‘-Dichotomie und machen so andere Formen der Organisation beschreibbar. Stabilität schafft hier u. a. Serialität, die sich wie dargelegt auch in Genres realisieren kann (Venus 2013: 67); noch strikter als im Neo-Tribe ist hier zudem das ästhetische Moment nicht nur zentral, sondern auch ausgearbeitet, ebenso wie die Möglichkeit politischer Effekte nicht ganz ausgeblendet wird (Venus 2013: 69) – wenn auch eher als Re-Entry.

Diesen konzeptuellen Vorschlag Venusʼ haben besonders prominent Moritz Baßler und Heinz Drügh aufgegriffen. In ihrer Gegenwartsästhetik haben sie den Begriff an das ästhetische Urteil gekoppelt; dessen implizite Vergemeinschaftung leiten sie von Kant ab, es lässt aber auch an die imaginierte Zielgruppe kulturindustrieller Produktion denken.Footnote 27 Der Vektor der Stilgemeinschaft ist dabei exponentiell angelegt, ihr Projekt ist Popularisierung (Baßler und Drügh 2021: 97).Footnote 28

Dabei vollzieht sich auch eine Umkehr der Beweislast, die vor den Transformationen des Populären bei ‚populären‘ (also: dem ‚Low‘-Segment zugeordneten) Akteur:innen und Artefakten gegenüber hochkulturellen Instanzen lag (Döring et al. 2021: 4): Sind Stilgemeinschaften grundsätzlich nebengeordnet, kippen sie zugleich die Asymmetrie zwischen Produktion und Rezeption durch die Bedeutung des (beachtungs-)ökonomischen Kapitals (Baßler und Drügh 2021: 101) ebenso wie jene zwischen Lai:innen und Expert:innen bei der Bewertung der Gegenstände, die in Stilgemeinschaften, so ließe sich mit Maase nahelegen, meist affirmativen Charakter hat (Baßler und Drügh 2021: 149–150).Footnote 29 Offen bleibt, wie (ästhetische) Urteile in dieser Situation legitimiert werden können (Heydebrand und Winko 1996: 13) – die Frage stellt sich aber spätestens, wenn Genres um Ressourcen konkurrieren. Eine mögliche Antwort ist die zahlenmäßig nachweisebare Evidenz von Popularität.

Diese Konfliktdimension lässt sich produktiv machen – was dem (recht jungen) Konzept noch mangelt, ist die empirische Beobachtung, wie Stilgemeinschaften Grenzen ziehen, Identität verhandeln und sich stabilisieren. Eine Chance liegt auch darin, genau zu beobachten, wie in komplexeren Urteilen ästhetische auf Popularitätswerte bezogen werden. Denn dass weder in noch zwischen Genres Nebenordnung und Affirmation herrscht, sondern viel eher permanent bewertet und gerankt wird, kann längst als Gemeinplatz auch in Pop-Zusammenhängen betrachtet werden (Beregow und Stäheli 2017: 303). Auch sozial gibt es innerhalb der Genres zu beschreibende Rollen und Hierarchien – eine Unterscheidung zwischen ‚high‘ und ‚low‘ spielt dabei aber weniger als klar codierte Differenz denn als relationale Positionen etwa im Hinblick auf Expertise eine Rolle. Ähnlich verhält es sich mit Urteilen, die mit ‚high‘ und ‚low‘ Positionen auf Skalen markieren, zu denen wiederum Zuordnungsvoraussetzungen (also häufig: Genres) führen. Umkehr der Beweislast bedeutet vor diesem Hintergrund vor allem Ausdifferenzierung verschiedener Bewertungsregimes.

Fraglich bleibt weiterhin, mit welchem Konzept sich derartige Gruppen adäquat beschreiben lassen, die Grenzen ziehen, aber nicht (gänzlich) exklusiv sind, die sich selten über ihre Popularität definieren, aber auf Beachtung als Ressource maßgeblich angewiesen sind. Dass sowohl Hesmondhalgh als auch Lena und Peterson (Hesmondhalgh 2005: 32; Lena und Peterson 2008: 698) in ihren respektiven Aufsätzen aus soziologischer Sicht für den Genrebegriff plädieren, um Gruppenbildung in der Pop-Musik zu beschreiben, verweist auf den engen Konnex von Genre und sozialer Gruppe, ebenso aber auf die Unzulänglichkeiten bisheriger Konzepte.Footnote 30

Dennoch bieten diese nicht nur einen heuristischen Mehrwert, sondern spiegeln in ihrer Abfolge auch die Transformationen des Populären – von der noch stark einer ‚High‘/‚Low‘-Dichotomie verpflichteten ‚Subkultur‘ über ‚Szenen‘ und ‚Neo-Tribes‘, die bereits von den Erosionen des Populären, Translokalität und (In-)Stabilität künden, bis zu ‚Stilgemeinschaften‘, die gerade unter dem Eindruck automatisierter, paratextuell verankerter Popularisierungsaufzeichnung konzipiert werden. In deren Kontext haben sich generische Prozesse nicht nur verändert, weil sich Bedeutung von Räumen ins Digitale verschoben hat, es neue Möglichkeiten zur Vernetzung und so auch Partizipation an Feedbackschleifen gibt, sondern auch weil sich in genretheoretischen Beobachtungen bisweilen jene Flüchtigkeit und Instabilität ankündigt, die in der Konzeption von Neo-Tribes noch als Schwachstelle gesehen wurde.

8.5 Genrification: Zu den jüngsten Transformationen des Populären

Die Rede von Krise, Entropie, Inflation und einer neuen Beliebigkeit im Umgang mit kulturellen Artefakten, die der gepflegten Ästhetik mit ihrem Kategorisieren und Vergleichen entgegensteht, kursiert nun schon seit einigen Jahren (einschlägig: Reynolds 2012). Nun hat nicht jeder Effekt, den Streaming-Plattformen und soziale Medien, also die Träger der „automatisierten Popularitätsaufzeichnungen“ (Döring et al. 2021: 18–19), zeitigen, auch etwas mit ebendieser Automatisierung zu schaffen. Vieles resultiert aus niedrigschwelliger Zugänglichkeit, offenen, üppigen Archiven oder neuen Möglichkeiten der Verlinkung und muss entsprechend beschrieben werden. Es lassen sich aber auch Veränderungen in generischen Prozessen identifizieren, die mit dieser Automatisierung der Popularitätsaufzeichnung zumindest verflochten sind – was ob der historischen Verbindung von Popularität und Genre keinesfalls verwunderlich ist.

Zunächst lassen sich zwei Tendenzen der Genrification identifizieren, die mit den Transformationen des Populären in Verbindung stehen: Automatisierung und Partizipation. Gerade im Ausmachen und Benennen (also: Diskursivieren) von Ähnlichkeitsverhältnissen gibt es Techniken, die nach der automatisierten quantitativen auch eine automatisierte qualitative Klassifikation anstreben. Die Automatisierung der Erkennung vor allem von Genres der Pop-Musik ist als Projekt Music Information Retrieval (MIR) institutionalisiert und arbeitet daran, aus verdateten Sounddateien Ähnlichkeiten zu gewinnen und so ein stetig wachsendes Feld zu strukturieren (Brackett 2016: 325). Operiert wird hier mit einem reduktionistischen, Artefakt-bezogenen Genrebegriff, der vor allem dazu dient, Vorschläge auf Plattformen effektiver zu gestalten bzw. das Angebot überhaupt navigierbar zu machen.Footnote 31

Zugleich gibt es eine größere Beteiligung der Rezeption, die ihre Erwartungen selbst auf Begriffe bringt und in der Lage ist, diese an Gatekeeper:innen vorbei zu popularisieren (Faulstich 2010: 280). Diese Partizipation findet in sozialen Medien, Foren oder auf Webseiten statt, die sich derartigen Kanonisierungsprojekten verschrieben haben (Brackett 2016: 325; zu denken ist auch an die Fanfiction-Plattform Plattform Archive of Our Own). Hier setzen sich Praktiken fort, die etwa im Heavy Metal auch schon vor der Digitalisierung üblich waren (Lusty 2019), hier nun aber sowohl auf exponentielles Wachstum reagieren als auch zu diesem beitragen.

Die so befeuerte ‚Entropie‘ von Genreprozessen folgt nun verschiedenen Logiken, die alle mit der Unüberschaubarkeit kultureller Angebote zu tun haben. Auf Kontrolle zielt auch hier eine Logik, die etwa in der Rubrizierung der Streaming-Plattform Netflix zu erkennen ist: Aus der immer weiteren Erhebung von Daten, immer feineren Bestimmung von Zielgruppen (Negus 1999: 55) folgt eine sehr spezifische Angabe über Charakteristika von Filmen (etwa: „Mind-bending Supernatural Movies from the 1980s“; Rossman 2012: 118; „independent dramedy featuring a strong female lead“; O’Donnell und Stevens 2019: 1).

Diese Spezialisierung erfolgt nicht nur aus einer genaueren Verdatung des Publikums, sondern auch aus einer erhöhten Konkurrenzsituation auf diesen Plattformen und der hohen Sicht- und Verfügbarkeit einer Vielzahl von Artefakten. Es braucht ein genaueres Profil, um in diesem Angebot erkennbar zu sein (Rossman 2012: 117). Hinzu kommt, dass es in großen Genres nicht nur schwieriger ist, Beachtung herzustellen, sondern auch, einen relationalen Beachtungserfolg zu landen. Weniger geht es diesem ‚generic regime‘ also um Systematik als die Konstruktion möglichst genauer Zielgruppen, mit denen möglichst genaue Verträge geschlossen werden können, in der Hoffnung auf Stabilisierung (ökonomischer) Erwartbarkeit.Footnote 32

Als Begriff für den ‚Gegenstand‘ solcher Genreprozesse hat sich ‚Mikrogenre‘ durchgesetzt (vgl. etwa Reynolds 2012: 27–28, 376–377; Born und Hawthorne 2018; O’Donnell und Stevens 2019). Gemeint sind damit – einer zweiten Logik folgend – auch solche spezialisierten Formen, die sich innerhalb größerer Genres über längere Zeit als Resultat fortschreitender Differenzierung angehäuft haben, ohne sich aus dem größeren Verbund zu lösen. Eine solche enzyklopädische Pflege und Kultivierung von Mikrogenres ist keineswegs auf digitale Räume beschränkt und sowohl auf Übersicht als auch Kanonisierung angelegt.Footnote 33

Anders eine dritte, ebenfalls (eher) Fan-betriebene Logik, die Elena Beregow jüngst auch begrifflich abweichend (und in Anlehnung an Natasha Stagg) als „Mikrotrend“ bezeichnet hat: „Gegenüber einer relativ stabilen Zugehörigkeit zu Subkulturen oder Szenen (die es unbestritten nach wie vor gibt) werden […] Mikrotrends wichtiger, die Mode, Musik und digitale Bildästhetiken durchwandern. Nach Normcore kamen Gorpcore, Dadcore, Weirdcore, Cottagecore, Bimbocore und viele mehr“ (Beregow 2023). Diese Trends zeichnen sich nicht nur durch eine Ähnlichkeit ihrer Artefakte, sondern auch Flüchtigkeit sowie häufige Beachtung (und Produktion) zu einem Zeitpunkt aus – sie werden also erst durch Popularität hervorgebracht und sind an ihr ausgerichtet.

In ihrem ephemeren Charakter (der sich semantisch auch in der Rede von ‚Vibes‘ spiegelt) und ihrem Bewusstsein über die eigene Vergänglichkeit und Partikularität stellen diese Trends die Frage, ob es sich um Genres im engeren Sinne handelt, für die nach Lena und Peterson der gruppenbildende, kodifizierende, auf Stabilität gerichtete Charakter entscheidend ist.Footnote 34 Oder handelt es sich um eher adjektivische Hashtags, die gar nicht mehr in einen Prozess der Genrification treten, sondern ihren raschen Wechsel schon voraussetzen?Footnote 35

Es geht dabei um eine Frage nach den ästhetischen Effekten der zweiten Transformationsstufe des Populären, die sich ebenfalls in generischen Prozessen vollziehen und als solche beobachtbar werden. Vollumfänglich lassen sich diese Effekte noch nicht beschreiben; die Entstehung von Mikrogenres und ihre Überbietung als Mikrotrend bieten aber sicher einen wichtigen Strang dieser Entwicklung.

Weitere Effekte rücken in den Blick, geht man von Plattformen aus. Im Bereich des Streaming von (Pop-)Musik ist Spotify nicht nur das einschlägigste Beispiel, sondern inszeniert Popularität auch an verschiedenen Punkten der eigenen Infrastruktur: als absolute Zahl, die peritextuellFootnote 36 an Songs, Bands und Playlists haftet (Wiedergaben, monatliche Hörer:innen, Likes); als nicht bezifferte, in ihrer Zusammensetzung intransparente Popularitätsangabe, auf einer Künstler:innen-Seite etwa (Songs werden unter Überschrift „Beliebt“ angezeigt, Diskografie wird durch „Beliebte Veröffentlichungen“ repräsentiert); und in Playlists, die sich hinter der Kachel „Charts“ verbergen. Diese bildet neben Kacheln mit tradierten Genrenamen (Hip-Hop, Rock, Jazz) und eher funktionsorientierten Angaben (Fitness, Im Auto, Schlafen) ein Raster, das Spotify nach einem Klick auf den Button „Suchen“ öffnet.Footnote 37

Diese Charts-Playlists erfüllen die Funktion einer Popularisierung zweiter Ordnung, die auch analoge Charts haben, in gesteigerter Form – was viel beachtet wurde, wird hier nicht nur erneuter Beachtung ausgesetzt, weil es eben viel beachtet wurde. Diese neuerliche Beachtung wird durch den Rezeptionsmodus, den die Playlist nahelegt – also: nicht nur lesen, sondern direkt streamen – auch sofort hergestellt und aufgezeichnet.

Welche ästhetischen Effekte begünstigt diese Ubiquität von Popularitätsinszenierungen und der Kurzschluss verschiedener Schritte einer Popularisierung zweiter Ordnung im Format ‚Playlist‘? Einige von ihnen hat jüngst Till Huber beschrieben, und sucht man nach Konsequenzen für generische Prozesse, liegen zwei Effekte nahe, die zwei Aspekte von Genreprozessen betreffen: eine Schwächung des vor allem über Genres organisierten Pop-Diskurses durch passives Hören von Playlists und Künstlerradios (Huber 2022: 43–44), und eine Stärkung (populärer) generischer Strukturen in der Produktion, die sich als Effekt von Playlistenoptimierung ergeben (Huber 2022: 45–46).

Zu denken ist dabei (idealtypisch) an möglichst ruhige Musik, die bereits unter dem Schlagwort „Spotify-core“ (Pelly 2018) gefasst wurde und sich auf jeden Fall möglichst nahtlos in bestehende, teils auch über (Sub-)GenresFootnote 38 organisierte Playlists einfügt, um kein Skippen zu provozieren. Interessant ist, dass Huber in der Gestaltung dieser Playlists Effekte beschreibt, die an Pop-typische Stilverbünde (Hecken 2012: 99) erinnern – das Titelbild der Playlist soll dann etwa zur Musik passen, und falls Menschen auf dem Bild zu sehen sind, sollte sich auch deren Kleidung in die Ästhetik einfügen. Das lässt sich schlicht als Entwurf eines stereotypen Idealpublikums begreifen, kann aber auch Züge einer Genrification annehmen.

Beispielhaft hierfür ist die Spotify-Playlist „Misfits 2.0“, die im November 2023 etwa hinter den Kacheln „Rock“, „Alternative“ und „Party“ zu finden ist. Die mit der Entwicklung einer Werbestrategie zur Playlist betraute Agentur The Digital Fairy gibt zur Ausrichtung an: „Misfits 2.0 is a cultural and fandom led alternative playlist infused with a spectrum of genres such as punk, hyperpop, metal and hip-hop, so with this in mind we were required to reach an eclectic group of Gen-Z on social media through relevant talent and engaging content, while featuring artists on the playlist“ (The Digital Fairy o. J.). Die Playlist reagiert damit auf verschiedene Genre-Entwicklungen wie das verstärkte Aufgreifen einer Rock-Ästhetik durch Rapper:innen in der zweiten Hälfte der 2010er Jahre, die Frage nach dem gegenwärtigen ästhetischen Potenzial von ‚Gitarrenmusik‘ und ihrer identitären Ausrichtung.Footnote 39

„Misfits 2.0“ genrifiziert diese Entwicklungen, die keineswegs ‚nur‘ musikalischen Parametern folgen, durch Verdichtung in der Playlist, aber auch durch soziale Angebote, die den ‚passiven‘ Konsum der Playlist überschreiten. „Misfits 2.0“ beruft sich zwar programmatisch auf die bereits zitierte Logik des Vibe,Footnote 40 rekonfiguriert dazu aber eine kulturelle Figur (den Misfit) und visiert einen Stilverbund an, der sich dann auch (via Hashtags) in den sozialen Medien fortsetzt, aber seit 2022 auch analog-räumlich als ‚Anti-Prom‘ manifestiert. Weiter zu beobachten bleibt, wie die sich so (möglicherweise) konstituierende Gruppe die starke Assoziation mit Spotify reflektiert.

Die Assoziation (etablierter) Genres mit Plattformen kann aber auch von Genreseite erfolgen, wie im April 2018 in Reaktionen auf die Anpassung der Regularien für Gold- und Platinauszeichnungen durch den Bundesverband Musikindustrie (BVMI) deutlich wurde. Der BVMI erhöhte dabei den Wechselkurs für die Umrechnung von Streams in verkaufte Einheiten von 100:1 auf 200:1 (Bundesverband Musikindustrie 2018). Begründet wurde die Anpassung mit einem veränderten Streamingverhalten. Diese brancheninterne Meldung zirkulierte in den folgenden Wochen in Rap-Medien, die sie auf das eigene Genre bezogen.Footnote 41 „Noch Fragen? Alles zu Streaming-Gold (und warum die Änderung Deutschrap schadet!)“ (HipHop.de 2018b) bilanzierte etwa eine Folge des HipHop.de-Formats On Point bereits im Titel und verdeutlichte damit, dass die Entscheidung im Rahmen der Auseinandersetzung zwischen Genres wahrgenommen wurde.

Auffallend war, dass Popularität in der Argumentation nicht nur als Ressource in Konflikten zwischen Genres erkennbar wurde, sondern als Wert an sich, um den gerungen wird, der mit bestimmten Plattformen (in diesem Fall: Spotify) assoziiert wird und dessen Nuancen zugleich differenziert diskutiert werden. Neben den Wechselkursen, die eine Notwendigkeit der aus heterogenen Quellen gespeisten Charts darstellen, ging es auch um den Wert verschiedener Formen von Beachtung, also in diesem Fall: Kauf und Stream, letzteres identifiziert mit einer ‚tatsächlichen‘ Rezeption. Kurz: Die so ermittelte Zahl schien schlicht legitimer (Power 2004: 776).

In dieser ArgumentationFootnote 42 zeigen sich die Logik der Popularisierung zweiter Ordnung und der daraus resultierende Eigenwert von ‚Popularität‘ besonders deutlich – gerade vor dem Hintergrund eines spezifischen Genreprozesses, also hier: der Verteidigung des akkumulierten Kapitals nach außen. Wie die vorherigen, eher auf ästhetische Effekte fokussierten Beispiele belegt auch dieses, dass sich Genreprozesse in den Transformationen des Populären verändern, sie diese mitgestalten und von ihnen gestaltet werden. Das erweist sich deutlich im Kontrast zu früheren Bestimmungen des Verhältnisses von Genre und Populärkultur, in denen es sowohl einen festen Genrebegriff als auch eine qualitative Vorstellung des Populären gab.

Dass nicht alle früher hergestellten Zusammenhänge hinfällig sind, zeigt sich gerade bei der Beobachtung von Genreprozessen in der Popularisierung. Dass beides nun prozessual gedacht wird, führt potenziell zu einer Entgrenzung, die kulturell und konzeptuell überholte Dichotomien verlässt, den genauen Blick auf Funktionen jedoch noch wichtiger macht. Entscheidend ist etwa, wie Genres in die Organisation von Hierarchie involviert sind, gerade wenn sie Charts strukturieren und regulieren, was an welchen Maßstab angelegt wird und damit Aussichten auf welche Popularität hat. Das gilt umso mehr, wenn mit Genres auch an die Bildung sozialer Gruppen gedacht ist.

Nimmt man, wie es der vorliegende Beitrag getan hat, Frows Hinweis auf die „uses of genre“ und seine Frage, wie Genre-Klassifikationen hergestellt und ausgehandelt werden (Frow 2015: 2), auf und verbindet sie mit der Frage nach dem Populären im Sinne einer zahlenmäßig nachgewiesenen Beachtung, ergeben sich gänzlich neue Perspektiven auf einen zentralen geisteswissenschaftlichen Begriff. Im Zuge der Metrisierung des Populären, die wir für die Popularisierung zweiter Ordnung seit 2000 beobachten, rückt die Produktion, Zirkulation und Rezeption von Texten in den Fokus der Analyse. Genre-Forschung ist somit nicht länger ein vornehmlich bild-, film-, literatur-, musik- oder theaterwissenschaftliches Unterfangen, sondern nur noch als interdisziplinäres Vorhaben denkbar, welches Ansätze und Erkenntnisse aus der Kultur- und Medienwissenschaft einbezieht und Antworten auf die Herausforderungen digitaler Dynamiken findet. Es mag paradox erscheinen, aber die prinzipielle Unabgeschlossenheit und Prozesshaftigkeit von Genres und ihre Funktion, Dinge zusammenzufügen, die nicht zwingend zusammengehören, findet ihre Entsprechung auf der Ebene der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ihnen – die von sehr unterschiedlichen und kontingenten Vorstellungen geprägt ist und die durch den vorliegenden Beitrag um eine weitere Facette erweitert wird.