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Geschichte Genozid in Ruanda 1994

Das Altartuch war mit dem Blut der Ermordeten durchtränkt

Bis zu einer Million Opfer in knapp hundert Tagen: Was im Frühjahr 1994 im zentralafrikanischen Ruanda geschah, war schier unbegreiflich. Dennoch gibt es klare Ursachen für den Massenmord – allerdings auch Bemühungen, sie „postkolonial“ umzudeuten.
Leitender Redakteur Geschichte
Ein Mädchen sucht am 18.7.1994 in Goma in Zaire unter den Leichen von zu Tode getrampelten Ruandern nach ihren Eltern. Die Menschen starben bei einem Angrif der Tutsi-Rebellen. Nach der Ermordung der Staatspräsidenten von Ruanda und Burundi am 6. April 1994 entwickelte sich zwischen ruandischen Regierungstruppen (Hutus) und den Rebellen der Patriotischen Front (FPR), die von der Minderheit der Tutsis dominiert werden, ein heftiger Bürgerkrieg. Bei Massakern wurden innerhalb von 100 Tagen mehr als 800.000 Menschen getötet, die Zahl der Flüchtlinge innerhalb und außerhalb des Landes, die dringend Hilfe benötigen, wird Mitte Mai 1994 von der UN auf 1,5 Millionen geschätzt. Ein Mädchen sucht am 18.7.1994 in Goma in Zaire unter den Leichen von zu Tode getrampelten Ruandern nach ihren Eltern. Die Menschen starben bei einem Angrif der Tutsi-Rebellen. Nach der Ermordung der Staatspräsidenten von Ruanda und Burundi am 6. April 1994 entwickelte sich zwischen ruandischen Regierungstruppen (Hutus) und den Rebellen der Patriotischen Front (FPR), die von der Minderheit der Tutsis dominiert werden, ein heftiger Bürgerkrieg. Bei Massakern wurden innerhalb von 100 Tagen mehr als 800.000 Menschen getötet, die Zahl der Flüchtlinge innerhalb und außerhalb des Landes, die dringend Hilfe benötigen, wird Mitte Mai 1994 von der UN auf 1,5 Millionen geschätzt.
Ein ruandisches Mädchen sucht im Juli 1994 nach ihren Eltern
Quelle: AFP/EPA/DPA/picture-alliance

Der archaische Genozid begann mit einem Hightech-Attentat: Gegen 20.20 Uhr Ortszeit am 6. April 1994, einem Mittwochabend, trafen zwei Boden-Luft-Raketen des modernen sowjetischen Typs Igla-1 die Regierungsmaschine von Ruanda beim Landeanflug auf den Airport von Kigali, der Hauptstadt des zentralafrikanischen Staates. Die zwölf Insassen, neun Passagiere und drei Besatzungsmitglieder, hatten keine Überlebenschance.

Wahrscheinlich wurden die beiden Raketen aus dem Quartier der Präsidentengarde von Ruanda aus abgefeuert – auf den ersten Blick erstaunlich, denn an Bord der dreimotorigen Dassault Falcon 50 befand sich Präsident Juvénal Habyarimana. In Begleitung seines burundischen Kollegen Cyprien Ntaryamira kehrte der seit 1973 herrschende Machthaber von einer Konferenz in Tansania zurück. Dabei war über die Bildung einer Übergangsregierung in Ruanda gesprochen worden, um den Konflikt zwischen der Bevölkerungsmehrheit aus Angehörigen der Hutu und der Minderheit von Tutsi zu befrieden.

Doch extremistische Hutu aus dem Umkreis des Präsidenten, wiewohl ebenfalls eines Hutu, betrachteten das Abkommen als existenzielle Bedrohung für ihre eigene Stellung. Seit Monaten schon bereiteten sie sich auf eine „Abrechnung“ vor, hatten zum Beispiel containerweise Macheten importieren lassen.

Unmittelbar nach dem Abschuss der Regierungsmaschine begannen Radio- und TV-Sender, Tutsi-feindliche Botschaften zu verbreiten. Die Folgen zeigten sich am nächsten Morgen. Am Donnerstag, dem 7. April 1994, brachen in Kigali Gewalt und Chaos aus – auch in der Umgebung des Präsidentenpalastes: „Es wird viel geschossen, und wir können auch etwas Artillerie-Feuer hören“, berichtete ein Augenzeuge.

Soldaten, Milizionäre und Polizisten zogen feuernd durch die Straßen. Gruppen von Jugendlichen schlossen sich ihnen an und attackierten Passanten mit Macheten. Deutschlands Botschafter Dieter Hölscher teilte mit, dass auch das Gelände der – vorwiegend belgischen – UN-Truppen in Kigali mit Granaten beschossen werde; zwei nahegelegene Häuser deutscher Familien seien beschädigt worden. Die derzeitige Lage weise auf einen Disput innerhalb der Streitkräfte hin, vermutete Hölscher.

Er konnte nicht wissen, was tatsächlich kommen sollte. Auch die ebenfalls an Aussöhnung zwischen den Volksgruppen interessierte Premierministerin Agathe Unwilingiyimana und ihre Familie waren inzwischen ermordet worden. Hutu-Extremisten nahmen grausam Rache für die jahrhundertelange, schon deutlich vor der Machtübernahme durch deutsche Kolonialisten (formal 1890, faktisch erst rund 15 Jahre später) etablierte Herrschaft der Tutsi.

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Es waren nicht die ersten derartigen Ausschreitungen. Schon Ende der 1950er-Jahre hatte die – seit 1916 belgische – Kolonialmacht ethnische Konflikte hart unterdrückt; zahlreiche der gesellschaftlich noch führenden Tutsi waren nach Süden ins spätere Burundi ausgewichen. 1964/65, nur gut zwei Jahre der Unabhängigkeit Ruandas, verübten die nun den neuen Staat dominierenden Hutu Massaker an 15.000 oder mehr Tutsi.

Im Nachbarstaat Burundi besetzten sie jedoch weiterhin die einflussreichsten Posten in Verwaltung und Militär. 1988 kam es dort zu Massakern an Hutu, begangenen vorwiegend von der Tutsi-dominierten Armee. Hutu flohen nach Norden – nach Ruanda. Nur wenig später, 1990, begannen Tutsi-Rebellen auch aus Uganda eine Offensive gegen die Regierung in Kigali.

Workers from a team of 50 diggers, unearth remains from a mass grave in Nyamirambo, close to Kigali, containing the remains of at least 32,000 people in preparation for dignified reburial as Rwanda marks the sixth anniversary of the Hutu-led genocide. Workers carefully placed remains, dating from the 1994 slaughter of up to 800,000 people, in white cross-marked coffins at the mass grave site. dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Arbeiter beim Ausheben eines Massengrabes in Ruanda. Etwa 32.000 Opfer wurden allein hier exhumiert
Quelle: picture-alliance / dpa

1993 gewann eine Hutu-Partei die ersten einigermaßen freien Wahlen in Burundi, und nach weiteren Unruhen wurde Anfang Februar 1994 Cyprien Ntaryamira Präsident. Zusammen mit seinem schon mehr als 20 Jahre in Ruanda herrschenden Kollegen Habyarimana versuchte er, die dauernden ethnischen Konflikte zu deeskalieren – und wurde am Abend des 6. April, nach nicht einmal neun Wochen im Amt, abgeschossen.

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Nun gab es kein Halten mehr. Schon am 9. April berichteten deutsche Zeitungen von tausenden Leichen in den Straßen Kigalis. Auch zehn belgische Blauhelm-Soldaten wurden getötet, ferner 19 Jesuiten sowie mehrere Dutzend Mitarbeiter der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen. Kirchen und andere vorwiegend katholische Einrichtungen waren bald überfüllt von Schutz suchenden Tutsi.

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Es half ihnen nichts – jedenfalls oft. In der kleinen Kirche in Ntarama südlich von Kigali wurden am 15. April etwa 5000 Menschen abgeschlachtet. Im nicht weit entfernten Nyamata verbarrikadierten sich etwa doppelt so viele Tutsi in den Gebäuden einer Kirchenanlage. Hutu-Extremisten schlugen Löcher in die gemauerten Wände, um Granaten hineinwerfen zu können; anschließend wurden die Schutzsuchenden im Inneren mit Macheten getötet oder erschossen. An der Decke der Kirche zeugten zahlreiche Einschusslöcher von den wüsten Kugelsalven im Inneren, das Altartuch war mit dem Blut der Ermordeten getränkt. Insgesamt wurden rund um Nyamata 45.000 bis 50.0000 Opfer gezählt.

Ruanda, Ntarama Memorial, Rwanda
In dieser Kirche in Ntarama, heute einem Mahnmal, und darum herum starben Mitte April 1994 bis zu 5000 Tutsi
Quelle: picture alliance / Bildagentur-online/Hermes Images

Die europäischen Mächte kümmerten sich vor allem darum, eigene Staatsbürger aus dem Blutrausch zu retten: 460 französische Fallschirmjäger richteten auf dem Airport von Kigali eine Evakuierungsstation ein, über die westliche Ausländer mit Militärmaschinen ausgeflogen wurden; US-Marineinfanteristen schützten Autokonvois von Ruanda nach Burundi vor Übergriffen.

Die meisten Deutschen kamen mit ihnen in Sicherheit; zurück blieben nur fünf Familien von Mitarbeitern einer Sendestation der Deutschen Welle, Botschafter Hölscher, dessen Frau und ein Mitarbeiter. Sie konnten nicht evakuiert werden, da sie außerhalb Kigalis wohnen und die Zufahrtsstraße von Aufständischen besetzt war – den Weg freischießen wollten die US-Marines nicht und Hubschrauber standen zunächst nicht zur Verfügung.

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In Burundi holte ein Airbus der Bundesluftwaffe rund 200 aus Ruanda geflohene deutsche Entwicklungshelfer ab, doch etwa 30 deutsche Nonnen und Priester lehnten das ab und entschieden sich, im Land zu bleiben. Auch andere westliche Staaten flogen ihre Bürger aus, allein Belgien etwa 1500 Personen.

Am 12. April gelang dem Ehepaar Hölscher und den Deutsche-Welle-Mitarbeitern die Flucht, mit belgischen Hubschraubern und geschützt von französischen Fremdenlegionären. Die Bundeswehr hatte selbst weder geeignete Kräfte noch die notwendige Technik, wie ein FDP-Verteidigungsexperte kritisierte: „Das Bürgerkriegschaos in Ruanda zeigt einmal mehr, mit welcher typischen Selbstverständlichkeit sich Deutschland bei internationalen Krisen auf die Bündnispartner verlässt.“

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Das Tor zum Nyamata-Genozid-Denkmal. Hier starben im Frühjahr 1994 bis zu 50.000 Menschen
Quelle: picture alliance / Bildagentur-online/Hermes Images

Das Morden ging weiter, in Kigali und überall in Ruanda, und Opfer wurden Tutsi ebenso wie jene Hutu, die sich den Tätern entgegenzustellen versuchten. Die einzige Rettung versprach der Vormarsch der Tutsi-Rebellen aus Uganda: In von ihnen besetzten Gebieten wurde das Morden der marodierenden Hutu-Banden auf allerdings oft selbst drastische Weise unterbunden.

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Allein bis zum 21. April 1994 starben etwa eine Viertelmillion Menschen in Ruanda einen grausamen Tod, in den kommenden Wochen kamen doppelt bis dreimal so viele noch dazu. Die Gesamtzahl der Ermordeten wurde später auf 800.000 bis eine Million in den knapp hundert Tagen bis zum Sieg der Tutsi-Rebellen geschätzt. Das waren drei Viertel der noch in Ruanda lebenden Tutsi und zehn bis zwölf Prozent der Gesamtbevölkerung. Erst der Sieg der Rebellen beendete das Töten.

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Hinsichtlich der Kürze der Tatzeit und dem Anteil der Opfer an der Bevölkerung übertraf der Genozid in Zentralafrika 1994 alle vorangehenden Massenmorde. Den nationalsozialistischen Holocaust ebenso wie die bewusst herbeigeführten Hungersnöte in der Ukraine (Holodomor) und Kasachstan 1932/33 oder den „Großen Sprung nach vorn“ und die Kulturrevolution in China 1959 bis 1961 und 1966 bis 1976.

Neuerdings versuchen Forscher übrigens, den Genozid von 1994 umzudeuten. Sie sehen keinen „seit Jahrhunderten schwelenden ethnischen Konflikt zwischen bantuiden Ackerbauern (den Hutu, die Red.) und nilotischen Viehzüchtern (den Tutsi), der sich immer wieder in blutigen ,Stammeskriegen’“ entladen habe. Vielmehr sei der Konflikt in Ruanda (und Burundi) geradezu „ein Produkt der Kolonialherrschaft“. Das ist typisch für die „postcolonial studies“, die fast alles ausblenden, was nicht zur Prämisse der vor Ankunft der Kolonialmächte vermeintlich „edlen Wilden“ in Afrika passt.

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