100 Jahre Mitropa: So schön ließ es sich im DDR-Speisewagen schlemmen

100 Jahre Mitropa: So schön ließ es sich im DDR-Speisewagen schlemmen

Sie war ein Ort der Hoffnung und der Zuflucht. Ein Ort ungewöhnlicher Begegnungen – nicht nur mit bis dahin fremden Menschen, sondern auch mit ungewohnten Produkten und Speisen. Sie war beides: eine Gewöhnung an die Kargheit der neuen Heimat im Osten und an ihre absurden politischen Gegebenheiten – aber zugleich ein Tempel der Opulenz, in der erschwinglicher Alkohol und Soljanka in Strömen flossen.

Ein Besuch gehörte für mich dazu, wann immer ich als Student während der 1980er-Jahre zwischen dem Bundesgebiet und West-Berlin unterwegs war. Ein Besuch in der Mitropa, dem Speisewagen. Vor 100 Jahren wurde die Mitteleuropäische Schlaf- und Speisewagen AG in Berlin gegründet. Zeit sich zu erinnern – an Erlebnisse im Transitzug.

Allein schon die Annäherung war ein Erlebnis. Ein Wechselbad der Gefühle, positiv wie negativ. Während der D 345 mit Tempo 80 durch die Weiten der DDR schlingerte, war meist ein längerer Weg zu bewältigen. Durch schmale Gänge, auf denen DDR-Organe gelangweilt am Fenster standen, um aufzupassen, dass niemand illegal ein- oder ausstieg.

Vorbei an voll besetzten Abteilen, wo die Fahrgäste auf Plastiksitzen dösten, unter Gepäckablagen, auf der sich nach Weihnachten die Mitbringsel aus Westdeutschland türmten, mitgegeben von besorgten Eltern für das Leben im Außenposten der westlichen Zivilisation.

Alkohol gegen Nachdenklichkeit

Die Übergänge zwischen den Wagen waren dunkle Angsträume, in denen es heftig polterte und wo sich im Winter Schnee häufte. Und dann die Gerüche: nach einem DDR-Reinigungsmittel, das in die Kleider zog und die Fahrgäste noch Tage später als Reichsbahnnutzer brandmarkte.

Nach Braunkohle, deren Rauch in den Zug drang, wenn er durch ein Dorf oder eine Stadt fuhr, und der auf Berlin einstimmte: Dort roch es im Winter genauso. Dann drang ein anderer Geruch in die Nase: ein molekülgesättigter Mix aus Bockwurstdämpfen, zum Teil undefinierbaren Speisearomen, Menschenausdünstungen auf engem Raum. Ein Geruch, der Freude wachrief. Ein Griff zur Türklinke aus Aluminium, und das Ziel war erreicht: die Mitropa!

Voll wie immer. Und überheizt wie das Wohnzimmer der sächsischen Bekannten in Limbach-Oberfrohna. Doch am letzten freien Tisch wurde, nach kurzem Warten, das bei anderen DDR-Besuchen bewährte Gegenmittel gegen zu viel Nachdenklichkeit kredenzt: Alkohol.

Steak mit Würzfleisch

Anders als auf dem Sofa bei Korl-Morx-Stodt erst mal kein Brauner oder Weißer (Spirituosen), auch kein Pfeffi und kein merkwürdiger Wein. Sondern Bier, Bier, Bier – Wernesgrüner oder Radeberger. Oft nicht ganz kalt, und mit knapp unter vier D-Mark für den halben Liter für Studenten nicht gerade billig. Aber es war immer vorrätig. Wenn die Nachfrage groß war, dann ging das Personal schon mal mit einem Henkelkorb herum, anstatt die Flaschen auf Tabletts zu balancieren.

Wo sind wir? Lulu (Ludwigslust)? Biederitz? Bad Sulza? Schön, dann ist Zeit für ein Essen! Schweinesteak natur mit Beilage und Weiß- und Rotkrautkombi. Oder ein Schweinesteak au four, mit Würzfleisch und überbacken. Dann eben ein anderes Steak. Oder eine Soljanka. Alles serviert auf schwerem Stapel-Geschirr des Typs „Rationell“ mit dem martialisch wirkenden Mitropa-Logo.

So versank die Fremde dort draußen hinter einer Gischt aus Bier der Luxusklasse und warmer Suppe. Es existierte nur noch die gemütliche Zwischenwelt im Speisewagen aus den 1960er-Jahren. West-Berlin, die unwirtliche Stadt, konnte kommen!

Radeberger für Kenner

Ich habe viele andere Erinnerungen an die Mitropa. Zum Beispiel an die Rasthöfe entlang der Transitautobahn (wenn das Geld nicht reichte und Trampen angesagt war), an Michendorf im Nazi-Landhausstil von 1938 oder an „Magdeburger Börde“, wo es außer Weiß- und Rotkraut oft noch ein drittes Salatprodukt gab.

Und da sind die vielen Mitropa-Geschichten, die ich hörte. Von Zugbegleiterinnen und Fahrgästen, die sich im Liegewagenabteil näher kamen. Von Osnabrückern, die anklopften und mit zehn Flaschen Radeberger erfreut von dannen zogen.

2002 wurde die Mitropa in andere Unternehmen integriert. Es gibt sie nicht mehr. Aber die Erinnerungen, die bleiben.