1 Autor und Genese des Werkes

Michel Foucault (1926–1984) gehört zweifellos zu den großen Intellektuellen und kulturwissenschaftlichen Begriffsbildnern des 20. Jahrhunderts. Wie kein anderer hat er die sozial- und kulturwissenschaftliche Wahrnehmung von Ausschlussmechanismen diskursiver Rationalität geprägt. Seit seinen epochemachenden Werken über Wahnsinn und Gesellschaft (1961), Die Geburt der Klinik (1963) und Überwachen und Strafen (1975) hat sich der kultur- und sozialwissenschaftliche Blick auf die Randzonen der Vernunft grundlegend verändert. Mit seinen Arbeiten zur Ordnung der Dinge (1966), zur Archäologie des Wissens (1969) und zur Ordnung des Diskurses (1971) ist er zum Begründer der Diskursanalyse geworden, welche die krude Gegenüberstellung von Basis und Überbau, Sozialstruktur und Semantik zugunsten einer Fokussierung auf die Macht von Wissensordnungen überwindet und diese in ihrer historischen Verschränkung mit konkreten Institutionen und Praktiken untersucht.

Als Schüler von Jean Hyppolite und Louis Althusser stand Foucault nach Abschluss seines Philosophie- und Psychologiestudiums an der École Normale Supérieure in Paris eine glänzende akademische Karriere bevor. Nach Stationen in Lille, Uppsala, Warschau und Hamburg bekleidete er seit 1960 zunächst eine Professur in Clermont-Ferrand, seit 1966 dann in Tunis, bevor er Ende 1968 an die Reformuniversität Paris VIII (Vincennes) berufen wurde. Während der Studentenunruhen der späten 1960er Jahre sowie in den frühen 1970er Jahren verortete er sich politisch aufseiten der (radikalen) Linken, hielt zum orthodoxen Marxismus jedoch Distanz; 1970 folgte die Berufung an das hoch angesehene Collège de France auf eine Professur für ‚Geschichte der Denksysteme‘. Hier lehrte er, unterbrochen von zahlreichen Gastdozenturen (insbesondere in den USA), bis zu seinem Tod im Jahr 1984, verursacht vermutlich durch die Immunschwächekrankheit Aids.

Mit Phänomenen der Religiosität hat sich Foucault eher am Rande seiner großen einflussreichen Werke beschäftigt. Erst gegen Ende der 1970er Jahre wird sein denkerisches Bemühen greifbar, auch der Religion – zumindest in ihrer christlich-abendländischen Gestalt – einen spezifischen Machttypus zu attestieren: die „Pastoralmacht“. Dieser Begriff ist einer der zentralen theoretischen Ankerpunkte, um die Foucaults Denken in seiner letzten Werkphase kreist und der seiner Aufsatzsammlung Analytik der Macht nicht zuletzt auch ein religionssoziologisches Gewicht verleiht.

Der Band bietet eine Auswahl kürzerer Schriften und Interviews Foucaults, die im französischen Original erstmals 1994 in einer Anthologie gebündelt publiziert wurden und in den Jahren 2001 bis 2005 in deutscher Übersetzung unter dem Titel Dits et écrits. Schriften in vier Bänden erschienen sind. Die ausgewählten Texte – gewissermaßen die Quintessenz der großen vierbändigen Ausgabe – decken dabei sämtliche Schaffensperioden Foucaults ab: vom Vorwort zur Erstausgabe von Wahnsinn und Gesellschaft – in späteren Neuauflagen des Werkes ist dieses nicht mehr enthalten – bis hin zu Interviews Anfang der 1980er Jahre, die thematisch um Foucaults Projekt einer Geschichte der Sexualität kreisen. Thomas Lemke, einer der besten Kenner des Spätwerks Foucaults, gibt in seinem Nachwort einen konzisen Überblick über die unterschiedlichen Werkphasen, die er unter den von Foucault selbst mehrfach verwendeten Begriff einer „Analytik der Macht“ treffend subsumiert (2005, S. 319–347).

2 Zentrale Inhalte und Aussagen des Werkes

Der Begriff der Macht ist in der Tat zentral für Foucault und zieht sich durch sein gesamtes Werk, ohne von ihm jedoch in eine feste Definition gezwängt zu werden. Vielmehr verwendet er das Wort als offenen, heuristischen Begriff, um durch eine Analyse der „Mikromechanik der Macht“ (Foucault 2005, S. 117) den feinen Verästelungen von Machtbeziehungen in gegebenen gesellschaftlichen Konstellationen auf die Spur zu kommen: „Es geht nicht darum, die geregelten und legitimen Formen der Macht in ihrem Zentrum zu analysieren […], es geht im Gegenteil darum, die Macht an ihren äußersten Punkten, in ihren letzten Andeutungen, dort, wo sie kapillarisch wird, zu erfassen. […] Die Macht muss […] als etwas analysiert werden, das zirkuliert, oder eher noch als etwas, das nur in einer Kette funktioniert; sie ist niemals lokalisiert hier oder da, sie ist niemals in den Händen einiger, sie ist niemals angeeignet wie ein Reichtum oder ein Gut“ (ebd., S. 122–124). Macht ist für Foucault also keine Eigenschaft oder gar eine Substanz, sondern vielmehr ein relationaler Begriff: eine Art Abkürzung für den umfassenderen Begriff der „Machtbeziehung“, wie er in einem Interview aus dem Jahr 1984 sagt (ebd., S. 288). Macht ist für ihn weder schlecht noch gut (ebd., S. 297) und durchzieht sämtliche Institutionen, Diskurse und Individuen. Insofern sieht er schließlich selbst das neuzeitliche Erkenntnissubjekt und dessen „Spiele der Wahrheit“ durch „Praktiken der Macht“ durchzogen (ebd., S. 286). Jede Annahme eines a priori gegebenen Subjekt wird von Foucault daher zurückgewiesen und durch eine historisch-genealogische, auf kontingente Machtbeziehungen ausgerichtete Analyse der gesellschaftlichen „Konstitution des Subjekts“ (ebd.) ersetzt.

In Foucaults später Werkphase ab Mitte der 1970er Jahre wird die Frage nach dem Subjekt in der Tat immer zentraler, sodass er in einem Interview aus dem Jahr 1982 geradezu apodiktisch behauptet: „Das umfassende Thema meiner Arbeit ist also nicht die Macht, sondern das Subjekt“ (ebd., S. 240). Das Wort „Subjekt“ bedeutet für Foucault dabei stets eine zweifache Unterwerfung: „Es bezeichnet das Subjekt, das der Herrschaft eines anderen unterworfen ist und in seiner Abhängigkeit steht; und es bezeichnet das Subjekt, das durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis an seine eigene Identität gebunden ist. In beiden Fällen suggeriert das Wort eine Form von Macht, die unterjocht und unterwirft“ (ebd., S. 245).

Während sich in vormodernen Gesellschaften diese doppelte Unterwerfung des Subjekts zu großen Teilen über „Disziplinarzwänge“ (ebd., S. 122) – im Sinne von Überwachen und Strafen – vollzog, habe sich, so Foucault, in der Moderne eine neue Matrix der Macht entwickelt, die von ihm seit den späten 1970er Jahren mit dem Begriff „Gouvernementalität“ (ebd., S. 148–174) belegt wird. Mit diesem Neologismus, der sich vom französischen Verb ‚gouverner‘ (= regieren, führen, lenken) ableitet, zielt Foucault auf eine spezifische Art von Macht, welche die Herrschaft über Bevölkerungen, Territorien und Dingen mit der freien Selbstführung von Individuen in Übereinstimmung zu bringen versucht. Oder, in Foucaults Worten: Der Begriff der „Gouvernementalität“ zielt „auf die Gesamtheit der Praktiken […], mit denen man die Strategien konstituieren, definieren, organisieren und instrumentalisieren kann, die die Einzelnen in ihrer Freiheit wechselseitig verfolgen können“ (ebd., S. 298). „Führung“ im Sinne der modernen „Gouvernementalität“ heißt für Foucault daher „einerseits, andere (durch mehr oder weniger strengen Zwang) zu lenken, und andererseits, sich (gut oder schlecht) aufzuführen, also sich in einem mehr oder weniger offenen Handlungsfeld zu verhalten. Machtausübung besteht darin, ‚Führung zu lenken‘, also Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit von Verhalten zu nehmen“ (ebd., S. 256).

Historisch habe sich die Gouvernementalität des modernen „Fürsorgestaats“, wie Foucault in seinem Vortrag Omnes et singulatim ausführt, den er 1979 an der Universität Stanford hielt (ebd., S. 188–219), aus dem Zusammenspiel der „politischen Macht“ des frühmodernen Staates mit „einer Macht, die wir ‚pastorale‘ Macht nennen können“, entfaltet. Letztere besteht für Foucault darin, „ständig über das Leben von allen und jedem zu wachen, ihnen zu helfen und ihr Los zu verbessern“ (ebd., S. 199). Gemeint sind damit „Machttechniken, die auf die Individuen ausgerichtet sind und den Zweck haben, sie kontinuierlich und permanent zu leiten. Wenn der Staat die politische Form einer zentralisierten und zentralisierenden Macht ist, können wir die individualisierende Macht das Pastorat nennen“ (ebd., S. 190). In seinem Vortrag – und mehr noch in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität am Collège de France in den Jahren 1977–1979 (2004a, b) – verfolgt Foucault die historische Entwicklung dieses Pastorats bzw. der Pastoralmacht bis weit in die Antike zurück. Den Ursprung dieser Machtform verortet er in den Herrschaftsmetaphern und -semantiken des alten Ägypten, denn der Pharao, so Foucault, habe sich selbst als „Hirte“ seiner Untertanen verstanden. Über das antike Judentum habe das pastorale Machtkonzept schließlich Eingang ins Christentum gefunden. Das Pastorat ist für Foucault dabei vor allem durch vier Elemente gekennzeichnet: „Der Hirte übt seine Macht eher über eine Herde als über ein Land aus“ (1); „Der Hirte sammelt, führt und leitet seine Herde“ (2); „Die Rolle des Hirten besteht darin, das Heil seiner Herde sicherzustellen“ (3); „Was immer der Hirte tut, er tut es zum Wohl seiner Herde. Das ist seine beständige Sorge“ (4) (2005, S. 192–194). Mit anderen Worten: Die pastorale Macht ist nicht an ein Territorium gebunden; sie ist nicht nur verwaltend, sondern anleitend, auf ein Ziel hin gerichtet und in beständiger Sorge um jedes einzelne Mitglied der „Herde“. Im Christentum habe dieses Modell des Pastorats im Verhältnis von Priestern und Laien seinen institutionellen Ausdruck gefunden und über spezifische Machttechniken – insbesondere über die Gewissensprüfung und die Leitung des Gewissens (ebd., S. 202) – entscheidend auf die Konstituierung des modernen Subjekts Einfluss genommen.

Einige Jahre später – in einem zuerst 1982 auf Englisch veröffentlichten Beitrag mit dem Titel „Subjekt und Macht“ (ebd., S. 240–263) – greift Foucault das Konzept der „Pastoralmacht“ erneut auf und definiert sie wie folgt: „Diese Form von Macht ist auf das Seelenheil ausgerichtet (im Unterschied zur politischen Macht). Sie ist opferbereit (im Unterschied zum Herrschaftsprinzip), und sie individualisiert (im Unterschied zur richterlichen Macht). Sie ist koextensiv mit dem Leben und dessen Fortsetzung nach dem Tod. Sie ist mit der Erzeugung von Wahrheit verbunden, und zwar die Wahrheit des Einzelnen“ (ebd., S. 248). Foucault ist sich bewusst, dass die Techniken des christlichen Pastorats im Laufe der Jahrhunderte „ihre Kraft eingebüßt“ haben (ebd.), zugleich geht er jedoch davon aus, dass zentrale Elemente der Pastoralmacht in den modernen Staat eingegangen sind und sich insofern auch in der Moderne erhalten haben: Gerade der moderne Fürsorgestaat, der sich die „Gesundheit“ und das „Wohlergehen“ seiner Bürgerinnen und Bürger zum Ziel gesetzt habe, trage Züge einer „neuen Pastoralmacht“ (ebd.), die es auf die Führung zur Selbstführung der Individuen abgesehen habe: „In der Folge breitete sich die Pastoralmacht, die über Jahrhunderte, ja über mehr als ein Jahrtausend mit einer ganz bestimmten religiösen Institution verbunden gewesen war, auf die gesamte Gesellschaft aus und stützte sich auf eine ganze Reihe von Institutionen. Statt einer mehr oder weniger deutlichen Trennung und eines Rivalitätsverhältnisses zwischen Pastoralmacht und politischer Macht entwickelte sich eine ‚Taktik‘ der Individualisierung, die für diverse Machtformen typisch war, für die der Familie, der Medizin, der Psychiatrie, des Bildungswesens, der Arbeitgeber usw.“ (ebd., S. 249).

Hinter Foucaults historischer Genealogie des modernen Subjekts verbirgt sich somit eine Art rudimentäre Säkularisierungstheorie, die durchaus an die Tradition Max Webers anknüpfen kann. So wie dieser nach den Konsequenzen der Religion für die Lebensführung der Individuen fragte und die Entstehung des modernen Kapitalismus auf ein christliches Askese-Ideal zurückführte, so bestimmt Foucault das moderne Subjekt und seine Individualisierungspraktiken als Resultat einer spezifisch altorientalisch-christlichen Führungstechnik, die sich als ausgesprochen kompatibel mit modernen staatlichen und ökonomischen Ansprüchen erweist.

Religion erscheint beim späten Foucault aber nicht nur als „Pastoralmacht“ und damit als ein letztlich repressives Dispositiv der Menschenführung. In seinen ursprünglich für eine italienische Zeitung verfassten Reportagen über die iranische Revolution 1978/1979 zeigte er sich vielmehr durchaus sensibel für die revolutionäre, systemsprengende Macht religiöser Ergriffenheit. In einer Replik auf Kritiker, die ihm eine unkritische, romantisierende Sicht auf die islamische Revolution vorgeworfen hatten, hielt Foucault daran fest, dass die „Spiritualität“ der gläubigen schiitischen Revolutionäre an der Basis nicht mit der Herrschaft eines „integralistischen Klerus“ gleichzusetzen sei (ebd., S. 177): „Ihren Hunger, ihre Demütigungen, ihren Hass auf das Regime und ihren Willen, es zu stürzen, verlegten sie an die Grenzen zwischen Himmel und Erde, in eine erträumte Geschichte, die gleichermaßen religiösen und politischen Charakter besaß“ (ebd., S. 176). Auch wenn Foucault seine Gedanken zur politischen Spiritualität nicht ähnlich konzentriert ausgearbeitet hat wie sein Konzept der Pastoralmacht, zeigen diese doch deutlich, dass er die Macht der Religion keineswegs nur als repressiv eingeschätzt, sondern auch ihre utopische Kraft gesehen hat.

3 Einordnung in das Fachgebiet, Rezeption und Würdigung

Das methodische Potenzial des Spätwerks Foucaults ist bislang noch kaum in den Horizont religionssoziologischer und -historischer Forschung getreten. Während der Begriff der „Gouvernementalität“ inzwischen breit rezipiert wurde und sich vor allem im anglo-amerikanischen Sprachraum die „Governmentality Studies“ als eigenständiges sozialwissenschaftliches und politologisches Forschungsfeld etabliert haben (Burchell et al. 1991; Dean 2010; Lemke 1997; Bröckling et al. 2000; Krasmann und Volkmer 2007; Bröckling 2017), sind vergleichbare Rezeptionsschübe des Konzepts der „Pastoralmacht“ bislang ausgeblieben.Footnote 1 Allerdings finden sich inzwischen erste Arbeiten, die gerade hier anschließen und das Spätwerk Foucaults für die allgemeine Religionsforschung nutzbar zu machen versuchen (Carrette 2013; Golder 2007; Große Kracht 2006, 2011; Mayes 2010). Erwähnt werden sollte zudem, dass das Konzept der „Pastoralmacht“ bereits früh das Interesse von Theologen gefunden hat, insbesondere im Hinblick auf eine Selbstkritik klerikaler Macht (Steinkamp 1999, 2015). Inwieweit sich das Konzept der „Pastoralmacht“, das Foucault aus der jüdisch-christlichen Religionsgeschichte entwickelt hat, auf andere Religionen übertragen lässt, bleibt hingegen eine offene Frage, die zu weiterführender Forschung anregen sollte. Als eine Art deutschsprachiger Foucault-Reader bietet die Textsammlung Analytik der Macht somit noch durchaus unausgeschöpfte Impulse zur interdisziplinären Erforschung des Verhältnisses von Religion und Macht in globaler Perspektive.