3.1 – Weltoffenheit

In der näheren Bestimmung, was der Geist ist, geht Scheler zunächst auf die Art von Wissen ein, die nur der Geist erlangen kann. Und zwar ist er „existenziell vom Organischen [entbunden][1] und das heißt, dass er weltoffen ist. Scheler versteht unter Weltoffenheit die Freiheit von allen Zwängen, die einem Wesen durch seine psychophysische Konstitution auferlegt werden:

Ein „geistiges“ Wesen ist also nicht mehr trieb- und umweltgebunden, sondern „umweltfrei“ und […] „weltoffen“: Ein solches Wesen hat „Welt“. Ein solches Wesen vermag ferner die auch ihm ursprünglich gegebenen „Widerstands-„ und Reaktionszentren seiner Umwelt, die das Tier allein hat und in die es ekstatisch aufgeht, zu „Gegenständen“ zu erheben und das Sosein dieser Gegenstände prinzipiell selbst zu erfassen, ohne die Beschränkung, die diese Gegenstandswelt oder ihre Gegebenheit durch das vitale Triebsystem und die ihm vorgelagerte Sinnesfunktionen und Sinnesorgane erfährt.
Geist ist daher Sachlichkeit, Bestimmbarkeit durch das Sosein von Sachen selbst.[2]

Offensichtlich ist der Geist eine Instanz, die den Menschen dazu befähigt, von einer ausschließlich auf ihn selbst bezogenen Wahrnehmung der „Umwelt“ zu abstrahieren und das, was er von der „Welt“ erlebt, als prinzipiell von ihm selbst unabhängig zu denken. Während das Tier alles, was es wahrnimmt, auf sich und seine Bedürfnisse bezieht[3], ohne zu wissen, dass es dies tut, ist die Welt für den Menschen mit „Gegenständen“ gefüllt, die ein eigenes Wesen haben. Scheler nennt zwei Formeln, die den Unterschied zwischen dem von der Umwelt determinierten Verhalten des Tieres und dem weltoffenen des Menschen klarmachen sollen. Tierisches Verhalten läuft nach dem Schema „T ⇄ U“[4] ab, menschliches nach der Formel „M ⇄ W → → …“[5]. Tier und Umwelt stehen in einer Wechselwirkung, aus der es keinen Ausgang gibt. Das Tier erlebt die Umwelt gemäß seiner eigenen physiologisch-psychischen Beschaffenheit. Folgt es zum Beispiel einem Triebimpuls, verändert es dadurch die Umwelt und seine eigene Beschaffenheit gleich mit. Beim Menschen als Geisteswesen liegt kein geschlossener Verhaltenskreislauf vor, denn sein Verhalten wird durch das

pure Sosein eines zum Gegenstand erhobenen Anschauungs- oder Vorstellungskomplexes „motiviert“, und dies prinzipiell unabhängig von der physiologischen und psychischen Zuständlichkeit des menschlichen Organismus, unabhängig von seinen Triebimpulsen und der gerade in ihnen aufleuchtenden […] Außenseite der Umwelt.[6]

Nachdem der Mensch unabhängig von seiner psychophysischen Natur zu einem Verhalten motiviert worden ist, kann er entweder einen Triebimpuls hemmen oder enthemmen. Dieser Akt geht aus von der Person, nicht von der Psyche, und ist frei. Dem sich durch die Einwirkung auf die Welt verändernden Gegenstand wird Unabhängigkeit vom eigenen Sein zugeschrieben. Die Welt ist also offen in dem Sinne, dass sie autonom existiert und in ihrer Beschaffenheit und ihrer Veränderlichkeit nicht vom sie betrachtenden Wesen abhängt.

Scheler fährt wie folgt fort:

Der geistige Akt […] ist im Gegensatz zu der einfachen Rückmeldung der tierischen Leibschemas und seiner Inhalte wesensgebunden an eine zweite Dimension und Stufe des Reflexaktes. Wir wollen diesen Akt „Sammlung“ nennen und ihn und sein Ziel, das Ziel des „Sichsammelns“, zusammenfassend „Bewußtsein des geistigen Aktzentrums von sich selbst“ oder „Selbstbewußtsein“ nennen. […]
Sammlung, Selbstbewußtsein, und Gegenstandsfähigkeit des ursprünglichen Triebwiderstandes bilden eine einzige unzerreißbare Struktur, die als solche erst dem Menschen eigen ist.
Mit diesem Selbstbewußtwerden, dieser neuen Zurückbeugung und Zentrierung seiner Existenz […] ist auch das zweite Wesensmerkmal des Menschen gegeben. Kraft seines Geistes vermag das Wesen, das wir „Mensch“ nennen, nicht nur die Umwelt in die Dimension des Weltseins zu erweitern und Widerstände gegenständlich zu machen, sondern es vermag auch […] seine eigene physiologische und psychische Beschaffenheit und jedes einzelne psychische Erlebnis, jede einzelne seiner vitalen Funktionen selbst wieder gegenständlich zu machen. Nur darum vermag dieses Wesen auch sein Leben frei von sich zu werfen.[7]


[1] Ebd.

[2] S. 38 f.

[3] „Beim Tiere – ob hoch oder niedriger organisiert – geht jede Handlung, jede Reaktion, die es vollzieht, auch die ‚intelligente‘, aus von einer physiologischen Zuständlichkeit seines Nervensystems, der auf der psychischen Seite Instinkte, Triebimpulse und sinnliche Wahrnehmungen zugeordnet sind. Was für die Instinkte und Triebe nicht interessant ist, ist auch nicht gegeben, und was gegeben ist, ist dem Tier gegeben nur als Widerstandszentrum für sein Verlangen und Verabscheuen […].“ [S. 39.]

[4] S. 40.

[5] Ebd.

[6] Ebd.

[7] S. 41 f.

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