Amerikas geliebtes Versprechen
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Amerikas geliebtes Versprechen

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Das New Yorker East Village 1967. Zur Zeit Ronald Reagans entwickelte sich das Viertel zum liberalen Gegenentwurf des properen neoliberalen Amerikas. dpa
Das New Yorker East Village 1967. Zur Zeit Ronald Reagans entwickelte sich das Viertel zum liberalen Gegenentwurf des properen neoliberalen Amerikas. © picture alliance / AP

Trotz Donald Trump, Rollback und rassistischer Strukturen – die amerikanische Idee der unbegrenzten Freiheit, sich selbst zu verwirklichen, fasziniert unseren Autor noch immer. Ein persönlicher Essay.

Der Sommer des Jahres 1988, daran erinnere ich mich gut, war glühend heiß in Neuengland. Es war das erste Mal, dass ich nicht als Tourist in die USA reiste. Ich studierte damals Amerikanistik in Frankfurt am Main und hatte ein Stipendium ergattert, dass es mir erlaubte, bei einem US-Verlag ein Praktikum zu absolvieren. Und so stellte ich mich aufgeregt und durchgeschwitzt mit steifem Hemdkragen beim „Boston Magazine“ an der Massachusetts Avenue vor.

Ich wurde als Rechercheur einem Redakteur zugeteilt, keine schlechte Aufgabe für einen Praktikanten. Und doch begann mich die Arbeit bei dem Hochglanzmagazin für Bostoner Yuppies schnell zu frustrieren. Ich hatte weder das Gefühl, journalistisch viel zu lernen, noch Einblicke in die amerikanische Kultur zu bekommen, die mir ein tieferes Verständnis für das Land ermöglicht hätten. Mein Interesse an den Machenschaften der Bostoner Society war begrenzt.

So wechselte ich nach wenigen Wochen zu einem kleinen politischen Buchverlag, nur wenige Straßen von der Magazinredaktion entfernt im Bostoner South End gelegen. Der Verlag im Kellergeschoss eines Brownstone-Hauses hatte einen eindeutig konspirativen Charakter im Amerika Ronald Reagans. Er verlegte investigative Bücher über die Rolle der CIA in Nicaragua, über die Infiltration der schwarzen Bürgerrechtsbewegung durch das FBI und die Unterdrückung des Kampfes Indigener durch die US-Regierung. Und er druckte einflussreiche linke Autor:innen wie Noam Chomsky und Bell Hooks.

Die Saat der „Make America Great Again“-Bewegung war gesät

Hier fühlte ich mich deutlich näher dran an dem, was das Land wirklich bewegte. Die USA waren seit den 1960er Jahren in einen Kampf mit sich selbst verstrickt, der bis heute nicht zu Ende ist. Der vermeintlich große gesellschaftliche Konsens der Nachkriegszeit war schon lange zerbrochen. Der Mythos des US-amerikanischen Imperiums als uneingeschränkter Kraft des Guten in der Welt hatte sich angesichts der Bürgerrechtsbewegung und der Proteste gegen Vietnam ins Nichts aufgelöst. Und auch wenn sich die offenen Auseinandersetzungen nach den 1960er Jahren beruhigt hatten, versuchte die Linke weiterhin den Finger auf die Wunde zu legen. Die konservative Rechte Amerikas hingegen wollte sich wieder unkritisch gut fühlen. Die Saat der „Make America Great Again“-Bewegung war gesät.

So waren auch wir als deutsche Studierende schon lange keine naiven Anhänger:innen des amerikanischen Traums mehr. Nicht alles an den USA war Glanz und Verheißung. Wer in den 1970er Jahren in der Bundesrepublik groß geworden war, dem hallte die Kritik am amerikanischen Imperialismus und am tiefsitzenden Rassismus der US- Gesellschaft nur allzu deutlich in den Ohren. Den Besuch von Angela Davis, der Ikone der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung, an der Frankfurter Universität hatten wir zwar nicht mehr erlebt; die Erinnerung daran lag aber trotzdem noch in der Luft.

Und doch hatte Amerika für die letzten Jahrgänge der Boomer-Generation noch immer eine starke Zugkraft. Gerade, wenn man aus dem westdeutschen Mief der 1970er Jahre kam, barg das Land trotz allem noch immer das Versprechen von Freiheit und Unbeschwertheit – von der Möglichkeit, anders zu sein und anders zu leben.

Andy Warhol und Jean-Michel Basquiat hatten im East Village gelebt

Das Versprechen erneuerte sich für mich damals bei meinen Wochenendausflügen von Boston nach New York. Wie die meisten jungen Menschen zog es mich in das East Village, das einstige ukrainisch- polnische sowie puertorikanische Einwandererviertel im Südosten Manhattans, das sich seit den 1950er Jahren die amerikanische Gegenkultur zum nationalen Hauptquartier auserkoren hatte. Dort hatten der Bebop und die Beat-Bewegung ihren Ursprung, Andy Warhol und Jean-Michel Basquiat hatten dort gelebt, gefeiert und Kunst geschaffen. Im East Village war der Punk entstanden, und der freie Geist der New Yorker Bohème wehte Ende der 1980er Jahre noch immer durch die Straßen.

Das East Village war der Gegenentwurf zum properen neoliberalen Amerika Reagans. In diesem Viertel wurden andere Lebensweisen, andere Identitäten ausprobiert, während sich gleichzeitig auf der Höhe der Aids-Krise der politische Widerstand gegen Washington formierte. Das East Village war, wie es der queere Schriftsteller Jeremiah Moss, der auf den Spuren der Beat-Poeten dorthin zog, formulierte, der Ort für alle in Amerika, die nirgends sonst hineinpassten. Und so hatte auch ich dort das Gefühl, mich neu erfinden zu können.

Zwei Semester später war ich an der New York University immatrikuliert und bezog im East Village für 300 Dollar im Monat eine Wohnung. Ich war, wie so viele vor mir und nach mir, dem Urversprechen Amerikas gefolgt. Schon im Handelsposten New Amsterdam, lange vor der Gründung New Yorks oder gar der Vereinigten Staaten, galt, wie der Historiker James Sanders einmal gesagt hatte: dass es vollkommen gleichgültig war, wer man ist, wo man herkommt und welche Sitten und Gebräuche man zu Hause pflegt. Jeder machte mit jedem Geschäfte, so lange er oder sie sich an die Regeln halten.

Selbst Barack Obama gibt zu, Momente des Zweifels zu haben

Das Versprechen steht bis heute im Raum, auch wenn es immer noch für viele nicht eingelöst worden ist. Das amerikanische Gemeinwesen ist, zumindest theoretisch, neutral. Jeder hat im Privaten die unbegrenzte Freiheit zur Selbstverwirklichung. Die gesellschaftlichen Regeln und Gesetze sind dazu da, allen dafür die gleichen Voraussetzungen zu gewähren. Der Staatstheoretiker John Rawls nennt das „Justice as Fairness“. Gerechtigkeit ist die Sicherung gleicher Ausgangsbedingungen unabhängig von der Identität.

Es ist auch das Versprechen einer hierarchiefreien Kultur, einer Kultur ohne Leitgedanken. Jede Gruppe trägt das Ihre zum Ganzen bei, das ein sich fortwährend veränderndes, wunderbar buntes Gebilde ist. Und die Utopie funktioniert – wenn auch alles andere reibungslos. Die Tatsache, dass so vieles, was wir heute als amerikanische Kultur begreifen, seinen Ursprung in der Kultur der am meisten benachteiligten Gruppe hat, der Afroamerikaner, legt davon Zeugnis ab.

Es ist derzeit nicht einfach, weiter an dieses Versprechen von Amerika zu glauben. Selbst Barack Obama, der unerschütterlich an das Modell der „more perfect union“ glaubt – der Fähigkeit Amerikas, mit jeder Generation der Verwirklichung seines Versprechens ein Stück näher zu kommen – gibt zu, Momente des Zweifels zu haben.

Die politischen Institutionen des Landes scheinen kaum mehr dazu im Stande zu sein, jene Rahmenbedingungen für die individuelle Freiheit zu schaffen, die sie gewährleisten sollen. Der von Trump bestellte Oberste Gerichtshof schränkt wichtige, vor Jahrzehnten errungene Bürgerrechte wie das Wahlrecht für Minderheiten und das Abtreibungsrecht wieder ein. Ein hoffnungslos gespaltener und korrupter Kongress übt sich vorwiegend in Machterhaltung. Ein veraltetes Wahlrecht aus dem 18. Jahrhundert begünstigt die immer wahrscheinlicher werdende Wiederwahl eines Kriminellen, der keinen Hehl daraus macht, die demokratischen Institutionen aushebeln zu wollen. Die Besetzung des gesamten Regierungsapparats mit loyalen Personen und die Instrumentalisierung des Justizministeriums hat er bereits unverhohlen und schamlos angekündigt.

Es hat das Land im Bürgerkrieg beinahe zerrissen

So geht es bei der Wahl im Herbst um alles. Beide Seiten haben, wie schon beim letzten Mal, einen Kampf um die Seele Amerikas angekündigt. Beide Seiten sind davon überzeugt, dass der Sieg der anderen das Ende Amerikas bedeutet.

Für europäische Ohren ist das ein eigenartiger Gedanke. Niemand würde bei einer Wahl in Deutschland behaupten, dass ein bestimmter Wahlausgang das Ende Deutschlands bedeuten könnte. Deutschland hat schließlich alleine im 20. Jahrhundert fünf Staatsformen überlebt. Doch Amerika ist mehr als eine geopolitische Tatsache, was alleine daran abzulesen ist, dass die Chiffre „Amerika“ mit den USA gleichgesetzt wird. Es gab vor der Unabhängigkeitserklärung keine USA und es hat seitdem nur ein einziges politisches System gegeben. Amerika ist vor allem eine Idee und als solche sterblich.

So ist es, so schicksalshaft auch der jetzige Scheideweg erscheinen mag, nichts Neues, dass es in Amerika um alles geht. Wie der Philosoph Stanley Cavell in seinen Meditationen über Amerika darlegte, war der interne Streit darüber, was Amerika ist und sein soll, bereits in der Gründung des Landes angelegt. Zwischen der Unabhängigkeitserklärung und der Unterzeichnung der Verfassung lagen 13 Jahre Streit darüber, wie die Verfassung aussehen soll. Ein Streit, der in all seiner Hässlichkeit und gleichzeitigen Komik herrlich in dem jüngsten Broadway Stück „1776“ dargestellt wird.

Für Cavell war dies nur der erste Akt eines Werdens, das zwangsläufig immer wieder von Zerreißproben begleitet wird und das noch lange nicht abgeschlossen ist und vielleicht auch nicht abschließbar sein wird. Das endlose Ringen um Einheit ist in gewissem Sinne der natürliche Daseinszustand des Landes. Es hat das Land im Bürgerkrieg beinahe zerrissen und in den Kämpfen um Bürgerrechte in den 1960er Jahren noch einmal.

Die große romantische Idee wird Amerika nicht kampflos aufgeben

Was an der konstitutiven Verunsicherung und inneren Uneinigkeit des Landes Mut macht, ist indes die Leidenschaft, mit der für die jeweilige Vision von Amerika gestritten wird. Das gilt sicherlich für die Trump-Anhänger:innen. Aber es gilt auch für diejenigen, die das Experiment von Amerika am Leben erhalten wollen, von dem Obama spricht und für das ich bis heute Gefühle hege. Das Experiment, einen Ort zu schaffen, an dem Menschen mit den unterschiedlichsten Prägungen, Hoffnungen und Wünschen zusammenkommen können, um für alle ein besseres Leben zu erreichen. Ein Experiment, das, wie Obama unterstreicht, nach wie vor ein Testfall für die Menschheit ist.

Die vergangenen drei Wahlen, die Zwischenwahlen 2018 und 2022 und die Wahl 2020 waren in dieser Hinsicht ermutigend. Die Menschen sind nicht nur in bislang noch nie dagewesener Zahl zur Wahlurne gegangen. Sie haben sich auch für Ämter auf allen Ebenen aufstellen lassen, selbst wenn sie keine politische Erfahrung hatten. Sie haben sich freiwillig gemeldet, um Wähler:innen zu registrieren und zu mobilisieren und Unterschriften für Kandidat:innen zu sammeln. Sie haben sich mit Leidenschaft für den Erhalt der Demokratie eingesetzt. Sie werden es auch diesmal tun, auch wenn keiner der beiden Kandidaten wirklichen Enthusiasmus entfacht. Denn es geht nicht um sie. Es geht darum, das große Versprechen von Amerika am Leben zu erhalten, die große romantische Idee. Und die wird Amerika nicht kampflos aufgeben.

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