You are currently viewing Matthias Brandt: Blackbird

Matthias Brandt: Blackbird

Blackbird singing in the dead of night
Take these broken wings and learn to fly
All your life
You were only waiting for this moment to arise


Blackbird singing in the dead of night
Take these sunken eyes and learn to see
All your life
You were only waiting for this moment to be free

Blackbird fly, blackbird fly
into the light of a dark black night.
(The Beatles)

Dass im Englischen die Amsel über das Federkleid des männlichen Vogels bezeichnet und die Braunfärbung der Weibchen ignoriert wird, ist schon eigenartig. Als würden allein die Männchen zur Art gehören. Bei Paul McCartney, dem im Grunde alleinigen Urheber von „Blackbird“, ist von dieser ‚genderunsensiblen‘ Worttradition nichts zu bemerken. Als er das Lied 1968 schrieb, war es eine musikalisch-literarische Reaktion auf die Rassenunruhen in den USA, und hinter der Amsel verbarg sich während der Arbeit an dem Song die Erinnerung an eine farbige Frau, die ihm im Rückgriff auf die Vogelart zum Symbol wurde, ohne Zweifel, wenn man auf den Text schaut, zum Symbol einer Hoffnung auf den aufrechten Gang, auf Freiheit und metaphorisch auf das Ende der langen dunklen Nacht.

McCartney verzichtete auf eine personale Konkretisierung und öffnete den Text für andere Assoziationen, auf andere politische wie auch biographische Zusammenhänge von Einzelpersonen, für die aber der gleiche hoffnungsvolle Horizont aufgemacht wird. Ein schönes Beispiel dafür, auf welche Weise sich die Intention des Textes verselbstständigen und von der Absicht seines Autors loslösen kann.

Für den Titel wie auch für die Handlung von Matthias Brandts erstem Roman Blackbird, der den Beatles-Bezug ausdrücklich markiert, ist diese Loslösung geradezu Voraussetzung, um einen Zusammenhang zwischen Liedtext und Romanhandlung begründen zu können. Denn ein an politische (Fehl-)Entwicklungen anknüpfendes Verweissystem, das den musikalischen und textlichen Ausdrucksabsichten McCartneys eingeschrieben ist, fehlt dem Roman nahezu völlig. Aber das muss so sein, sonst wäre der Weltbezug der Hauptfigur, des im Laufe des Romans 16 Jahre alt werdenden Morten Schumacher nicht stimmig.

Der Roman spielt in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre. Auf welche politischen und sozialen Entwicklungen, Verwerfungen, Krisen und Katastrophen könnte man nicht alles Bezug nehmen? Aber sie finden beinahe nicht statt, nur beinahe nicht, weil sie über die Musik, die Motte (wie der Junge von allen genannt wird) und seine Freunde hören, wie eine Art Hintergrundrauschen in deren Welt hineinragen. Wer Zeit und Lust hat, kann über Spotify (oder vielleicht auch andernorts) in die Playlist zum Roman hineinhören; das ist nicht uninteressant. Das Welthaltige aber, das die Musik zum Ausdruck bringt, bleibt dem Jugendlichen weithin unbewusst, weil die Welt, in der er ganz konkret lebt, aus den Fugen zu geraten droht.

In einem Punkt ist sie schon seit längst aus den Fugen geraten. Die Ehe von Mottes Eltern ist seit Jahren eine Farce, sie leben lieblos nebeneinander her und haben sich nichts mehr zu sagen. Zu Beginn des Romans sind die Umzugskartons des Vaters gepackt; er zieht mit seiner Freundin zusammen. Motte selbst bleibt bei seiner Mutter, aber auch sie werden bald das Eigenheim durch eine Mietwohnung ersetzen. Es ist schon fast eine klassisch zu nennende Trennungssituation, etwas, was die meisten kennen oder zu kennen meinen, woher auch immer. Was erstaunt und was diese Situation vor einer dann fast schon trivialen Stereotypisierung bewahrt, ist der Umstand, dass sie von dem Jungen mit schonungsloser Offenheit und mit einem fast schon sezierenden Blick wahrgenommen wird. Die Trennung der Eltern erscheint dem Ich-Erzähler nicht als Katastrophe, sondern als das Ende eines familiären Dilemmas, das keine anderen Ausweg mehr möglich machte.

Motte ist kein sozial verwahrlostes Kind, aber doch ein Junge, der in seinem Bemühen, sich in der Welt zu orientieren, sehr auf sich alleine gestellt ist. Das ist er fast bis zum Ende des Romans, obwohl er einen engen, vor allem durch die Schule verbundenen Freundeskreis hat, den man im Soziologensprech wahrscheinlich als „peer group“ bezeichnen würde.

Eine enge und Motte auch Halt gebende Freundschaft verbindet ihn mit dem gleichaltrigen Manfred Schnellstieg, den alle Bogi nennen. Die Romanhandlung beginnt, vom bevorstehenden Umzug des Vaters abgesehen, mit der furchtbaren Nachricht, dass Bogi an eine Form des Non-Hodgkin-Lymphoms, also an Lymphdrüsenkrebs erkrankt sei. Die Krankheit verunsichert Motte zutieft. Dass sie für den Freund lebensbedrohlich ist, sickert zwar nur langsam in sein Bewusstsein ein. Umso deutlicher aber erfährt er, dass dessen langer Krankenhausaufenthalt die Beziehung zwischen den beiden verändert und ihre Alltagsschnittmengen kleiner werden lässt. Motte muss sich viel mehr als zuvor ohne rechten Ansprechpartner zurecht finden und hat gleichzeitig ein schlechtes Gewissen, dass er sich nicht stark genug um seinen Freund kümmere. Aber sein Alltag absorbiert in immer größerem Maße seine Energie.

Als wäre der für einen knapp Sechzehnjährigen noch nicht kompliziert genug, wird er nicht einfacher, als sich Motte in Jacqueline Schmiedebach vom städtischen Nachbargymnasium verliebt. Die erste (und einzige) Verabredung mit dem Mädchen scheitert krachend, wird vom Ich-Erzähler mit viel Selbstironie und Sinn für das Komische der ganzen Begegnung erzählt und bleibt dennoch ziemlich traurig.

Bogis Erkrankung und das Debakel um seine erste Liebe lassen Motte ziemlich orientierungslos zurück. In seiner Zeit und in seiner Sprache könnte man wohl behaupten, er eiere herum. Als seine Hilflosigkeit und Traurigkeit schließlich unerträglich geworden sind, findet er sich nächtens auf dem 10-Meter-Turm des städtischen Freibads wieder und gerät in ein fast schon philosophisches Gespräch mit dem Schwimmmeister, der ihn dort entdeckt.

Diese Szene mag man gerne als Höhepunkt des Romans wahrnehmen, in den alle Entwicklungsstränge des Romans hineinkulminieren. Aber zu Ende ist er damit nicht. Ohne dass ihm etwas an Traurigkeit genommen wird, entsteht schließlich eine Schwebe, die Motte auch wieder auffängt. Sie entsteht, weil er schließlich doch zur rechten Zeit die richtigen Menschen um sich hat. Am Ende kommt, was im Beatles-Song entworfen wird: „the light at the end of a dark black light“.

Das ist nicht kitschig, das ist nicht trivial. Davor bewahrt der souveräne Erzählstil Matthias Brandts, der ein feines sprachliches Gespür dafür hat, wann eine Erzählsituation perspektivisch aufgebrochen werden muss, um sie nicht in die Kitsch- oder Trivialitätsfalle hineinlaufen zu lassen.

Dieses sprachliche Feingefühl im Umgang mit den seelischen Erschütterungen des Pubertierenden macht Blackbird in der Tat vergleichbar mit Wolfgang Herrndorfs Bestseller „Tschick“, wie ein Literaturkritiker meinte. Aber damit erschöpfen sich die Vergleiche. Motte ist im Gegensatz zu Maik, dem Ich-Erzähler in „Tschick“, keineswegs wohlstandsverwahrlost, es gibt keine Figur im Umkreis unseres Protagonisten, die sich wie Tschick selbst am Rande des Sozialen bewegt. Es bedarf auch keines Roadtrips, der die Irritationen der Jugendlichen in ziellose Bewegung überführt. Nein, das Bürgerliche wird nicht aufgebrochen, die sozialen Netze erweisen sich, so porös zu werden drohen, als belastbar. Das macht Blackbird im Vergleich zum berühmten Vorgänger weniger anarchisch, aber eindringlicher und überzeugender.


Matthias Brandt: Blackbird. Roman. – Köln: Verlag Kiepenheuer & Witsch 2019.

Vorlage für das Beitragsbild von 4711018 auf Pixabay