Das Interview führte Claudia Detsch.

Unter Lobbyismus stellt man sich gemeinhin Hinterzimmergeschacher finanzstarker Konzerne oder Verbände vor. Warum werden Lobby-Tätigkeiten nicht generell untersagt?

In Deutschland hat Lobbyismus einen ganz schlechten Ruf. Das liegt daran, dass zu wenig Transparenz herrscht. Von den Regierenden wurde zu wenig getan, um das zu ändern. In unserer komplexen Gesellschaft würden wir ohne Lobbyismus gar nicht auskommen. Auch Transparency Deutschland ist eine Lobby-Organisation. Auch wir wollen, dass unsere Argumente gehört werden im Gesetzgebungsprozess und bei Entscheidungen der Exekutive oder Legislative. Das gilt genauso für die Industrie und für Verbände. Es ist Teil der demokratischen Gesellschaft, dass jede und jeder eigene Interessen einbringen kann.

Abgeordnete argumentieren, das Eintreten für lokale Unternehmen in ihrem Wahlkreis zähle zu ihren ureigenen Aufgaben. Sie sagen: Lobbyismus als Mandatsträger, das geht nicht. Wo ist die Grenze zu ziehen?

Wo man eine Provision dafür bekommt, eine Tür geöffnet zu haben, ist die Schwelle übertreten. Das ist für Abgeordnete nicht machbar. Es gibt Lobby-Organisationen, deren Berufsfeld das ist. Da weiß jeder: Jetzt kommt der Vertreter und setzt sich beispielsweise für die Pharmaindustrie ein. Dafür bekommt er ein Entgelt. Das ist sein Job. Ein Abgeordneter aber hat nur deswegen Zugang, weil er Abgeordneter ist und weil manchmal zudem parteipolitische Nähe besteht. Das ist ein Ausnutzen eines Amtes zu privaten Zwecken. Für uns ist Korruption Missbrauch anvertrauter Macht zu privatem Vorteil. Deswegen sagen wir: Diese Form von Mandats-Lobbyismus, die sollte es nicht geben.

Ist es möglich, den Schaden in Fällen wie der aktuellen Maskenaffäre konkret zu erfassen – wirtschaftlich und politisch?

Am größten ist der Vertrauensschaden, der in unserer Gesellschaft angerichtet wird und der das gesamte demokratische System beschädigt. Diejenigen, die sich falsch verhalten, kratzen am Fundament unserer Demokratie. Dieser Schaden ist noch größer als der finanzielle Schaden, jedenfalls in den aktuellen Fällen.

Wie schätzen Sie die Entwicklung der vergangenen Jahre ein? Nimmt die Korruption zu?  

Wenn ich die letzten zwanzig Jahre zurückblicke, dann sind wir auf keinem guten Weg. Besonders bei der CDU/CSU hat man sich abgeschottet gegenüber der Forderung nach Transparenz. Jetzt kommen sie langsam in der Realität an. Die offene demokratische Gesellschaft setzt voraus, dass transparent wird, was getan wird.

Ich hoffe, das ist die Kehrseite dieser negativen Entwicklung. Dass gerade durch den Fall Amthor und jetzt durch die Maskenaffäre den Entscheiderinnen und Entscheidern in der Politik bewusst wird, welche Ausmaße das Problem hat und wie groß der Handlungsbedarf ist.   
In den zurückliegenden Jahren ist viel zu wenig geschehen. Ein Lobbyregister beispielsweise haben andere Länder längst. Wir fordern das seit über zehn Jahren, und es ging nicht voran. Ich kann nur hoffen, dass der jetzige Schock so tief sitzt, dass nicht alles in drei Monaten wieder vergessen ist.

Steigt die Sensibilisierung in der Öffentlichkeit?

Der aktuelle Fall ist wegen der Pandemie ganz besonders krass. Hier treffen die großen durch Pandemie und Lockdown entstandenen materiellen und psychologischen Probleme der Bevölkerung auf ein Denken, das nur der Vermehrung des eigenen Vermögens verpflichtet zu sein scheint. Diese Diskrepanz hat auch in der weiteren Bevölkerung einen Aha-Moment erzeugt. Wir hatten die Flick-Affäre. Wir hatten die Spendenaffären. Keine Partei ist davon ganz frei. Aber das war bisher immer eine sehr abstrakte Ebene. Der Einzelne hat‘s nicht gespürt im Portemonnaie, wenn Flick oder andere einer Partei Geld zukommen ließen und dafür möglicherweise Gegenleistungen geflossen sind. Heute spürt man das direkt. Deswegen haben wir im Moment diesen Schub nach vorne.

Ein verwandtes Thema sind die Nebeneinkünfte von Abgeordneten. Abgeordnete sind nur auf Zeit gewählt, sie müssen die Möglichkeit haben, später ihre Tätigkeit wieder aufzunehmen. Auch hier die Frage: Wo zieht man die Grenze? Ab wann wird es Ihrer Meinung nach unzulässig?

Auch da braucht es absolute Transparenz. Wes Brot ich ess', des Lied ich sing, dieser Satz passt auch hier. Dann kann der Wähler oder die Wählerin selbst überlegen: Will man jemanden im Parlament haben, der diese oder jene Nebentätigkeit ausübt? Es schlicht zu verbieten, ist dagegen sehr schwierig. Wir haben im Grundgesetz die Freiheit der Berufswahl verankert.

In England muss jeder Abgeordnete angeben, was er für jede Nebentätigkeit bekommt und welche Zeit er dafür aufgewandt hat. Dann wird deutlich: Ist der überhaupt Volksvertreter oder macht der hauptsächlich etwas anderes? Transparenz führt dazu, dass eine wache Gesellschaft – die natürlich auch durch die Medien wachgehalten wird – nachfragen kann. Wenn nicht bekannt ist, welche Nebentätigkeiten Abgeordnete haben und welche Einnahmen konkret fließen, dann bleibt alles im Dunkeln. Da müssen Licht und frische Luft rein.

Sie haben das Lobby-Register angesprochen, das beispielsweise von Transparency schon sehr lange gefordert wird. Mit Lobbyismus befasste Akteure werden darin aufgeführt. Die Koalition hat sich nach zähem Ringen kürzlich auf ein solches Lobby-Register geeinigt. Sie bemängeln aber, hier sei zu kurz gesprungen worden. Was fehlt denn?

Hier wurde in der Tat zu kurz gesprungen und zwar aus mehreren Gründen. So sind zu viele Ausnahmen vorgesehen – von Gewerkschaften über Arbeitgeberverbände bis hin zu den Kirchen. Sie sind nicht berücksichtigt. Und es fehlt bisher eine Kontrollinstanz, die die Einhaltung der neuen Regeln überprüft. Hierfür sollte es eine unabhängige Lobbybeauftragte geben, analog zum Bundesdatenschutzbeauftragten. Zudem ist der exekutive und legislative Fußabdruck nicht verankert, obwohl die SPD ihn gefordert hatte. Der legislative Fußabdruck legt offen, mit welchen Lobbyisten Abgeordnete oder Ministeriumsmitarbeiter während der Formulierung einer Gesetzesvorlage in Kontakt standen. Diese Frage ist ganz entscheidend.
Wenn man guten Lobbyismus betreibt, dann geht man auf die Fachebene in den Ministerien. Dort werden die wichtigen Vorlagen im Gesetzgebungsprozess erarbeitet. Der erste Aufschlag ist immens wichtig, er gibt die Richtung eines Gesetzes vor. Deswegen wäre es wichtig gewesen, die Transparenzbestimmungen bis auf die Fachebene auszuweiten.

Ministerin Lambrecht hatte das in ihrem Gesetzesentwurf drin. Das wollte die CDU jedoch nicht. Diese Frage wird aber ein Wahlkampfthema bleiben. Die Allianz für Lobby-Transparenz wird das weiter einfordern. Dort sind unterschiedlichste Organisationen vertreten wie der Bundesverband der Deutschen Industrie BDI, der Verband der Chemischen Industrie VCI, der Bundesverband der Verbraucherzentralen vzbv, der WWF und wir. Ein so breites Bündnis gibt es in unserer Gesellschaft ganz selten. Wir alle wollen Lobby-Transparenz über diesen Fußabdruck, da sollten sich die politischen Entscheidungsträger einmal bewegen.

Welches Interesse verfolgen Verbände wie der BDI mit einem solchen Engagement?

Ich vermute, es sind zwei Dinge. Einmal wird wohl ohnehin von der europäischen Ebene etwas in der Art kommen. Zudem erleben wir einen Zuwachs von kleineren Lobby-Organisationen und von Anwaltskanzleien, die teilweise diesen großen Verbänden das Wasser abgraben. Sie arbeiten häufig auch klandestiner. Bei den großen Verbänden und den Gewerkschaften weiß jeder, wofür sie stehen und dass sie Zugänge in die Politik haben. Anwaltskanzleien und Lobbyfirmen arbeiten dagegen häufig unter dieser Sichtbarkeitsschwelle und sind daher möglicherweise auch eine Konkurrenz.

Die Union hat diese Vorschläge zurückgewiesen mit der Begründung, das sei alles viel zu bürokratisch – in unserem ohnehin schon recht bürokratischen System ein durchaus starkes Argument.  

Das ist ein Totschlagargument, das gerne gebraucht wird. Aber das fordern wir gar nicht. Bis zu jeder Kaffeetasse, die man mal gemeinsam trinkt, sollte das tatsächlich nicht gehen. Es geht um die zentralen Positionen – wer hat sich mit welcher Position zu Wort gemeldet. Man kann in der Tat nicht jedes Mal eine Akte anlegen, wen jemand aus dem Ministerium bei einem Verband anruft und eine Detailfrage hat. Aber darum geht es nicht.  

Sie haben Großbritannien und die USA angesprochen. Gibt es weitere Länder, bei denen man sich Ihrer Ansicht nach etwas abschauen könnte?

Man kann im Hinblick auf Transparenz tatsächlich in die USA schauen, wenn auch nicht alle Vorgaben politisch eingehalten werden. Auch in Holland, in Frankreich und bei der EU ist man weiter als bei uns.

Mit Stand von März 2020 waren auf EU-Ebene über 12 000 Interessenverbände und fast 24 000 Vollzeit-Lobbyisten registriert. Das EU-Parlament führt derzeit intensive Debatten, wie mehr Transparenz zu erreichen ist. Stimmt dort die Richtung?

Lobby-Vorschriften gibt es im Unterschied zu uns auf EU-Ebene bereits. Die sind allerdings noch nicht weitgehend genug. Ich habe aber das Gefühl, dass in Brüssel mehr Offenheit für parteiübergreifende Debatten besteht. Im Moment wird im EU-Parlament diskutiert, ob man eine externe Ethik-Kommission einrichten sollte. Zwar haben die Konservativen gegenüber dem Ethik-Beirat Vorbehalte angemeldet, obwohl Frau von der Leyen ihn in ihrem Programm hatte. Aber es wird immerhin diskutiert. Dagegen sind solche Debatten bei uns in den letzten beiden Jahrzehnten schlicht nicht geführt worden.

Was erwarten Sie von der nächsten Koalition?

Ich wünsche mir, dass sie die Scheuklappen vor Transparenz verliert. Transparenz ist wie Sauerstoff im Aquarium, Licht in einem Dämmerbereich. Wir brauchen sie, um das Gefühl in der Gesellschaft zu stärken: Ja, das sind unsere Vertreter, sind Diener am Staat. Sie legen offen, was sie tun. Umgekehrt gilt aber auch: Die Medien und wir alle sollten mit Fehlern politischer Entscheidungsträger vielleicht etwas freundlicher umgehen. Denn Fehler passieren, gerade wenn Entscheidungen schnell und unter Druck zustande kommen. Das ist die Kehrseite der gleichen Medaille.