Die ehemalige �rztin Martha ist eine hilfsbereite �ltere Dame mit gro�em sozialen Gewissen und einem tiefen Schmerz. Der Jura-Student Tommy hat das Sorgerecht f�r seinen kleinen Bruder und verdient sich mit illegalen Mixed-Martial-Arts-K�mpfen ihren gemeinsamen Lebensunterhalt... Es sind schon sehr krasse Gegens�tze, die in „Martha & Tommy“ (NDR / Bavaria Fiction) aufeinanderprallen. Der Fernsehfilm erz�hlt von einer ungew�hnlichen Freundschaft, von zwei verwandten Seelen, die Hilfe brauchen, aber die beide die absolute Kontrolle �ber ihr Leben beanspruchen. F�uste knallen, Knochen knacken – und dann wieder t�nzeln die Finger filigran �ber die Klaviertasten. Denn Tommy hat das musikalische Talent seines ihm verhassten Vaters geerbt. Holger Karsten Schmidt hat ein interaktionsstarkes Charakter-Drama um zwei Trauma-Gebeutelte geschrieben und es knackig mit Genrefilm-Situationen aufgeladen. Regisseurin Petra K. Wagner hat daraus ein f�r den Zuschauer eindrucksvoll bebildertes Wechselbad der Gef�hle geschaffen. Jonathan Berlin und Senta Berger setzen die differenzierte Gef�hlspolitik ihrer Charaktere treffsicher um. Aber auch die Nebenrollen sind mit Kockisch und Lohmeyer als markante Schweiger exzellent besetzt.
Foto: NDR / Hansen & RaiberUngew�hnliche Begegnung. Freundschaft und immer auch ein St�ck weit Kampf. Jeder der beiden hat eine sehr spezielle Haltung, und sie brauchen lange, um auf die sch�tzende Fassade zu verzichten: um ehrlich miteinander zu sein. Berlin & Berger
Martha (Senta Berger) ist eine hilfsbereite Frau mit gro�em sozialen Gewissen. Die pensionierte �rztin, die jahrelang in Entwicklungsl�ndern unterwegs war, k�mmert sich heute liebevoll um die Kinder in ihrer Nachbarschaft. Als der alleinerziehende Tommy (Jonathan Berlin) mit seinem kleinen Bruder Winnie (Emile Ch�rif) in ihrem Mietshaus einzieht, hat die Frau bald alle H�nde voll zu tun. Das Kind ist pflegeleicht. Problematischer ist dagegen Tommy. Der studiert zwar Jura, treibt sich aber nachts durch die �belsten Kaschemmen, wo er sich mit illegalen Mixed-Martial-Arts-K�mpfen seinen Lebensunterhalt verdient. Und nun muss er auch noch den Kampf gegen seinen verhassten Vater (Peter Lohmeyer) aufnehmen: Der hatte im Affekt seine Frau, die Mutter der beiden Jungs, get�tet. Jetzt hat er seine Haftstrafe verb��t und will das Sorgerecht f�r Winnie zur�ck. Der ber�hmte Klaviervirtuose hat deutlich die besseren Karten. Es brodelt in Tommy. Mit einem lebensgef�hrlichen Kampf will er noch mal so richtig Kohle machen. Unterst�tzung findet er bei Max (Uwe Kockisch), dem Freund von Martha, der einen Boxclub in St. Pauli leitet. Doch dem jungen Mann w�chst bald die Situation �ber den Kopf. Und dann noch diese Frau, die viel zu nett ist, um wahr zu sein. Und tats�chlich: Martha ist alles andere als mit sich im Reinen. Sie hat vor f�nf Jahren ihre Tochter verloren und hadert noch immer mit dem Schicksal und ihrer m�glichen Schuld.
Foto: NDR / Hansen & RaiberMartha (Senta Berger) sucht sich einen Grabstein aus f�r ihre Tochter und f�r sich. Eine beil�ufige Szene des Films, die von Anfang an �ber der Handlung schwebt und erst sehr viel sp�ter expliziert wird („Ich wollte nicht mehr, ich konnte nicht mehr“).
Es sind schon sehr krasse Gegens�tze, die in dem ARD-Fernsehfilm „Martha & Tommy“ aufeinanderprallen. Hier das harmoniegeschw�ngerte Wohlf�hlambiente der �lteren Dame, dort die testosterongeladenen Fight-Clubs, in denen sich der Jungspund K�rper & Gesundheit ruiniert. Aber zwei Herzen schlagen auch in der Brust der beiden titelgebenden Charaktere. Tommy ist nicht der geborene Knochenbrecher; er ist nicht nur gut im Ring, sondern auch ein hochtalentierter Pianist, versucht jedoch alles, was ihn an seinen Vater erinnert, aus seinem Leben zu tilgen. „Er zertr�mmert alles, was er mit Ihnen verbindet“, sagt Martha zu Tommys Vater, der sich wenig beeindruckt zeigt. Von der Wut des Jungen hat sie auch schon eine Kostprobe bekommen, als sie ihm das Klavier ihrer Tochter schenken wollte. Statt sich zu bedanken, drischt er auf das Instrument ein: Weder will er es dem Vater recht machen, noch f�r die seelisch angeschlagene Frau der Tochterersatz sein. Und Martha? Die kennt Tommys eigenwillige Gewaltphilosophie als wahrhaftige Form von Kommunikation und sie wei� auch von seinen Aggressionen gegen den Vater, nichts aber vom Doppelleben als gnadenloser Haudrauf. Aber auch Martha hat ein Geheimnis, und sie sch�nt das Bild, das sich andere von ihr machen: Sie gibt sich stark, verdr�ngt den Schmerz, zeigt ihre Verletzungen nicht.
Foto: NDR / Hansen & RaiberDie Probleme mit dem gewaltt�tigen Vater hat Tommy (Jonathan Berlin) auf seine Weise gel�st: Er ist f�r Winnie (Emile Ch�rif) Bruder, Versorger und Vater zugleich.
„Einerseits sehnt Tommy sich nach der Wahrheit, nach Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit und auch danach, dass er sein eigenes Leben leben darf. Der Vater hat ihn als seinen Nachfolger pr�pariert, hatte Gro�es mit ihm vor. Aber Tommy hat irgendwann gemerkt, dass er ein selbstbestimmtes Leben f�hren m�chte. Noch h�ngt jedoch der Schatten des Vaters �ber ihm. Der Kampf, den er f�hrt, hat auch etwas Selbstzerst�rerisches ... Er zerkloppt sich buchst�blich die Finger und H�nde. Das Klavier ist der Inbegriff, die Repr�sentation seines Vaters, und am Ende muss er das trennen. Er muss seinen Vater �berwinden, dann kann er sich auch wieder ans Klavier setzen und spielen.“ (Holger Karsten Schmidt, Autor)
Foto: NDR / Hansen & RaiberEine Schl�sselszene. Der junge Mann will nicht so funktionieren, wie es die Frau, die anderen helfen m�chte, um den eigenen Schmerz nicht sp�ren zu m�ssen, gern h�tte. Jeder Schlag ist ein Hieb gegen seinen Vater. Martha indes dr�ckt die Sehnsucht nach ihrer Tochter aus, indem sie Dinge ber�hrt, die sie mit ihr verbindet. Berlin & Berger
„Martha und Tommy“ erz�hlt von einer ungew�hnlichen Freundschaft, von zwei verwandten Seelen, die beide Hilfe brauchen. Es ist eine Begegnung zweier Menschen, die die absolute Kontrolle �ber ihr Leben beanspruchen. Der Frau mit Erfahrung f�llt das leichter als dem jungen Mann ohne famili�ren Halt. Sch�n zu sehen, wie sich die beiden bei den ersten Zusammentreffen nicht aus der Deckung bewegen: Martha fragt offensiv, ihre Neugier l�sst auf ehrliches Interesse schlie�en, geh�rt aber gleichsam zu ihrer Strategie, sich um andere zu k�mmern, um (sich) von den eigenen Problemen abzulenken. Und Tommy blockt ab, wirkt misstrauisch, immer auch ein bisschen unsicher, versteht er doch zun�chst nicht, weshalb sich diese ihm v�llig fremde Frau st�ndig einmischt. Erst als er von Max in Marthas Geheimnis eingeweiht wird, versteht er, was diese Frau umtreibt. Gleich im n�chsten Bild darf Tommy darauf reagieren und seine Gef�hle rauslassen. Es folgt die bereits erw�hnte Szene mit dem Klavier, in der beide ihre Deckung aufgeben. Tommy nutzt die Situation und schl�gt zu. Selbst bei seinen martialischen Kampfsportabenden w�re dies ein unerlaubter Tiefschlag. Martha aber ist bei all ihrer Verdr�ngungskunst eine lebenskluge, durchaus selbstkritische Frau – und so zieht sie, nachdem sie ihre Wunden zur Gen�ge geleckt hat, ihren Freund Max zu Rate.�
Foto: NDR / Hansen & RaiberDas Harte (die Aggression) und das Weiche (das Sch�ngeistige) eint Vater und Sohn! Auch wenn es Tommy nicht wahrhaben will. Und sein Vater (Peter Lohmeyer) kommt schon gar nicht runter von seinem hohen Ross. Da kann auch Martha (Senta Berger) wenig bewirken. Sie widmet sich Tommys Problemem lieber als den eigenen (und warum hat wohl diese feine Dame keinen Spiegel �ber ihrem Waschbecken im Bad?)
„Ich glaube, beide sehen im anderen im Prinzip eine Art Spiegelbild, nur in unterschiedlicher Auspr�gung: Tommy k�mpft ums Loslassen und erkennt in Martha eine Weichheit, die ihm fehlt. Martha k�mpft ebenso, wird aber mit Tommys Direktheit und H�rte konfrontiert, die sie braucht, um das Verdr�ngen ihres Traumas zu beenden.“ (Jonathan Berlin)
„Wir haben uns mit einem visuellen Konzept, einem Farbkonzept und mit einem Musikkonzept an den zwei Welten orientiert. Auch bei der Ausstattung haben wir geschaut, was man machen kann, um einerseits die warme gesicherte Welt von Martha zu erz�hlen und andererseits diese kalte und raue Kampfwelt ... Die Gestaltung der K�mpfe muss man sich wie eine Choreographie vorstellen. Jeder Schlag sitzt, alles ist vorher genau durchdacht und vielfach geprobt. Letztendlich ist das �hnlich, wenn man mit T�nzern arbeitet und ein Ballett inszeniert. Jede Bewegung, jeden Umfaller k�nnen die K�mpfer jederzeit wiederholen, und sie k�nnen auch an jedem Punkt erneut in den Kampf einsteigen. Den Ablauf haben wir vor Ort, und auch mit Hilfe von Videos immer wieder in verschiedenen Stadien angeschaut, ver�ndert und verbessert.“ (Petra K. Wagner, Regisseurin)
Foto: NDR / Hansen & RaiberDie Mixed-Martial-Arts-K�mpfe im Film k�nnen sich sehen lassen. Jonathan Berlin
Drehbuchautor Holger Karsten Schmidt, der ein besonderes H�ndchen hat f�r coole Provinzkrimis wie „Nord bei Nordwest“ oder „Harter Brocken“ und f�r packende Thriller nach Fakten wie „Gladbeck“ oder „Mord in Eberswalde, zeigt in „Martha & Tommy“, dass er sich ebenso gut auch auf ein interaktionsstarkes Charakterdrama versteht. Der auf gehobene Genrekunst spezialisierte Autor erz�hlt die Geschichte von zwei Trauma-Gebeutelten, dem klavierspielenden Kampfsportler und dieser Gewalt verabscheuenden Mutter Teresa, konfliktgeladener und dramaturgisch knackiger, als es wahrscheinlich ein auf softe Beziehungsdramen spezialisierter Drehbuchautor tun w�rde. Das bringt daf�r eine Menge mehr an (emotionaler) Spannung ins Spiel und �ffnet gleichzeitig ungeahnte Subtexte. Das Harte und das Weiche m�ssen sich nicht ausschlie�en; das spiegelt sich besonders in der Figur Tommy, dem Fighter, der immer auch innere K�mpfe auszufechten scheint. Martha, erfahrener im Umgang mit Verdr�ngungs- und �berlebensstrategien, ist da weniger leicht zu durchschauen: Sie gleicht einen tiefen Verlust, kombiniert mit einem Gef�hl der Schuld, damit aus, dass sie anderen etwas gibt. Sie tut es, um den Erinnerungen auszuweichen. Tommy k�nnte ihren Schmerz lindern. Aber er �bernimmt die ihm zugedachte Rolle nicht. Er zwingt Martha vielmehr dazu, sich ihrem Problem zu stellen. Die Psychologie wirkt ebenso stimmig wie das dynamische Interaktionsspiel der Hauptcharaktere, aber auch die Nebenfiguren werden klug in die Handlung integriert. Die Begegnung der beiden l�sst sich auch als Kampf lesen: ein Kampf der Generationen, der Geschlechter, der Lebensstile, der Haltungen.
Foto: NDR / Hansen & RaiberDer gute Mensch Martha begibt sich in die Niederungen eines Fight-Clubs. Au�er Tiefschl�gen und Angriffe auf die Augen ist hier alles erlaubt. Psychologie vor Kintopp: Anders als es im Drehbuch stand, verzichtete Senta Bergers Figur im Film darauf, Tommy anzufeuern. Also muss Boxtrainer und Marthas Freund Max (Uwe Kockisch) den Jungen motivieren: "Dein Vater ist hier; er hat gegen dich gewettet."
F�uste knallen, Knochen knacken – und dann wieder t�nzeln die Finger filigran �ber die Klaviertasten. Da tobt Tommy ausgelassen mit seinem Bruder, w�hrend er im Gegenschnitt als Fighter gezeigt wird. Und gegen Ende des Films geht der m�nnliche Held noch mal richtig in die Vollen, h�mmert wie einst Brad Pitt in „Fight Club“ auf seinen barbarischen Gegner ein, um dann in der n�chsten Szene von der Frau, die solche Gewaltexzesse abartig findet, liebevoll verarztet zu werden. Die K�mpfe und der Wunsch, vieles von dieser Gewalt selbst abzubekommen, lassen sich als eine Art „Verhaltenstherapie“ gegen den aggressiven Vater verstehen: „Dadurch, dass Tommy die Gewalt eindeutig kanalisiert, beugt er gerade dem vor, so zu werden wie sein Vater“, sagt denn auch sein Darsteller Jonathan Berlin („Kruso“). Das geschundene Gesicht als die sichtbare Abkehr vom Vater. Alle diese gegens�tzlichsten Stimmungen vermitteln sich in dem Fernsehfilm von Petra K. Wagner („Der Duft von Holunder“ / „Tatort – Die Guten und die B�sen“) immer auch in sehr eindrucksvollen Bildern, die den Zuschauer in ein Wechselbad der Gef�hle sto�en. Die Schauspieler dagegen – wenn Tommy nicht gerade k�mpft oder ausrastet – tauchen den Zuschauer eher sanft und nachdenklich in dieses Bad. Auch wenn sich da bisweilen ein bisschen viel von der deutschen Innerlichkeit auf die Bilder legt, der Himmel in der Schlussszene nat�rlich weinen muss und es an anderer Stelle den einen oder anderen Regentropfen an der Fensterscheibe zu viel gibt, die differenzierte Gef�hlspolitik ihrer Charaktere setzen Jonathan Berlin und Senta Berger treffsicher um: sich so lange wie m�glich bedeckt halten und sich erst recht nicht selbst analysieren. Beim anderen kann das jeder sehr viel besser. (Text-Stand: 24.1.2021)
Foto: NDR / Hansen & RaiberDie Haltungen sind grundverschieden zwischen Martha (Senta Berger) und Tommy (Jonathan Berlin) „Gewalt bringt einen nicht weiter“ vs. „Mit Gewalt l�sst sich so gut wie alles l�sen“. Trotzdem verstehen sich die beiden – und k�nnen Freunde sein.
Rainer Tittelbach arbeitet als TV-Kritiker & Medienjournalist. Er war 25 Jahre Grimme-Juror, ist FSF-Pr�fer und betreibt seit 2009 tittelbach.tv. Mehr
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