„Sterben“ mit Lars Eidinger neu im Kino
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„Sterben“ mit Lars Eidinger neu im Kino

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Mutter, Sohn und Schwester - der Film ist eine epische schwarze Komödie über die Zerrüttung einer Familie. Warum „Sterben“ ganz nah an der deutschen Wirklichkeit ist ...
Veröffentlicht:24.04.2024, 12:52

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wei Szenen gibt es in diesem Film, die man nicht so schnell wieder vergisst: In der einen sitzt Zahnarzthelferin Ellen (Lilith Stangenberg) in einer Hamburger Spelunke und säuft sich mit dem neuen Zahnarzt (Roland Zehrfeld), mit dem sie ein Verhältnis beginnt, einen an. Der fällt vom Stuhl, ihm bricht ein Zahn halb heraus und darum führen die beiden an Ort und Stelle eine blutige Notoperation ohne Narkose, aber im Vollrausch durch.

In der zweiten Szene erklärt Ellens sterbenskranke, aber eisern ruhige Mutter Lissy (Corinna Harfouch) ihrem Sohn Tom (Lars Eidinger), warum er „ein Unfall“ war, und zwar doppelt: Zuerst ungewollt und dann als Baby auf den Boden geworfen, weil sie seine Schreierei nicht mehr aushielt.

Grotesk durchgeknallt und wahrhaftig zugleich

Beide Momente sind brutal ehrlich und darin grotesk durchgeknallt, sie sind ausgedacht und wahrhaftig. Genau von dieser Spannung lebt der Film „Sterben“. Von seinem Titel sollte man sich jedenfalls nicht täuschen lassen: Dieser Film ist trotzdem eine Komödie. Wer ihn zu ernst nimmt und wer überhaupt alles wörtlich nimmt, verfehlt die Ästhetik; verfehlt auch den Spaß, den dieses Werk machen kann - und verfehlt nicht zuletzt die Intention seines Regisseurs.

Denn alles was man lesen und hören kann über „Sterben“ ist bestenfalls die halbe Wahrheit und führt mindestens zum Teil in die Irre: Ja, dies ist unter anderem auch ein autobiografischer Film, der uns etwas über die Person des Regisseurs und Drehbuchautors Matthias Glasner erzählt, vermutlich auch über seine Eltern, vermutlich auch über sein gestörtes Verhältnis zu seiner Schwester, vermutlich auch über seine Kunstauffassung.

Ein Film in fünf Teilen

Aber zugleich ist dies ein Film der eine völlig fiktive, durchgeknallte überhitzte Geschichte über eine dysfunktionale Familie und ein heutiges Deutschland am Rande des Nervenzusammenbruchs erzählt. Der uns zeigt, wie klarsichtig und wie spielerisch Glasner auf das alles, auf sich selber und diese keineswegs leichten Konstellationen blickt. Wie sehr er sich über einen Künstler lustig machen kann, der ihm vielleicht ähnlich ist, vielleicht auch nicht; der jedenfalls seine Kunst mit jeder Faser seines Körpers und Geistes 120-prozentig geradezu fanatisch und ohne sozialen Sinn egomanisch betreibt. Und über einen zweiten Künstler, den Dirigenten Tom, der an einer Komposition mit dem Titel „Sterben“ arbeitet und zwischen Liebesangst und Familiensehnsucht, zwischen Empathie und Kälte zum Ersatzvater für den Sohn seiner Ex-Freundin wird. Man sollte die beiden Künstler dieses Films keineswegs allzu schnell mit Matthias Glasner verwechseln.

Dass „Sterben“ vor allem eine - groteske, dunkle - Komödie ist, macht vielleicht kein anderes Kapitel dieses in fünf Teilen geordneten Films besser klar, als das über die Schwester Ellen. Lilith Stangenberg ist nicht nur die allerbeste Darstellerin, sondern ihre Ellen die interessanteste, weil überraschendste Figur des Films. Während ansonsten manchmal Tragik und Schwere hier überhand nehmen, bleibt ihre Figur immer leicht und die Szenen witzig bis zur Albernheit - sie zeigen wie man auch manche Momente von Corinna Harfouch und Robert Gwisdeck, der einen so narzisstischen, wie sozial desorientierten Komponisten spielt, betrachten müsste.

Seelennotstandsgebiet Deutschland?

Jeder stirbt und jeder kämpft hier auf die eine oder andere Weise ums persönliche Überleben, auch wenn er sich die meiste Zeit in einem betäubenden Zustand befindet. Das Sterben des Films ist also kein bestimmter, sondern ein Dauerzustand.

In vielen Szenen ist „Sterben“ ganz nah an der allgemeinen deutschen Wirklichkeit. Im „Seelennotstandsgebiet“ der Republik, wie es die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ jetzt genannt hat.

Mit einigen außergewöhnlichen Dialogen und eigentümlichen Charakteren, die uns immer wieder an uns selbst erinnern, machen die Schauspieler „Sterben“ zu einem Erlebnis, das uns einlädt, über unser eigenes Leben nachzudenken. Und über die Gesellschaft, die wir schaffen und in der wir leben müssen, ob wir es wollen oder nicht.

Wie ein buntes Puzzle aus vielen Teilen fügt sich alles zusammen, während wir die besondere Persönlichkeit jeder der Figuren kennenlernen. Wir alle sterben. Wie wir davor leben, müssen wir selbst herausfinden.


Sterben, Regie und Buch: Matthias Glasner, Deutschland 2024, 180 Minuten, FSK: ab 16 Jahren. Mit Lars Eidinger, Lilith Stangenberg, Corinna Harfouch, Robert Gwisdeck u.a.