Die Einsamkeit des Jedermann vor seinem Spiegel: Lars Eidinger versetzt sich kurz vor der Premiere in Trance. Filmer Reiner Holzemer begutachtet das Rätsel der Verwandlung.

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Der im Erdreich wühlende Hamlet, der in Hotpants steckende Jedermann, der vor Todesangst in Tränen ausbricht – niemand schöpft seine darstellerischen Fantasien aus tieferen Zisternen der Einbildungskraft als Schauspieler Lars Eidinger (47). Dokumentarfilmer Reiner Holzemer legt mit Lars Eidinger – Sein oder nicht sein die Bestandsaufnahme einer charismatischen Begabung vor: basierend auf Salzburger Jedermann-Proben. Begegnet man dem Berliner Mimen, trifft man auf einen reflektierten Künstler. Ein Gespräch über Tod und Magie.

STANDARD: Sein oder nicht sein handelt auch von Ihrem Verhältnis zum Tod. Heiner Müller definierte Theater wie folgt: Zuschauer und Bühnenkünstler verbringen miteinander Zeit, um gemeinsam dem Tod entgegenzugehen. Können Sie damit etwas anfangen?

Eidinger: Je länger ich den Schauspielberuf betreibe, desto mehr hinterfrage ich Regeln, die als selbstverständlich hingenommen werden. Zum Beispiel bekommt man auf der Schauspielschule gesagt, die Bühne und das Publikum trenne die sogenannte vierte Wand. Du lernst, wenn im Publikum etwas passiert, darfst du das auf keinen Fall thematisieren. Du sollst es ausblenden. Damit bringt man sich jedoch um den eigentlichen Trumpf des Theaters, um die Unmittelbarkeit. Deshalb empfinde ich auch den Begriff der "Unterhaltung" als zutreffend. Man trifft eine Unterscheidung zwischen E und U. "U" ist für mich das höchste Gut, gemeint als Austausch, als Kommunikation. Darin ist auch der Grund zu suchen, warum ich Leute anspreche, wenn sie die Vorstellung verlassen: Ich frage sie, wo sie hingehen. Das geschieht nicht, weil ich sie vordergründig provoziere, sondern ich sehe die Unterhaltung, die zwischen uns entstanden ist, unterbrochen. Es handelt sich beim Schauspiel eben nicht um etwas Eitles oder Unbedeutendes, sondern ich stelle den Anspruch auf Unbedingtheit.

STANDARD: Es geht um alles?

Eidinger: Darum schätze ich den Begriff "Bretter, die die Welt bedeuten". Die Bretter "stehen für" die Welt. Das meint aber auch, sie bedeuten buchstäblich alles. Es geht auf dem Theater um nichts Geringeres als um Leben und Tod. Ausgelotet wird die Amplitude zwischen Sieg und Niederlage, Gefallen und Fallen. Daher ist Improvisation ein so wichtiges Element. Sie darf nicht als Virtuosentum verstanden werden, sondern als die Bereitschaft, das Risiko des Scheiterns einzugehen. Das ist es, was den Moment aufwertet und wodurch die Idee des Sterbens kultiviert wird.

STANDARD: Das Spiel wäre produktive Vergeudung?

Eidinger: Ein großes Memento mori. Das, was gerade passiert, vergeht. Das will auch niemand festhalten, sondern es geht ums Loslassen. Wenn ich bei Ihnen eingeladen bin und ich bringe Ihnen einen Strauß Schnittblumen mit, dann hat das eine ganz andere Erotik als eine Topfpflanze! Das liegt daran, dass die Blumen im Sterben begriffen sind oder bereits tot. Sie symbolisieren Vergänglichkeit.

STANDARD: Gehen Sie erschöpft aus Ihren Vorstellungen hinaus oder gestärkt?

Eidinger: Wenn ich meinen Körper nach der Vorstellung im Spiegel betrachte, sehe ich jede einzelne Faser gespannt, jeden Muskel angesprochen. Der ganze Körper ist zum Klingen gebracht, mit ihm auch die Seele. Er ist "mehr da" als vorher, im entspannten Zustand. Der Alltag bietet längst nicht so viele Reize wie die irrwitzigen Dimensionen eines Theaterabends.

STANDARD: Das Spielen auf dem Theater gestattet das Anzapfen von Ressourcen?

Eidinger: Sprache ist oft verräterisch: "Mach nicht so ein Theater!" Das Über-Ich und das Unterbewusstsein wissen alles über einen. Das Unbewusste versucht, sich über den Traum verständlich zu machen, doch das Bewusstsein versteht oft nicht. Man ist aber mit nichts anderem beschäftigt, als genau zu diesen Einsichten zu gelangen. Der spielerische Moment ist komplex und frei zugleich. Alles ist da, zugleich profitiere ich von dieser Freiheit. Der Traum ist allwissend. Ich bin im Spiel mehr bei mir, als mir das im Alltag jemals möglich wäre. Vielleicht bin ich als Hamlet mehr ich, als wenn ich jetzt hier als Lars Eidinger vor Ihnen sitze.

STANDARD: Aber Sie verlieren sich nicht notgedrungen beim Spielen?

Eidinger: Ich glaube nicht an die Verwandlung. Ich werde niemand anderer. Im besten Fall sieht man immer mich, wie ich die Rolle spiele. Genau das meint Brecht, wenn er sagt: Glotzt nicht so romantisch! Das würde bloß bedeuten, jemand fällt darauf hinein, dass ich jetzt nicht mehr ich bin. Das reduziert die Darstellung. Es ist viel komplexer zu sagen: Ich spiele jemand anderen. Ich will eigentlich aus dem Nullzustand heraus agieren, nicht indem ich mich vorher stundenlang konzentriere und "einkitsche". Ich will im Augenblick sein, was naturgemäß utopisch ist, weil das Leben immer Bewegung meint. Ein solches Ansinnen ist eigentlich zum Scheitern verurteilt.

STANDARD: Reiner Holzemers Filmporträt von Ihnen lässt vieles ausgespart: ihre Rolle als öffentliche Figur, als Fotokünstler, als DJ.

Eidinger: Es blitzt eher nur auf. Es wäre eine Möglichkeit gewesen, mich als Künstlerpersönlichkeit zu porträtieren. Ich werde öfter mit Fragen konfrontiert wie "Warum musst du jetzt auch noch Platten auflegen? Oder fotografieren?". Letztendlich ist das gesellschaftlich entlarvend. Man soll, habe ich gelesen, auch Kinder nicht andauernd fragen, was sie später einmal werden wollen: weil man sie dann ausschließlich über ihren Beruf definiert. Das bedeutet bereits den Einstieg in die Leistungsgesellschaft. Jetzt werde ich halt als Schauspieler wahrgenommen, was irgendwie nahe liegt. Ich denke in solchen Kategorien gar nicht. Es ist doch klar, dass ich morgens nicht als Erstes in den Spiegel gucke und denke: "Da ist er wieder, Lars Eidinger, der Schauspieler!" (Ronald Pohl, 21.3.2023)