Jürgen Habermas (*1929), der über drei Jahrzehnte eine Professur für Philosophie und Soziologie an der Universität Frankfurt am Main innehatte, ist sicher der bekannteste Vertreter der Neuen Kritischen Theorie. Seine internationale Reputation verdankt sich der Übersetzung seiner wichtigsten Werke in alle Weltsprachen und den regelmäßigen Einladungen zu Gastdozenturen an renommierten ausländischen Hochschulen. In Deutschland genießt er den Ruhm eines öffentlichen Intellektuellen, der sich dezidiert zu den brennenden Fragen einer „unübersichtlichen Moderne“ äußert. Als sein Hauptwerk gilt die Theorie des kommunikativen Handelns (1981). Im Vorwort deklariert Habermas das voluminöse Werk als „Anfang einer Gesellschaftstheorie“, und die entwirft er in der Tat, indem er die gesellschaftliche Rationalisierung historisch und in allen theoretischen Facetten analysiert und die funktionalistische Vernunft, die das Handeln der Menschen in der Moderne und auch die soziologischen Theorien durchzieht, kritisiert. Die Theorie des kommunikativen Handelns enthält denn auch eine Art Anleitung zum richtigen Handeln in der Moderne. Dabei kommt der Sprache als Verständigungsmittel eine zentrale Rolle zu. In einem Interview hat Habermas einmal gesagt, ihm ginge es um „die Versöhnung der mit sich selber zerfallenen Moderne“ und darum, „Formen des Zusammenlebens“ zu finden, „in denen wirklich Autonomie und Abhängigkeit in ein befriedetes Verhältnis treten“ und „unversehrte Intersubjektivität“ garantiert ist. Wo immer solche Vorstellungen angedacht worden sind, reiht Habermas sein Anliegen in die klassischen Entwürfe in der Philosophie oder in der Soziologie ein, „es sind immer Vorstellungen von geglückter Interaktion. Gegenseitigkeiten und Distanz, Entfernungen und gelingende, nicht verfehlte Nähe, Verletzbarkeiten und komplementäre Behutsamkeit – all diese Bilder von Schutz, Exponiertheit und Mitleid, von Hingabe und Widerstand steigen aus einem Erfahrungshorizont des, um es mit Brecht zu sagen, freundlichen Zusammenlebens auf.“ (Habermas 1985, S. 202 f.)

16.1 Die quasi dingliche Existenz von Rollen und die Entäußerung der Person

Habermas löste im Jahr 1968 mit seiner Vorlesung „Stichworte zu einer Theorie der Sozialisation“, deren Mitschrift in kürzester Zeit an allen deutschen Universitäten kursierte, fast schlagartig eine öffentliche kritische Diskussion über Inhalte und Ziele einer gelingenden Sozialisation aus. Die Hauptkritik galt der normativen Rollentheorie von ParsonsFootnote 1, der er vorwarf, sie verstünde Sozialisation rein als einen „Vorgang der Integration (…) in bestehende Rollensysteme“, betrachte das Individuum nur „als Funktion“ vorgegebener sozialer Strukturen (Habermas 1968, S. 118 f.) und führe letztlich zur Entäußerung des Individuums in verdinglichten Rollen. Mit dieser Kritik verband Habermas Überlegungen zu Grundqualifikationen des Handelns in Interaktionen und zu der Frage, welcher persönlichen Kompetenz es bedarf, dass sich das Individuum in Interaktionen mit Anderen seiner selbst bewusst wird und diesen wiederum andeutet, als wer es von ihnen angesehen werden will.

Die Kritik an der Rollentheorie von Parsons hatte Habermas in einer früheren Schrift schon vorbereitet, wo er die gängigen Vorstellungen von Rolle grundsätzlich infrage stellte. Dass es Rollen gibt und dass wir uns ihnen entsprechend verhalten müssen, bestritt Habermas nicht, aber er wies die glatten Erklärungen der normativen Rollentheorie zurück, warum das Individuum eigentlich keine Probleme mit den Rollen haben sollte. Habermas behauptete dagegen, dass im Begriff der Rolle die Entfremdung des Menschen unter gegebenen Verhältnissen zum Ausdruck komme.

Dabei berief er sich auf Max Weber, der die Moderne durch eine Rationalisierung und Standardisierung aller Verhältnisse gekennzeichnet sah. Habermas stellt eine Verbindung zwischen Webers Erklärung und der Rollentheorie so her: „In einem fortgeschrittenen Stadium der industriellen Gesellschaft ist mit dem, was Weber die Rationalisierung ihrer Verhältnisse genannt hat, die funktionelle Interdependenz der Institutionen so gewachsen, dass die Subjekte, ihrerseits von einer zunehmenden und beweglichen Vielfalt gesellschaftlicher Funktionen beansprucht, als Schnittpunktexistenzen sozialer Verpflichtungen gedeutet werden können. Die Vervielfältigung, die Verselbständigung und der beschleunigte Umsatz abgelöster Verhaltensmuster gibt erst den ‚Rollen‘ eine quasi dingliche Existenz gegenüber den Personen, die sich darin ‚entäußern‘ (…).“ (Habermas 1963, S. 238 f.)

Neben Webers Erklärung, dass die unaufhaltsame Rationalisierung aller Verhältnisse zu abstrakten Verhaltensmustern geführt habe, die wiederum unabweislich die Unterwerfung der Individuen erzwingen, stellt Habermas die Erklärung von Karl Marx: „Marx war überzeugt, die Verdinglichung der Verhaltensweisen auf die Ausdehnung der Tauschverhältnisse, letzten Endes auf die kapitalistische Produktionsweise zurückführen zu können. Das mag dahingestellt sein; so viel ist jedenfalls gewiss, dass die analytische Fruchtbarkeit der Rollenkategorie nicht unabhängig von dem Entwicklungsstand der Gesellschaft ist, an deren Beziehungen sie sich zunächst einmal bewährt. Wird sie aber in der Anwendung auf gesellschaftliche Verhältnisse schlechthin zu einer universalhistorischen Kategorie verallgemeinert, muss die Rollenanalyse mit ihrer eigenen geschichtlichen Bedingtheit überhaupt gesellschaftliche Entwicklung als eine geschichtliche ignorieren – so, als sei es den Individuen äußerlich, ob sie, wie der Leibeigene des hohen Mittelalters, einigen wenigen naturwüchsigen Rollen, oder aber, wie etwa der Angestellte in der industriell fortgeschrittenen Zivilisation, vervielfältigten und beschleunigt wechselnden, in gewissem Sinn abgelösten Rollen subsumiert sind. In dieser Dimension der Entwicklung wächst, etwa mit der Chance, sich zu Rollen als solchen verhalten zu können, sowohl die Freiheit des Bewegungsspielraums in der Disposition der Rollenübernahme und des Rollenwechsels, als auch eine neue Art Unfreiheit, soweit man sich unter äußerlich diktierte Rollen genötigt sieht; vielleicht müssen sogar Rollen umso tiefer verinnerlicht werden, je äußerlicher sie werden. Eine auf Rollenanalyse verpflichtete Soziologie wird diese Dimension überspringen, und damit geschichtliche Entwicklung auf die gesellschaftliche Abwandlung immer gleicher Grundverhältnisse reduzieren müssen. Die Rollen als solche sind in ihrer Konstellation zu den Rollenträgern konstant gesetzt, als sei der gesellschaftliche Lebenszusammenhang dem Leben der Menschen selbst auf immer die gleiche Weise (…) äußerlich.“ (Habermas 1963, S. 239) In den Rollen kommt der stumme Zwang der Verhältnisse zum Ausdruck, und indem die Subjekte diese von der Gesellschaft festgelegten (und eingeforderten!) Rollen fest verinnerlichen, laufen sie Gefahr, dass sie nicht mehr aus freien Stücken, d. h. aus eigenem Interesse und nach selbstgewählten Zielen handeln.

Vor diesem theoretischen Hintergrund nahm Habermas (1968) dann die normative Sozialisationstheorie von Parsons und die darin verortete Theorie des Subjekts genauer aufs Korn. Der Hauptvorwurf lautete, die normative Rollentheorie fördere keine reflexive Kompetenz und fordere sie auch nicht, im Gegenteil: sie propagiere Normbefolgung und Anpassung. Von Autonomie und wirklicher Identität des Individuums könne keine Rede sein.

Aufgabe der Sozialisation müsse dagegen sein, die Autonomie des Subjektes in und gegen Rollen auszubilden. Diese Forderung präzisierte Habermas, durch drei fundamentale Einwände gegen die Rollentheorie und durch die Formulierung von drei Grundqualifikationen des Handelns. Ich fasse die Argumentation zusammen.

Die Rollentheorie gehe erstens von der Annahme aus, „dass in stabil eingespielten Interaktionen auf beiden Seiten eine Kongruenz zwischen Wertorientierungen und Bedürfnisdispositionen besteht.“ (Habermas 1968, S. 125) Das habe Parsons damit erklärt, dass die Individuen – bei einer gelungenen Wertbindung – nur das zu tun wünschen, was sich in der Gesellschaft als wünschenswert durchgesetzt hat; wer anderes wünscht, ist potenziell abweichend. Habermas nimmt dagegen an, „dass in allen bisher bekannten Gesellschaften ein fundamentales Missverhältnis zwischen der Masse der interpretierten Bedürfnisse und den gesellschaftlich lizenzierten, als Rollen institutionalisierten Wertorientierungen bestanden hat. Unter dieser Voraussetzung (gelte), dass vollständige Komplementarität der Erwartungen nur unter Zwang, auf der Basis fehlender Reziprozität, hergestellt werden kann.“ (Habermas 1968, S. 125) Tatsächlich müssten aber in jedem Rollenhandeln immer einige Bedürfnisse unterdrückt werden.

Die klassische Rollentheorie – so die Kritik von Habermas – nehme zweitens an, dass „in stabil eingespielten Interaktionen auf beiden Seiten eine Kongruenz zwischen Rollendefinitionen und Rolleninterpretationen besteht.“ (Habermas 1968, S. 126) Deshalb würden die Teilnehmer an einer Interaktion auch die Rollen gleich definieren und deshalb in gleicher Weise annehmen (role-taking). Doch das sei nicht der Fall, denn soziale Rollen seien mehrdeutig (ambigue) und würden, wie Goffman gezeigt habe, von den Handelnden unterschiedlich interpretiert und nach eigener Intention gespielt. Hier bezieht sich Habermas besonders auf Ralph Turner, wonach jedes role-taking immer auch ein role-making ist.Footnote 2 „Eine vollständige Definition der Rolle, die die deckungsgleiche Interpretation aller Beteiligten präjudiziert, ist allein in verdinglichten, nämlich Selbstrepräsentation ausschließenden Beziehungen zu realisieren.“ (Habermas 1968, S. 126)

Schließlich kritisiert Habermas eine dritte Annahme der klassischen Rollentheorie, wonach „eine stabil eingespielte Interaktion auf einer Kongruenz zwischen geltenden Normen und wirksamen Verhaltenskontrollen“ beruhe; „eine institutionalisierte Wertorientierung (Rolle)“ entspreche „einem internalisierten Wert (Motiv).“ (Habermas 1968, S. 126) Erklärt werde das damit, dass die Individuen in einem erfolgreichen Sozialisationsprozess die Normen so sehr internalisiert hätten, dass sie sie zu ihrem eigenen Willen machen und sich konform verhalten. Dieser Annahme setzt Habermas entgegen, das Individuum verhielte sich keineswegs immer konform, sondern bringe sich auch gegen Rollenzumutungen ins Spiel. Es müsse deshalb unterschieden werden zwischen einer „reflexiven Anwendung flexibel verinnerlichter Normen von einer konditionierten Verhaltensreaktion“ auf der einen Seite und einer „zwanghaft automatischen Anwendung rigide verinnerlichter Normen andererseits.“ (Habermas 1968, S. 127) Der Grad der Repressivität eines Rollensystems bemisst sich an der Möglichkeit eines „autonomen Rollenspiels“ oder – in den Worten von GoffmanFootnote 3 – der Rollendistanz, mit der das Subjekt sein Verhalten kontrollieren kann.

Aus den von Goffman beschriebenen Belegen für diese Haltung der Rollendistanz lassen sich übrigens drei Schlüsse ziehen, erstens dass Rollen nicht vollständig internalisiert werden, zweitens dass sie das auch gar nicht sein müssen, um erfolgreich miteinander handeln zu können, und drittens das auch gar nicht sein sollten, um die eigene Individualität im Spiel zu halten: „Autonomes Rollenspiel setzt beides voraus: die Internalisierung der Rolle ebenso wie eine nachträgliche Distanzierung von ihr.“ (Habermas 1968, S. 127)

Was ist also der zentrale Vorwurf an die normative Rollentheorie? Habermas sagt es ganz deutlich: Sie vernachlässigt „drei Dimensionen möglicher Freiheitsgrade des Handelns.“ (Habermas 1968, S. 127) 1) Die Annahme, dass es eine „Kongruenz zwischen (kulturellen) Wertorientierungen und (individuellen) Bedürfnisdispositionen“ und eine „Reziprozität der Bedürfnisbefriedigung“ gibt, schließt aus, dass wir das Ausmaß der Repressivität in einer Interaktion durchschauen. 2) Die Annahme, dass in stabil eingespielten Interaktionen eine „Kongruenz zwischen Rollendefinitionen und Rolleninterpretationen“ besteht, sieht nicht vor, dass wir die Rigidität der Rollendefinitionen durchschauen. 3) Die Annahme, dass die Stabilität einer Interaktion auf „einer Kongruenz zwischen geltenden Normen“ und institutionalisierten und vor allem wirksamen internalisierten „Verhaltenskontrollen“ beruht, sieht nicht vor, dass die Handelnden ihre mögliche Autonomie erkennen (vgl. Habermas 1968, S. 125 ff.; Klammerzusätze H. A.). Mit dieser Frage nach möglichen Freiheitsgraden des Handelns verschiebt Habermas die Kritik an der Rollentheorie auf die Ebene des Bewusstseins und der Grundqualifikationen des handelnden Subjekts in konkreten Interaktionen.

Habermas bemisst denn auch die Grundqualifikationen erstens danach, ob der Handelnde der Widersprüchlichkeit von Rollen und Erwartungen gewachsen ist, also Frustrationstoleranz hat, oder ob er umgekehrt „die Komplementarität der Erwartungen in offenem Rollenkonflikt“ bewusst abwehrt und verletzt oder sogar sich und Anderen vorspiegelt, seine Bedürfnisse würden in Wahrheit befriedigt, und so die Komplementarität zwanghaft aufrechterhält. Er bewertet sie zweitens danach, ob der Handelnde die Zweideutigkeit einer Rolle (Rollenambiguität) „durch ein angemessenes Verhältnis von Rollenübernahme und (eigenem, Ergänzung H. A.) Rollenentwurf zu balancieren“ versteht und zu einer „kontrollierten Selbstdarstellung nutzt“, oder sich selbst diffus präsentiert oder sich gar restriktiven Rollendefinitionen ohne Widerstand unterwirft. Schließlich bewertet Habermas die Grundqualifikationen daran, ob der Handelnde „sich relativ autonom verhält und gut verinnerlichte Normen reflexiv anwendet“ oder ob er dazu neigt, auf auferlegte Normen gehorsam zu reagieren oder sie gar zwanghaft anzuwenden (vgl. Habermas 1968, S. 128 f.).

Mit der Bewertung des Handelns in konkreten Interaktionen öffnet Habermas auch den Blick auf die Identität des Subjekts, in der es sich selbst wahrnimmt und von Anderen wahrgenommen werden möchte, aus der heraus es sich aber auch mit diesen Anderen arrangiert. Das will ich in einem kurzen Exkurs skizzieren, der auch schon überleitet zu seiner Theorie des kommunikativen Handelns.

16.2 Exkurs über Ich-Identität und Verständigung über eine Handlungssituation

Man kann mit Fug und Recht sagen, dass mit der breiten Diskussion über die „Stichworte zur Theorie der Sozialisation“ in Deutschland der Übergang von einer Ordnungstheorie der Rolle zu Theorien der Interaktion begann. Ein mindestens gleichwichtiger Effekt bestand darin, dass Habermas mit dem Begriff der Grundqualifikationen die Frage der Ich-Identität und der Kompetenzen des handelnden Subjekts in Interaktionen in den Fokus soziologischer Aufmerksamkeit rückte.

Die gerade genannten „Grundqualifikationen des Rollenhandelns“, schreibt Habermas, eignen sich auch als Kategorien „für einen soziologischen Begriff von Ich-Identität“. (vgl. Habermas 1968, S. 175 und 129) Diesen Begriff der Ich-Identität legt Habermas im Sinne des Symbolischen Interaktionismus als Handlungsbegriff (vgl. Habermas 1976, S. 66 f.) an und benennt damit sozusagen die zweite Funktion (nach der, autonomes Rollenhandeln zu begründen) gelingender Sozialisation: Sie soll bestimmte Kompetenzen der Ich-Identität ausbilden. Er schreibt: „Ich-Identität (besteht) in einer Kompetenz, die sich in sozialen Interaktionen bildet. Die Identität wird durch Vergesellschaftung erzeugt, d. h. dadurch, dass sich der Heranwachsende über die Aneignung symbolischer Allgemeinheiten in ein bestimmtes soziales System erst einmal integriert, während sie später durch Individuierung, d. h. gerade durch eine wachsende Unabhängigkeit gegenüber sozialen Systemen gesichert und entfaltet wird.“ (Habermas 1976, S. 68)

Ich-Identität darf nun nicht im Sinne eines festen, endgültigen Ergebnisses gelungener Reflexion missverstanden werden, sondern der Begriff steht für einen Prozess, in dem sich das Individuum in der Interaktion mit den Anderen seiner selbst bewusst wird und diesen wiederum andeutet, als wer es von ihnen angesehen werden will. Ich-Identität ist eine Kompetenz, die sich in der Strukturierung einer Interaktion bildet und bewährt.

Personen geraten immer wieder in Situationen, in denen sie sich ihrer persönlichen Identität nicht mehr gewiss sind (z. B. in der Pubertät), wo ihre soziale Identität unsicher ist (z. B. bei einem Statusübergang oder bei der gleichzeitigen Konfrontation mit unterschiedlichen Bezugsgruppen) oder gar bedroht wird (z. B. durch Stigmatisierung). „In dem Maße wie Personen solchen Situationen dadurch begegnen, dass sie sich ‚umorientieren‘, d. h. neue Interpretationen, neue Kategorien entwickeln, die eigene Identität neu definieren und eine Lösung für die Divergenz ihrer Bezugsgruppen finden, bewahren sie einen relativen Grad von Ich-Identität.“ Ich-Identität hängt ab von den oben genannten Grundqualifikationen des Rollenspiels, „nämlich von der Fähigkeit, Rollenambivalenzen bewusst zu ertragen, eine angemessene Repräsentation des Selbst zu finden und verinnerlichte Normen auf neue Lagen flexibel anzuwenden.“ (Habermas 1968, S 130 f.)

In Anlehnung an Goffman, der zwischen einer persönlichen Identität bzw. Individualität und einer sozialen Identität unterscheidet, schreibt Habermas: „Die persönliche Identität kommt zum Ausdruck in einer unverwechselbaren Biografie, die soziale Identität in der Zugehörigkeit ein und derselben Person zu verschiedenen, oft inkompatiblen Bezugsgruppen. Während persönliche Identität so etwas wie die Kontinuität des Ich in der Folge der wechselnden Zustände der Lebensgeschichte garantiert, wahrt soziale Identität die Einheit in der Mannigfaltigkeit verschiedener Rollensysteme, die zur gleichen Zeit ‚gekonnt‘ sein müssen. (…) Ich-Identität kann dann als die Balance zwischen der Aufrechterhaltung beider Identitäten (…) aufgefasst werden.“ (Habermas 1968, S. 131)

Wir halten eine soziale Identität aufrecht, fährt Habermas fort, indem wir in der Interaktion mit den Anderen „im Hinblick auf die normierten Verhaltenserwartungen ‚identisch‘ zu sein versuchen und gleichwohl Anstrengungen unternehmen, um diese ‚Identität‘ mit den Anderen als eine Scheinnormalität (phantom normalcyFootnote 4) sichtbar zu machen.“ Gleichzeitig versuchen wir, eine persönliche Identität aufrechtzuerhalten, indem wir gegenüber den Anderen „den sozialen Abstand einer ausdrücklichen Nicht-Identität“ wahren und diese Nicht-Gleichheit als „fiktive Einzigartigkeit (phantom uniqueness) sichtbar zu machen.“ (Habermas 1968, S. 131 f.)

Diese Balance zwischen persönlicher und sozialer Identität steht letztlich in jeder Interaktionssituation an, auch wenn sie selten zum Problem und noch seltener bewusst wird. Dennoch: die Balance muss in Interaktionen erbracht werden – und sie ist abhängig von der Kommunikation, genauer davon, wie sich die Teilnehmer einer Interaktion darüber verständigen, wer sie sind und als wer sie von den Anderen angesehen werden wollen.

Das ist auch der Grund, weshalb Habermas später in seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ den Begriff der Persönlichkeit mit einer Theorie der Verständigung zusammenbringt. Er schreibt: „Unter Persönlichkeit verstehe ich die Kompetenzen, die ein Subjekt sprach- und handlungsfähig machen, also instandsetzen, an Verständigungsprozessen teilzunehmen und dabei die eigene Identität zu behaupten.“ (Habermas 1981, Bd. 2, S. 209) Verständigung ist Form und Ziel kommunikativen Handelns. In deutlicher Anlehnung an Meads These von der fortlaufenden wechselseitigen Rollenübernahme und den interpretativen Ansatz des Symbolischen Interaktionismus definiert Habermas kommunikatives Handeln als „Interaktion von (…) Subjekten“, die fortlaufend eine „Verständigung über die Handlungssituation“ suchen, „um ihre Handlungspläne und damit ihre Handlungen einvernehmlich zu koordinieren.“ (Habermas 1981, Bd. 1, S. 128)

Kommunikatives Handeln hat eine dreifache Funktion: „Unter dem funktionalen Aspekt der Verständigung dient kommunikatives Handeln der Tradition und der Erneuerung kulturellen Wissens; unter dem Aspekt der Handlungskoordinierung dient es der sozialen Integration und der Herstellung von Solidarität; unter dem Aspekt der Sozialisation schließlich dient kommunikatives Handeln der Ausbildung von personalen Identitäten.“ (Habermas 1981, Bd. 2, S. 208)

Bevor ich auf diese Funktionen des kommunikativen Handelns genauer eingehe, will ich kurz zeigen, wo Habermas seine Theorie des Handelns verortet.

16.3 Vier Handlungsbegriffe: teleologisches, normenorientiertes, dramaturgisches und kommunikatives Handeln

Habermas stellt vier Handlungsbegriffe nebeneinander. Wiewohl sich konkretes Handeln immer als Mischform darstellt – und Interaktion sowieso! –, unterscheidet er analytisch zwischen einem teleologischen, einem normenregulierten, einem dramaturgischen und einem kommunikativen Handlungsbegriff.

  1. 1.

    Teleologisches Handeln: Entscheidung

„Der Begriff des teleologischenFootnote 5 Handelns steht seit Aristoteles im Mittelpunkt der philosophischen Handlungstheorie. Der Aktor verwirklicht einen Zweck bzw. bewirkt das Eintreten eines erwünschten Zustandes, indem er die in der gegebenen Situation erfolgversprechenden Mittel wählt und in geeigneter Weise anwendet. Der zentrale Begriff ist die auf die Realisierung eines Zwecks gerichtete, von Maximen geleitete und auf eine Situationsdeutung gestützte Entscheidung zwischen Handlungsalternativen. Das teleologische wird zum strategischen Handlungsmodell erweitert, wenn in das Erfolgskalkül des Handelnden die Erwartung von Entscheidungen mindestens eines weiteren zielgerichtet handelnden Aktors eingehen kann. Dieses Handlungsmodell wird oft utilitaristisch gedeutet; dann wird unterstellt, dass der Aktor Mittel und Zwecke unter Gesichtspunkten der Maximierung von Nutzen bzw. Nutzenerwartungen wählt und kalkuliert.“ (Habermas 1981, Band 1, S. 126 f.)

Um teleologisches Handeln ging es in der Theorie von Max Weber. Das ist am augenfälligsten beim zweckrationalen Handeln, dem Weber ja die größte Aufmerksamkeit geschenkt hat.Footnote 6 Dieser Handlungsbegriff scheint auch in den individualistischen Theorien des Verhaltens auf, die Handeln als Nutzenkalkulation verstehen.Footnote 7

  1. 2.

    Normenreguliertes Handeln: Normbefolgung

„Der Begriff des normenregulierten Handelns bezieht sich nicht auf das Verhalten eines prinzipiell einsamen Aktors, der in seiner Umwelt andere Aktoren vorfindet, sondern auf Mitglieder einer sozialen Gruppe, die ihr Handeln an gemeinsamen Werten orientieren. Der einzelne Aktor befolgt eine Norm (oder verstößt gegen sie), sobald in einer gegebenen Situation die Bedingungen vorliegen, auf die die Norm Anwendung findet. Normen drücken ein in einer sozialen Gruppe bestehendes Einverständnis aus. Alle Mitglieder einer Gruppe, für die eine bestimmte Norm gilt, dürfen voneinander erwarten, dass sie in bestimmten Situationen die jeweils gebotenen Handlungen ausführen bzw. unterlassen. Der zentrale Begriff der Normbefolgung bedeutet die Erfüllung einer generalisierten Verhaltenserwartung. Verhaltenserwartung hat nicht den kognitiven Sinn der Erwartung eines prognostizierten Ereignisses, sondern den normativen Sinn, dass die Angehörigen zur Erwartung eines Verhaltens berechtigt sind. Dieses normative Handlungsmoment liegt der Rollentheorie zugrunde.“ (Habermas 1981, Band 1, S. 127)

Der Begriff des normenregulierten Handelns steht im Zentrum der Gesellschaftstheorien von Emile Durkheim und Talcott Parsons. Durkheims Theorie der SozialisationFootnote 8 setzte dem Handeln des Individuums ebenso wie die gerade referierte Rollentheorie von Parsons den verbindlichen Rahmen.

  1. 3.

    Dramaturgisches Handeln: Selbstrepräsentation

„Der Begriff des dramaturgischen Handelns bezieht sich primär weder auf den einsamen Aktor noch auf das Mitglied einer sozialen Gruppe, sondern auf Interaktionsteilnehmer, die füreinander ein Publikum bilden, vor dessen Augen sie sich darstellen. Der Aktor ruft in seinem Publikum ein bestimmtes Bild, einen Eindruck von sich selbst hervor, indem er seine Subjektivität mehr oder weniger gezielt enthüllt. Jeder Handelnde kann den öffentlichen Zugang zur Sphäre seiner eigenen Absichten, Gedanken, Einstellungen, Wünsche, Gefühle usw., zu der nur er einen privilegierten Zugang hat, kontrollieren. Im dramaturgischen Handeln machen sich die Beteiligten diesen Umstand zunutze und steuern ihre Interaktion über die Regulierung des gegenseitigen Zugangs zur jeweils eigenen Subjektivität. Der zentrale Begriff der Selbstrepräsentation bedeutet deshalb nicht ein spontanes Ausdrucksverhalten, sondern die zuschauerbezogene Stilisierung des Ausdrucks eigener Erlebnisse.“ (Habermas 1981, Band 1, S. 128)

Der prominenteste Vertreter einer Theorie des dramaturgischen Handelns ist Erving Goffman.Footnote 9 eingehen. Handeln ist ein Schauspiel, das Individuen voreinander und miteinander aufführen. Dazu gehört die Inszenierung des Auftritts, die Präsentation in bestimmten Fassaden, aber auch der bedachte Rückzug in die Kulissen. Und manchmal ist es auch der verzweifelte Versuch, sich gegen den Druck der Anderen über Wasser zu halten.

  1. 4.

    Kommunikatives Handeln: Interpretation

„Der Begriff des kommunikativen Handelns schließlich bezieht sich auf die Interaktion von mindestens zwei sprach- und handlungsfähigen Subjekten, die (sei es mit verbalen oder extraverbalen Mitteln) eine interpersonale Beziehung eingehen. Die Aktoren suchen eine Verständigung über die Handlungssituation, um ihre Handlungspläne und damit ihre Handlungen einvernehmlich zu koordinieren. Der zentrale Begriff der Interpretation bezieht sich in erster Linie auf das Aushandeln konsensfähiger Situationsdefinitionen. In diesem Handlungsmodell erhält die Sprache (…) einen prominenten Stellenwert.“ (Habermas 1981, Band 1, S. 128)

Der kommunikative Handlungsbegriff steht im Zentrum der Theorie des Symbolischen Interaktionismus nach George Herbert Mead und Herbert Blumer und in der Ethnomethodologie nach Harold Garfinkel.Footnote 10 Habermas selbst rückt diesen Handlungsbegriff in den Mittelpunkt seiner Theorie des kommunikativen Handelns, verbindet ihn allerdings mit einer kritischen Variante, die auf die Reflexion und Sicherung des Handelns zielt. Diese Variante nennt er Diskurs oder diskursive Verständigung. Um diesen kommunikativen Handlungsbegriff, der sich ganz eindeutig einer Theorie der Interaktion verdankt, geht es nun.

16.4 Kommunikatives Handeln und Diskurs

Mit den gerade noch einmal angesprochenen Ansätzen der symbolischen Interaktion stimmt Habermas insofern überein, dass er Interpretation als Form und Mittel der Verständigung betrachtet, in der eine konsensfähige Definition der Situation ausgehandelt wird. Vor diesem Hintergrund stellt er die Frage, was notwendige Voraussetzungen für jegliche Interaktion sind, und sagt auch, was zu tun ist, wenn Interaktion misslungen ist oder zu misslingen droht.

Obwohl Habermas den Begriff des kommunikativen Handelns oft synonym mit dem Begriff der Interaktion verwendet, darf man nicht übersehen, dass die Begriffe streng genommen Unterschiedliches bezeichnen: Interaktion ist das soziale Ereignis oder das Zusammenspiel von handelnden Personen, kommunikatives Handeln ist die besondere, von Habermas als unabdingbar bezeichnete Form des Handelns, in der die Beteiligten die Interaktion strukturieren.

Bevor ich diese Form darstelle, muss ich Habermas‘ Definition des kommunikativen Handelns noch einmal in Erinnerung rufen: Der Begriff des kommunikativen Handelns „bezieht sich auf die Interaktion von mindestens zwei sprach- und handlungsfähigen Subjekten, die (sei es mit verbalen oder extraverbalen Mitteln) eine interpersonale Beziehung eingehen. Die Aktoren suchen eine Verständigung über die Handlungssituation, um ihre Handlungspläne und damit ihre Handlungen einvernehmlich zu koordinieren“ (Habermas 1981, Band 1, S. 128). Die Koordinierung der Handlungen erfolgt nach der Theorie des kommunikativen Handelns als „Verständigung im Sinne eines kooperativen Deutungsprozesses“. (Habermas 1981, Band 1, S. 151) Wo ein grundsätzliches Interesse an Verständigung nicht unterstellt werden kann, ist kommunikatives Handeln als Inter-Aktion nicht möglich.

Das klingt zunächst paradox, doch wenn Inter-Aktion mehr als ein einmaliges Zusammentreffen mit abschließender Reaktion ist, dann ist diese These nicht zu widerlegen. Eine Interaktion, die weitergeht, setzt voraus, dass man vom Anderen verstanden werden will und dass man ihn selbst auch verstehen will. Statt einer komplizierten Erklärung ein Beispiel: Stellen Sie sich vor, jemand sagt „Du kannst sagen, was Du willst, aber ich sage Dir ganz klar, ich will Dich nicht verstehen!“; von da an ist kein Austausch vernünftiger Stellungnahmen mehr möglich. Verständigung ist prinzipiell ausgeschlossen.

Dass Individuen sich tatsächlich oft genug gerade nicht verständigen, sieht Habermas natürlich auch, aber er findet dafür eine Erklärung, die dem prinzipiellen Interesse an Verständigung nicht widerspricht. Die Erklärung wird aus einer kritischen Theorie der Gesellschaft abgeleitet. Habermas geht nämlich davon aus, dass alles Handeln in der Gesellschaft unter das Prinzip der Zweckrationalität geraten ist und die Rationalität der Verständigung unterdrückt. Mit dieser Kritik knüpft er an die These von Max Weber an, der von der Rationalisierung des modernen Lebens gesprochen hatte. Zweckrationalität als Prinzip des Handelns findet ihren auffälligsten Ausdruck in der kapitalistischen Wirtschaft. In der „Protestantischen Ethik“ hat Weber die Konsequenz dieses Handlungsprinzips beschrieben: „Die heutige kapitalistische Wirtschaftsordnung ist ein ungeheurer Kosmos, in den der Einzelne hineingeboren wird und der für ihn, wenigstens als Einzelnen, als faktisch unabänderliches Gehäuse, in dem er zu leben hat, gegeben ist.“ (Weber 1905, S. 165) Zweckrationalität ist das Prinzip des Handelns in der Wirtschaft, auf dem Markt, im Beruf. Inzwischen durchdringt sie allerdings auch das Handeln außerhalb dieser Bereiche. An die Stelle einer subjektiv gefühlten Verbundenheit tritt in der Moderne ein rationales Handeln, das auf Interessen basiert (vgl. Weber 1920, S. 695).

Hier nun schließt Habermas seine kritische Theorie der Moderne an. Er stellt fest, dass die Zweckrationalität heute alle Bereiche des Lebens durchdringt. Die Gesellschaft hat sich aufgespalten in Subsysteme, die sich mehr und mehr verselbstständigen und alle ihrer eigenen zweckrationalen Logik folgen. Wo wir mit ihnen in Berührung kommen, beanspruchen sie uns nach Maßgabe ihrer Logik und nur unter spezifischen Rollenerwartungen. Sie erzwingen jeweils eigene Formen des Denkens und Handelns. Parallel und gegeneinander dringen sie in das Bewusstsein ein und spalten es in abgetrennte Bereiche auf. Nicht das falsche Bewusstsein, das sich nach der These von Marx der Widersprüche einer antagonistischen Gesellschaft nicht innewird, sondern das fragmentierte Bewusstsein ist nach Habermas das eigentliche Problem der Moderne (Habermas 1981, Band 2, S. 522). Die Imperative der verselbstständigten Subsysteme und die aus ihnen herrührenden Diktate der Zweckrationalität, der Sachlichkeit und der Standardisierung dringen in unsere Alltagswelt ein.

Der in der fortgeschrittenen Moderne vorherrschende Grundzug der Zweckrationalität, führt Habermas seine Kritik weiter, zerstört die Lebenswelt. Darunter versteht er mit SchützFootnote 11 die Welt, die uns fraglos gegeben, selbstverständlich und vertraut ist. Wir nehmen an, dass wir sie mit Anderen teilen, die sie in der gleichen Weise sehen wie wir. Sie bildet so etwas wie den Horizont für unser Erleben und Wissen, in dem alles, was wir uns vorstellen können, beschlossen ist. Diese Lebenswelt gerät mehr und mehr unter die Imperative der Zweckrationalität, die sich von allen Seiten fordernd bemerkbar machen. Es ist, als wenn Kolonialherren in die natürliche Ordnung einer Stammesgesellschaft eindringen und dort bestimmen, wie die Menschen von nun an zu denken und zu handeln haben. So spricht Habermas auch von einer „Kolonialisierung der Lebenswelt.“ (Habermas 1981, Band 2, S. 522)

Das ist der Hintergrund, vor dem Habermas seine Theorie des kommunikativen Handelns entwickelt. Um die Konsequenzen dieser strukturellen Veränderung der Lebenswelt für die Interaktionen des normalen Alltags aufzuzeigen, verbindet er Webers kritische Theorie der Rationalisierung mit zwei Thesen: mit Meads These, dass Interaktion in der wechselseitigen Rollenübernahme besteht, und mit der These von Schütz, dass wir die Lebenswelt, in der wir uns bewegen, für selbstverständlich halten. Nach Mead gelingt Interaktion, weil sich ego und alter auf gemeinsame Symbole beziehen und sie identisch interpretieren. Dadurch dass sie sich wechselseitig in ihre Rollen versetzen, blicken sie auch auf sich selbst und werden sich der Gründe ihres Handelns gewahr. Nach Schütz ist die Lebenswelt über eine gemeinsame Sprache organisiert, durch deren Verwendung uns laufend die Muster normalen Denkens und Handelns bestätigt werden.

Im Zentrum der Theorie des Kommunikativen Handelns steht natürlich die Sprache. Und hier unterscheidet sich Habermas deutlich von Mead: Mead interessiere „sich für sprachliche (…) Symbole nur insoweit, wie sie Interaktionen, Verhaltensweisen und Handlungen mehrerer Individuen vermitteln“, und betrachte „sprachliche Kommunikation beinahe ausschließlich“ unter dem Aspekt „der sozialen Integration zielgerichtet handelnder“ Subjekte und dem Aspekt, wie sich handlungsfähige Subjekte wechselseitig vergesellschaften. „Die Verständigungsleistungen und die interne Struktur der Sprache“ würde Mead vernachlässigen. „Im kommunikativen Handeln übernimmt Sprache, über die Funktion der Verständigung hinaus, die Rolle der Koordinierung von zielgerichteten Aktivitäten verschiedener Handlungssubjekte sowie die Rolle eines Mediums der Vergesellschaftung dieser Handlungssubjekte selbst.“ (Habermas 1981, Band 2, S. 14)

Habermas betrachtet Sprache als kommunikativen Akt, d. h. Sprache ist Handlung und dient in einer Interaktion der Verständigung, der Handlungskoordinierung und der Vergesellschaftung von Individuen (vgl. Habermas 1981, Band 2, S. 41).

Wenden wir uns zunächst der Verständigung zu. Die Sprache ist uns durch die Lebenswelt natürlich gegeben. Jede Interaktion ist durch sprachliche Kommunikation vermittelt; durch die Sprache zeigen sich die Beteiligten an, wie sie die gemeinsame Situation verstehen, welche Bedeutung sie ihrem Sprechen und Handeln beimessen und wie sie vom Anderen verstanden werden wollen. Die Sprache dient der Verständigung über das Gesagte, Gemeinte und Verstandene. „Verständigung wohnt als Telos der menschlichen Sprache inne.“ (Habermas 1981, Band 1, S. 387) Kommunikatives Handeln im Wortsinn funktioniert nur, wenn alle Sprecher dieses Ziel verfolgen, also sich verständigen wollen.

Diese Bedingung gesetzt, stellt sich die Frage, wieso die Teilnehmer an einer sprachlichen Interaktion überhaupt mit einer Verständigung rechnen können. Habermas erklärt es so: Im kommunikativen Handeln „wird die Geltung von Sinnzusammenhängen naiv vorausgesetzt, um Informationen (handlungsbezogene Erfahrungen) auszutauschen.“ (Habermas 1971, S. 115) Die Geltung kann deshalb naiv vorausgesetzt werden, weil wir ein gemeinsames Alltagswissen besitzen. Es besteht aus „elementaren Wirklichkeitsdefinitionen, die für alle Mitglieder einer gegebenen Gesellschaft, einer Kultur, mit der Unterstellung versehen sind, dass auch jeder Andere über sie verfügen oder zumindest mühelos Zugang zu ihnen gewinnen kann.“ (Matthes u. a. 1981, KE 1, S. 92) Indem wir dieses gemeinsame Alltagswissen unterstellen, unterstellen wir auch, dass wir eine Situation gleich definieren.Footnote 12

16.5 Geltungsansprüche beim kommunikativen Handeln

Neben diesem stillen Einverständnis über das, was jeder weiß, muss noch eine weitere Erklärung, warum wir naiv Verständigung für möglich halten, genannt werden: Beim kommunikativen Handeln richten wir unausgesprochen Geltungsansprüche aneinander. Habermas nennt drei: 1) Was wir über die objektive Welt sagen, muss wahr sein; 2) was wir in einer gemeinsamen, sozialen Welt sagen, muss richtig sein, also den Normen entsprechen; 3) was wir über unsere subjektive Welt sagen, muss wahrhaftig sein (vgl. Habermas 1981, Band 1, S. 26 und 35). Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Wenn Z. behauptet, ihm habe man gerade das Hörnchen Eis aus der Hand gerissen, beansprucht er, einen objektiven Tatbestand zu konstatieren, also die Wahrheit zu sagen. Wenn Z. sagt, dass dieses Verhalten strafbar ist, dann beansprucht er, dass diese Aussage in unserer Gesellschaft richtig ist. Und wenn Z. dabei lauthals seine Empörung über die Jugend von heute zum Ausdruck bringt, beansprucht er, wahrhaftig zu sein. Es liegt auf der Hand, dass diese Geltungsansprüche nicht nur von ego an alter gerichtet sind, sondern dass umgekehrt alter eben diese auch unterstellen muss. Ergo: Beansprucht der Andere unausgesprochen, die Wahrheit zu sagen, unterstellen wir bis zum Beweis des Gegenteils auch, dass er das tut. Hält er seine Aussage für richtig, sehen wir das so lange auch so, wie wir nichts Gegenteiliges wissen. Beansprucht er, wahrhaftig zu sein, glauben wir ihm das, solange sich Form und Ziel seiner Empörung im Rahmen des Üblichen bewegen.

Interaktion, in der Form des kommunikativen Handelns, ist Wechselwirkung, und die drei Ansprüche gelten ebenso wechselseitig. Nur indem beide Seiten auf diese einander bedingenden Geltungen bauen, können sie kommunikativ handeln und sich wechselseitig ihr Handeln zurechnen: Als zurechnungsfähig kann denn auch nur gelten, „wer als Angehöriger einer Kommunikationsgemeinschaft sein Handeln an intersubjektiv anerkannten Geltungsansprüchen orientieren kann.“ (Habermas 1981, Band 1, S. 34)

Habermas hatte schon früher gezeigt, dass noch andere implizite Erwartungen logisch zwingend sind, gleichwohl im bewussten Handeln ausgeblendet sind. Im kommunikativen Handeln hegen wir nämlich unausgesprochen die Erwartung, dass die Anderen wissen, was sie tun und warum sie das tun. Habermas unterscheidet deshalb zwischen einer Intentionalitätserwartung (Subjekte folgen den Normen, nach denen sie handeln, intentional) und einer Legitimitätserwartung (Subjekte folgen nur Normen, die ihnen gerechtfertigt erscheinen) (vgl. Habermas 1971, S. 118 f.). Wir unterstellen – und müssen unterstellen! –, dass der Andere uns sagen könnte, warum er sich so und nicht anders verhält. Um es an einem drastischen Beispiel klar zu machen: Würde jemand seine Rede mit den Worten einleiten „Ich weiß nicht, warum ich etwas sage“, wäre eine Kommunikation im Grunde nicht möglich. In Wirklichkeit sind diese Erwartungen der Intentionalität und der Legitimität natürlich „kontrafaktisch“, aber wenn wir nicht so täten, als ob sie sich auf ein Faktum bezögen, könnte man im strengen Sinn nicht kommunizieren. Ähnliche Faktizität messen wir auch einer gemeinsamen Sicht auf die Welt bei. Im kommunikativen Handeln unterstellen wir stillschweigend, ich wiederhole es, dass jeder die Dinge so sieht wie wir. Das betrifft auch die Absichten und Ziele gemeinsamen Handelns.

Wo dieses Einverständnis aus welchen Gründen auch immer nicht mehr herrscht, Verständigung also hakt, das Interesse am Fortgang der Interaktion aber bestehen bleibt, muss eine neue Form der Kommunikation gefunden werden, die auf die Herstellung eines neuen Einverständnisses zielt. Um diese Strategie geht es im Diskurs. Der Diskurs ist ein analytisches Sprechen über die Bedingungen der Kommunikation, also eine Metakommunikation. Den Unterschied zwischen kommunikativem Handeln und Diskurs kann man sich mit folgendem Beispiel klar machen: Herr J. behauptet gegenüber seiner Tochter C., es gebe zwei unumstößliche Wahrheiten. Erstens, die Erde sei eine Scheibe, und zweitens, Frauen seien dümmer als Männer. Zieht Tochter C. nur die Brauen hoch, ansonsten geht das Gespräch aber weiter, ist es kommunikatives Handeln. Bestreitet Tochter C. aber wenigstens eine der Behauptungen und verlangt eine rationale Begründung, beginnt der Diskurs. „In Diskursen suchen wir ein problematisiertes Einverständnis, das im kommunikativen Handeln bestanden hat, durch Begründung wiederherzustellen.“ (Habermas 1971, S. 115)

Der Diskurs ist ein „Abarbeiten der unterschiedlichen Perspektiven mit rationalen Mitteln“ (Matthes u. a. 1981, KE 1, S. 133), sein Ziel ist, einen neuen Konsens über Absichten und Ziele der Verständigung herzustellen. Die Frage ist aber, unter welchen Voraussetzungen es überhaupt nur zu einem Diskurs kommen kann. Die wichtigste ist, dass die Interaktionsteilnehmer sich als gleiche betrachten und sich gleiche Rechte einräumen. Jeder Teilnehmer muss die gleiche Chance haben zu handeln, sein Handeln zu erklären und vom Anderen Erklärungen für dessen Handeln einzufordern. Eine Interaktion, in der diese Bedingung erfüllt ist, nennt Habermas eine symmetrische Interaktion.

16.6 Ideale Sprechsituation als Bedingung einer symmetrischen Interaktion

Dass die Wahrnehmung dieser Chancen nur im Medium der Sprache erfolgen kann, liegt auf der Hand. Deshalb nennt Habermas als implizite Bedingung für diese symmetrische Interaktion des Diskurses die Unterstellung einer idealen Sprechsituation:

„Ideal nennen wir im Hinblick auf die Unterscheidung des wahren vom falschen Konsensus eine Sprechsituation, in der die Kommunikation nicht nur nicht durch äußere kontingente Einwirkungen, sondern auch nicht durch Zwänge behindert wird, die aus der Struktur der Kommunikation selbst sich ergeben. Die ideale Sprechsituation schließt systematische Verzerrung der Kommunikation aus. Nur dann herrscht ausschließlich der eigentümlich zwanglose Zwang des besseren Argumentes, der die methodische Überprüfung von Behauptungen sachverständig zum Zuge kommen lässt und die Entscheidung praktischer Fragen rational motivieren kann.“ (Habermas 1971, S. 137)

Auf diese ideale Sprechsituation greifen wir vor, obwohl sie de facto nicht da ist. Was paradox klingt, kann man so auflösen: Unbewusst unterstellen wir, wenn wir nur wollten, könnten wir den Anderen fragen, warum er dies und das gesagt oder getan hat, und selbstverständlich hätten wir das Recht, genau so frei die Gründe für unser Verhalten darzulegen. „Der Vorgriff auf die ideale Sprechsituation ist Gewähr dafür, dass wir mit einem faktisch erzielten Konsensus den Anspruch des wahren Konsensus verbinden dürfen.“ (Habermas 1971, S. 136) Das wiederum heißt: Wenn wir wollten, könnten wir nachfragen, ob das, worauf wir uns zwischenzeitlich verständigt haben, wirklich die ganze Wahrheit ist. Deshalb muss auch eine ideale Sprechsituation jegliche Verzerrung der Kommunikation ausschließen.

Eine ideale Sprechsituation ist durch eine vierfache Symmetrie gekennzeichnet: Jeder hat das gleiche Recht, 1) Kommunikation herbeizuführen, 2) Deutungen, Behauptungen, Erklärungen aufzustellen und ihre Geltungsansprüche zu begründen und zu widerlegen, 3) auf ungekränkte Selbstdarstellung und 4) zu befehlen und sich zu widersetzen, Rechenschaft abzugeben und zu verlangen.

Die ideale Sprechsituation ist also herrschaftsfrei, sodass jeder Interaktionspartner jederzeit die Möglichkeit hat, aus der Interaktion heraus- und in Diskurse einzutreten. Damit es nun zu einem wirklichen Diskurs kommt, muss zusätzlich angenommen werden, „dass die Sprecher weder sich noch Andere über ihre Intentionen täuschen dürfen (Habermas 1971, S. 138). Dann – und nur dann! – ist der Diskurs das letzte und entscheidende Mittel, die Freiheit aller beteiligten Individuen in der Interaktion zu garantieren. Nur durch den Diskurs kann so auch der wahre von einem falschen Konsens unterschieden werden.“ (vgl. Habermas 1971, S. 134) Der wahre Konsens ist das Ergebnis einer Kommunikation, in der die vier genannten Bedingungen einer idealen Sprechsituation von Anfang bis Ende erfüllt sind.

Die Verständigungsprozesse, die in der Metakommunikation des Diskurses ablaufen, zielen genau wie das kommunikative Handeln selbst „auf ein Einverständnis, welches den Bedingungen einer rational motivierten Zustimmung zum Inhalt einer Äußerung genügt. Ein kommunikativ erzieltes Einverständnis hat eine rationale Grundlage.“ (Habermas 1981, Band 1, S. 387) Es muss also im Prinzip von allen Beteiligten in rationalen Worten formuliert werden können und auf einem rationalen Konsens basieren. Damit ist sowohl der Fall, dass jemand es aufgibt, den anderen zu überzeugen, als auch der Fall, dass jemand den Anderen überredet, ausgeschlossen. Der Diskurs ist anstrengend, aber ohne ihn ist die Wahrheit über die Bedingungen, unter denen wir kommunikativ handeln, wohl nicht zu haben. Dass manche diese Bedingungen gar nicht so genau wissen wollen, steht auf einem anderen Blatt, und dass genau so das meiste im Alltag auch problemlos funktioniert, steht auf dem Blatt, das Garfinkel beschrieben hat.

Zum Schluss eine kritische Überlegung: Habermas unterstellt, dass wir prinzipiell an Verständigung interessiert sind. Würde man das nicht sicher annehmen können, wäre Handeln überhaupt nicht möglich. Das ist – als Axiom der Logik – zwingend und insofern nicht zu widerlegen. Allerdings hat das Interesse in der konkreten Interaktion – und darum geht es in der Soziologie – seine Grenzen: Wo eine Verständigung einen zu schweren Kompromiss tatsächlich nach sich ziehen würde, sind wir nicht an einer Verständigung interessiert, und wo eine Verständigung unseren Wunsch nach Bedürfnisbefriedigung vollständig zunichte zu machen droht, lassen wir es durchaus auf einen Bruch der Interaktion ankommen.

Aus soziologischer Sicht muss man auch noch ein anderes, mit dem ersten untrennbar verbundenes Axiom skeptisch betrachten. Habermas unterstellt nämlich, dass wir nach der Wahrheit brennen. In einem abstrakten Sinn, nämlich insofern Inter-Aktion sonst nicht möglich wäre, ist das sicher richtig. Nimmt man aber die konkrete Situation in der ganz normalen Alltagsinteraktion, dann kann man seine Zweifel haben. Zumindest die Figuren in Goffmans Schauspiel nehmen es, wie obenFootnote 13 gezeigt wurde, mit der Wahrheit ja nicht ganz so genau. Und auch die These der Ethnomethodologie, dass das Alltagshandeln davon lebt, dass die Dinge gerade nicht präzise definiert werden, nimmt der Wahrheitsbedingung von Interaktion etwas von ihrem Gewicht.

Warum hat Habermas sie dennoch aufgestellt? Ich meine, dass er damit die prinzipielle Voraussetzung und das prinzipielle letzte Ziel jeglicher Interaktion benennen wollte. Um es etwas weniger abstrakt zu formulieren: Im Alltag reicht uns, dass wir irgendwie miteinander auskommen, und solange es klappt, fragen wir auch nicht, warum es klappt. Genau solche Fragen muss aber der Soziologe stellen, denn er will wissen, wie kommunikatives Handeln normalerweise gewährleistet ist und was die Gründe sind, wenn es zum Problem wird. In diesem letzten Fall müssen wir Alltagshandelnden – und die Soziologin natürlich auch – ein Kriterium haben, nach dem wir letztlich beurteilen können, was die wirklichen Gründe des Handelns sind und wie sie mit Blick auf die Freiheit und die gleichen Rechte aller an der Interaktion Beteiligten zu bewerten sind.

16.7 Autonomie des Subjekts in und gegen Rollen, Ich-Identität als Balance

Zum Schluss muss ich noch kurz eine Diskussion zum Zusammenhang von Interaktion und Identität erwähnen, die eng mit den kritischen Überlegungen von Habermas verbunden ist. Zur Erinnerung: Habermas hatte gegen die normative Rollentheorie von Parsons eingewandt, sie fordere die willige Anpassung des Individuums an gesellschaftliche Verhältnisse und verstünde Identität nur als persönliches Arrangement in gegebenen Rollen. Habermas wies mit der Skizzierung einer Theorie des Subjektes die Identitätsdiskussion dann in eine ganz neue Richtung. Er rückte nämlich die Frage in den Vordergrund, wie sich das Individuum in und gegenüber bestehenden sozialen Verhältnissen und entsprechenden Rollenerwartungen selbstbewusst und autonom behaupten kann. Die Antwort gab er mit der Formulierung von Grundqualifikationen des Handelns zur Ausbildung einer Ich-Identität.

Auf diesen Zusammenhang hat der oben schon zitierte Identitätsforscher Lothar Krappmann in seinem Buch „Soziologische Dimensionen der Identität“ vor allem abgehoben, in dem „identitätsfördernde Fähigkeiten“ als strukturell notwendig für die Fortführung einer Interaktion bezeichnet werden (vgl. Krappmann 1969, S. 132).

Dem Geist der Zeit entsprechend setzte sich auch Krappmann von der normativen Rollentheorie ab und verband sein Identitätskonzept ausdrücklich mit einem kritischen Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. Deshalb beschreibt er seinen Ansatz so:

„Dieses Identitätskonzept will das Individuum nicht an vorgegebene Verhältnisse anpassen, obwohl in die Identitätsbalance Normen und Bedürfnisse der Anderen eingehen. Dem Individuum wird nicht die falsche Sicherheit einer festen Position – sei es im Versuch vollständiger Übernahme angesonnener Erwartungen, sei es durch die Bemühung um völligen Rückzug aus Handlungssystemen, in denen divergierende Erwartungen auftreten – empfohlen. Vor den widersprüchlichen Anforderungen einer in sich zerstrittenen Gesellschaft kann es sich nicht schützen. Der hier entwickelte Identitätsbegriff versucht vielmehr dem Erfordernis Raum zu geben, kreativ die Normen, unter denen Interaktionen stattfinden, zu verändern. Dieses kritische Potenzial des Individuums zieht seine Kraft aus der strukturellen Notwendigkeit, nicht übereinstimmende Normen negierend zu überschreiten. Tatsächlich kann das Individuum nicht jede ihm erwünschte Neuinterpretation vorgegebener Normen bei seinen Interaktionspartnern durchsetzen, denn es stößt auf widerstrebende Interessen der Anderen. Auch sind die Chancen, einer Identitätsbehauptung Anerkennung zu sichern, ungleich, weil von den verschiedenen Positionen eines sozialen Systems aus unterschiedliche Einflussmöglichkeiten bestehen. Nur eine Analyse der jeweiligen sozialen Verhältnisse kann zeigen, welche Interpretationsmöglichkeiten dem Individuum offenstehen und welche Grenzen seiner Bemühung um Identität in einem gegebenen System sozialer Ungleichheit gesetzt sind.“ (Krappmann 1969, S. 208 f.)

Blicken wir genauer auf die Möglichkeit und die Notwendigkeit, Identität in der Interaktion mit Anderen zu finden und zum Ausdruck zu bringen. Mit George Herbert Mead stimmt Krappmann überein, dass sich das Individuum seiner selbst bewusst wird, indem es sich mit den Augen des Anderen betrachtet, und mit Erik H. EriksonFootnote 14, dass das Selbstbild in Auseinandersetzung mit konkreten Bezugspersonen gewonnen wird und der Anerkennung durch sie bedarf. Identität ist also eine ständige Balance (Krappmann 1969, S. 70).

Diese Balance in einer konkreten Interaktion zu leisten, aber auch auszuhalten, sind bestimmte „identitätsfördernde Fähigkeiten“Footnote 15 vonnöten (Krappmann 1969, S. 132). Krappmann, nennt vier: 1) Da ist zunächst die Fähigkeit, Rollenerwartungen bis zu einem gewissen Maße infrage zu stellen. Krappmann nennt diese Fähigkeit mit Goffman Rollendistanz. 2) Die zweite Fähigkeit besteht darin, sich in die Situation des Partners hineinzuversetzen, ihn von seinem Standpunkt aus zu verstehen. Das wird als Empathie bezeichnet. 3) Drittens muss man auch aushalten können, dass Rollen zweideutig (lat. ambiguus) sind und die Motivationsstrukturen einander widerstreben, weshalb auch nicht alle Bedürfnisse in einer Situation befriedigt werden können. Krappmann bezeichnet diese Fähigkeit als Ambiguitätstoleranz. 4) Schließlich muss man auch zeigen, wer man ist, was impliziert, dass man ein persönliches Profil sowohl gegenüber den Normalitätserwartungen der Anderen als auch in der Kontinuität der eigenen Biografie zeigt. Diese Fähigkeit wird als Identitätsdarstellung bezeichnet (vgl. Krappmann 1969, S. 133 ff., 142 ff., 150 ff., und 168 ff.).

Um in der Interaktion bleiben zu können, muss sich das Individuum in gewisser Weise so normal geben wie alle anderen; um seine Individualität ins Spiel zu bringen, muss es sich von anderen normalen Erwartungen distanzieren. Das Bewusstsein, in dieser Balance zu stehen, bezeichnet Krappmann – wie Erikson und auch Habermas – als Ich-Identität. Man muss Ich-Identität aber auch als Kompetenz verstehen, in jeder Interaktion diese Balance aufs Neue zu finden und seine Identität darzustellen (vgl. Krappmann 1969, S. 79 und 208).

Krappmann hat, wie gesagt, sein Konzept der Identität ursprünglich unter dem Aspekt entworfen, dass sie eine strukturelle Bedingung für die Teilnahme an Interaktionsprozessen ist. Später hat er dann, in kritischer Würdigung der Identitätstheorie von Erikson, die Frage gestellt, wie denn heutzutage die Bedingungen sind, sich seiner Identität bewusst zu werden und sie vor den Anderen auch zum Ausdruck zu bringen. Dazu knüpft er an Eriksons Gedanken an, dass sich Identität in der Adoleszenz entscheidet und dass jedes Individuum seine Identität entwirft, „indem es auf Erwartungen der Anderen, der Menschen in engeren und weiteren Bezugskreisen, antwortet. Diese Bezugskreise müssen den Identitätsentwurf akzeptieren, in dem aufgebaute Identifikationen und Bedürfnisse des Heranwachsenden mit den Mustern der Lebensführung, die in einer Gesellschaft angeboten werden, zusammengefügt werden.“ (Krappmann 1997, S. 67) Diese Muster haben sich vervielfältigt, sind diffus und widersprüchlich, und auch die Bezugsgruppen, an denen sich Jugendliche orientieren und von denen sie Anerkennung erwarten, sind zahlreicher und flüchtiger geworden.

Auf der Suche nach Identität findet der Jugendliche keinen festen Halt mehr, sondern muss zwischen Unklarheiten, widersprüchlichen Erwartungen und flüchtigen Chancen ständig neu vermitteln. „Nicht Inhalte machen diese Identität aus, sondern bestimmt wird sie durch die Art, das Verschiedenartige, Widersprüchliche und Sich-Verändernde wahrzunehmen, es mit Sinn zu füllen und zusammenzuhalten.“ Erreicht wird in der rasanten Moderne „trotz dieses Aufwands keine ein für alle Mal gesicherte Identität, sondern lediglich, sich trotz einer immer problematischen Identität die weitere Beteiligung an Interaktionen zu sichern.“ (Krappmann 1997, S. 81)

16.8 Versöhnung in einer zerfallenen Moderne und die Vorstellung von geglückter Interaktion

Was Krappmann hier über die Probleme von Jugendlichen, Identität zu gewinnen und vor Anderen auch durchzuhalten, sagt, trifft natürlich jeden Erwachsenen mehr oder weniger auch. Die Probleme sind eingewoben in die von Habermas so bezeichnete „Neue Unübersichtlichkeit“ der Moderne.

Die „Theorie des kommunikativen Handelns“, hatte Habermas geschrieben, ist „der Anfang einer Gesellschaftstheorie“. (Habermas 1981, Band 1, S. 7) Bezogen darauf und mit Blick auf den Zusammenhang von Interaktion und Identität nennt Habermas in einem Interview die Antriebe und die Motive all seiner Arbeiten: „Der motivbildende Gedanke ist die Versöhnung der mit sich selber zerfallenen Moderne, die Vorstellung also, dass man ohne Preisgabe der Differenzierungen, die die Moderne sowohl im kulturellen wie im sozialen und ökonomischen Bereich möglich gemacht haben, Formen des Zusammenlebens findet, in denen wirklich Autonomie und Abhängigkeit in ein befriedetes Verhältnis treten.“ Diese grundlegende Intuition, führt er weiter aus, „stammt aus dem Bereich des Umgangs mit Anderen; sie zielt auf Erfahrungen einer unversehrten Intersubjektivität, fragiler als alles, was bisher die Geschichte an Kommunikationsstrukturen aus sich hervorgetrieben hat – ein immer dichter, immer feiner gesponnenes Netz von intersubjektiven Beziehungen, das gleichwohl ein Verhältnis zwischen Freiheit und Abhängigkeit ermöglicht, wie man es sich immer nur unter interaktiven Modellen vorstellen kann.“ (Habermas 1985, S. 202)

Wo immer solche Vorstellungen angedacht worden sind, ob in der Philosophie oder in der Soziologie, „es sind immer Vorstellungen von geglückter Interaktion. Gegenseitigkeiten und Distanz, Entfernungen und gelingende, nicht verfehlte Nähe, Verletzbarkeiten und komplementäre Behutsamkeit – all diese Bilder von Schutz, Exponiertheit und Mitleid, von Hingabe und Widerstand steigen aus einem Erfahrungshorizont des, um es mit Brecht zu sagen, freundlichen Zusammenlebens auf.“ (Habermas 1985, S. 202 f.)

Es sind die Bilder, die Habermas bei seiner Theorie des kommunikativen Handelns vor Augen standen und die ihm bis heute, kurz nach seinem 90. Geburtstag, vor Augen stehen, wenn er die Moderne in all ihren Facetten kritisch beobachtet und wortgewaltig kommentiert!