Es ist der Tag, vor dem sich alle gefürchtet haben: Die Ukraine wurde von Russland angegriffen. Von drei Seiten dringen russische Truppen in das Land ein – bringen Panzer, Bomben und Raketen mit. Die Bevölkerung ist geschockt. Von der Zerstörung, der Gewalt und dem Wissen, dass ihr Leben in der eigenen Heimat nicht mehr sicher ist.
Bilder von langen Autokarawanen gehen um die Welt. Wer die Möglichkeit hat, flieht über einen der acht Grenzübergänge nach Polen. Viele europäische Länder, aber auch Israel bereiten sich auf die Ankunft von Flüchtlingen vor. Der russische Präsident Wladimir Putin drohte der Nato, sich nicht aktiv in den Krieg einzumischen. Das würde „Konsequenzen nach sich ziehen, wie Sie sie noch nicht erlebt hätten“. Dahinter sehen viele die Androhung des Einsatzes von Atomwaffen.
Über die Reaktionen der ukrainischen Bevölkerung, Sanktionen seitens der EU und der USA und weiteren möglichen (De-)Eskalationsszenarien diskutierten ungewöhnlich viele Gäste bei Sandra Maischberger am Donnerstagabend. Zu ihnen zählten Christian Lindner (Bundesfinanzminister, FDP), Klaus von Dohnanyi (ehemaliger Hamburger Bürgermeister, SPD), Rüdiger von Fritsch (ehemaliger deutscher Botschafter in Moskau), Kevin Kühnert (SPD-Generalsekretär) und Alexander Graf Lambsdorff (FDP).
Außerdem nahmen Robin Alexander (stellvertretender WELT-Chefredakteur), Ljudmyla Melnyk (Ukraine-Expertin) und Stephan Stuchlik (ARD-Journalist) an der Diskussion teil.
„Maischberger“: „Wir haben es, fürchte ich, nicht richtig getan“
Menschen, die versuchen, aus der Hauptstadt der Ukraine zu fliehen. Lange Autokolonnen, die eine schnelle Flucht verhindern. Der ukrainische Botschafter in Deutschland, der vorhersagt, dass nur noch wenige Stunden zu leben bleiben. Das ist das Bild, das Sandra Maischberger am Anfang ihrer Talkshow vor ihren Gästen und Zuschauern ausbreitete.
Ljudmyla Melnyk erklärte, dass die Ukraine durch russische Desinformationskampagnen als schwach dargestellt werden solle. Tatsächlich würden Bemühungen von Militär, aber auch Privatpersonen, die humanitäre Hilfe leisteten, übersehen.
Häufig war in den Tagen vor dem russischen Einmarsch die Einschätzung zu hören, dass Putin keine Invasion starten würde, da diese zu viele Nachteile für Russland mit sich bringe. ARD-Korrespondent Stephan Stuchlik sieht das anders. Natürlich sei es Putins Krieg. „Ich glaube, heute ist der Tag, an dem der innenpolitische Putin endlich mal mit dem außenpolitischen Putin zusammenkommt.“ Die Bevölkerung sei zu großen Teilen hinter ihm, da sich die komplette Medienlandschaft unter seiner Kontrolle befinde.
Was ihn stutzen lasse, sei die Überraschung im Westen angesichts des Einmarsches. „Denn man hat diesen Film eigentlich ablaufen sehen.“ Lange diplomatische Bemühungen, gleichzeitig ein In-Stellung-Bringen von Truppen. Gesehen bereits in der Vergangenheit: in Georgien 2008, auf der Krim 2014. Es hätte viele Möglichkeiten gegeben, sich vorzubereiten. „Wir haben es, fürchte ich, nicht richtig getan.“
WELT-Journalist Robin Alexander pflichtete Stuchlik bei. Die Regierung sei „kalt erwischt worden“. Es könne nicht stimmen, dass Deutschland auf das Szenario eines Krieges vorbereitet sei, wenn der Heeres-Inspekteur auf Social Media verkünde: „Wir sind blank.“
Maischberger bezog sich auf die Sendung vom Abend zuvor, in der Robert Habeck zu Gast war. Er hatte sehr ernst und von der Situation „angefasst“ gewirkt. Alexander stellte daraufhin fest, dass Habeck eine besondere Rolle spiele, weil er nach einem Besuch des ukrainischen Grenzgebiets im vergangenen Jahr die Lieferung von Defensivwaffen an die Ukraine unterstützt hatte. Diese Position habe er nicht lange halten können. Die Ampel fahre eher einen Sparkurs in der Bundeswehr. Melynk bekräftigte ihre Forderung vom vergangenen Abend und setzte ihre Hoffnung auf wirtschaftliche Hilfen und die Bereitstellung defensiver Waffen.
Stuchlik stellte fest, dass zwar der Groschen gefallen sei, dass dieser Konflikt nicht nur die Ukraine angehe. „Ich hoffe und glaube, dass man sich auf den Worst Case vorbereitet.“ Allerdings seien Waffenlieferungen an die Ukraine trotzdem unwahrscheinlich.
Lindner erklärt die Sanktionen
Mit FDP-Chef Christian Lindner sprach Maischberger vor allem über die beschlossenen Sanktionen und welche Auswirkungen diese für Deutschland haben. Nach einem ersten Sanktionspaket hatte die EU am Donnerstag noch schärfere Maßnahmen beschlossen. Diese treffen vor allem Banken und Oligarchen.
Das würde Russland zwar nicht sofort, aber doch mittelfristig beeinflussen, betonte Lindner. Militärische Konsequenzen seien weiterhin ausgeschlossen. Auch der Ausschluss Russlands vom Bankennetzwerk Swift wurde zunächst nicht durchgewunken. Italien und Deutschland hatten dagegen gestimmt – möglicherweise, um weitere Sanktionen in der Hinterhand zu haben.
So oder so müsse sich Deutschland auf die neue Situation einstellen, erklärte Lindner. Es ginge darum, die Energieimporte zu diversifizieren, aus verschiedenen Regionen Energie zu beziehen. Der Finanzminister versprach außerdem, finanzielle Vorsorge zu treffen, um für den Fall der Fälle gewappnet zu sein. Der ökonomische Schaden solle begrenzt werden, es reiche eine Sicherheitskrise, da brauche es nicht zusätzlich auch noch eine Wirtschaftskrise.
Maischberger wollte eigentlich zu den nächsten Gästen überleiten, aber Lindner wollte das Thema Bundeswehr noch ansprechen. Er plädierte für eine Zäsur, die dort erfolgen müsse. Bisher sei die Bundeswehr auf Verschleiß gemanagt worden, was die Sorge schüre, sie sei so sehr vernachlässigt worden, dass sie ihren Verpflichtungen nicht nachkommen könne.
Putin und seine Großmachtfantasien
Auch im Gespräch mit Klaus von Dohnanyi und Rüdiger von Fritsch bezog sich Maischberger auf eine Aussage aus der vergangenen Sendung. CDU-Chef Friedrich Merz habe darin eine Parallele zwischen dem Sudetenland, das Hitler sich 1938 einverleibte, und der Ukraine gezogen. Sie fragte Dohnanyi, ob er glaube, dass ähnlich wie damals noch mehr folge – also ein Weltkrieg.
Dies verneinte der frühere Politiker. Allerdings betonte er, dass er sich auch schon in anderen Dingen geirrt habe. Von Dohnanyi verurteilte den aktuellen Krieg als überflüssig – erklärte aber auch, dass die Nato-Osterweiterung seit den 1990ern Jahren ein Problem für die russische Öffentlichkeit sei. Er halte es mit dem CIA-Chef Burns: „Die Nato-Erweiterung war eine überflüssige Provokation des Westens.“
Der ehemalige Botschafter Deutschlands in Russland, Rüdiger von Fritsch, antwortete auf die Frage Maischbergers, ob Putin total wahnsinnig sei: „Das ist so ein Etikett, das man draufklebt.“ Man habe es aber durchaus mit der Obsession und dem Realitätsverlust eines einzelnen Mannes zu tun. Der Kremlchef sei nicht von geostrategischen Belangen getrieben, wie von Dohnanyi dargestellt habe, sondern von einer Großmachtfantasie, betonte der frühere Diplomat.
„Wir schauen zu, was Putin in der Ukraine tut“
Zurück am Tisch mit Alexander, Melynk und Stuchlik. Ukraine-Expertin Melynk erklärte, dass auch seit 2014 in dem Land Schritte in Richtung einer funktionierenden Demokratie gemacht worden seien. Der Wille der Menschen sei da, es werde reformiert, dezentralisiert.
Auf die Frage Maischbergers, wie Deutschland angesichts der von Alfons Mais beschwörten „blanken“ Bundeswehr reagieren könne, wurde WELT-Journalist Alexander deutlich: „Na, wir haben uns ja entschieden, die Ukraine alleine zu lassen. Es wird dort keine deutschen Truppen geben, es wird auch keine Nato-Truppen geben. Wir schauen zu, was Putin dort tut. Das ist unsere Entscheidung als Gesellschaft.“
Er erinnerte daran, dass die Ukraine nicht in die Nato aufgenommen worden sei, weil die deutsche Regierung ein Veto eingelegt habe. „Meinen Sie, das wird diese Generation vergessen?“ Die russische Aggression höre an der Grenze Polens auf – weil Polen in der Nato sei.
Alexander verwies auf die Rede von Putin vom Montag, in der der russische Präsident die Ukraine als einen unter dem kommunistischen Revolutionsführer Lenin geschaffenen Staat bezeichnet hatte – und die „Erschaffung“ der Ukraine als Fehler. „Und wir glauben immer noch, wir hätten Putin provoziert“, sagte Alexander. „Was soll denn noch passieren, damit unsere Debattenkultur irgendwie in der Realität ankommt?“
Kühnert: Schröder muss seine Posten aufgeben
Maischberger wandte sich den letzten beiden Gästen zu. FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff sagte, dass er keinen großkriegsähnlichen Zustand erwarte, da die USA nicht eingreifen würden. Er erwarte eine „Wiederbelebung einer Struktur, wie wir sie aus dem Kalten Krieg des letzten Jahrhunderts kennen mit einem russisch dominierten, autoritär regierten, unterdrückerischen Block im Osten und einem freien Europa im Westen. Unsere Aufgabe wird dann sein, die Freiheit im Westen zu verteidigen“.
Auch über Gerhard Schröder wurde in der Runde gesprochen. SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert sah den Altkanzler in der Pflicht, spätestens nach diesem Tag seine Posten in russischen Unternehmen aufzugeben.
Kühnert nahm den Tag wie alle in der Runde als Wendepunkt wahr. „Es wird uns lange begleiten.“ Seine Generation kenne keine Instrumente, wie man mit der aktuellen Situation umgehe. „Deswegen tue ich mich am heutigen Tag auch zumindest schwer damit, mich mal schnell ins Fernsehen zu setzen und mal drei steile Thesen rauszuhauen, wie man damit jetzt richtigerweise umgehen sollte. Ich glaube, wir tasten uns alle notwendigerweise voran.“