Wolfgang Kraushaar: „Die gesamte Terrorismusszenerie hat sich grundlegend verändert“
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Wolfgang Kraushaar: „Die gesamte Terrorismusszenerie hat sich grundlegend verändert“

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Der damalige Kanzler Helmut Schmidt (r.) bedankte sich bei der GSG9 nach der Geiselbefreiung in Mogadischu. Das Rücktrittsgesuch hatte er im Schreibtisch liegen.
Der damalige Kanzler Helmut Schmidt (r.) bedankte sich bei der GSG9 nach der Geiselbefreiung in Mogadischu. Das Rücktrittsgesuch hatte er im Schreibtisch liegen. © imago images/Sven Simon

Der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar über die verschiedenen Generationen der RAF, die Bedeutung der Verhaftung von Daniela Klette und Gefahren von rechts.

Herr Kraushaar, die Verhaftung der früheren Terroristin der „Rote Armee Fraktion“, Daniela Klette, erregt ungeheure Aufmerksamkeit. Lebt der Mythos RAF bis heute fort?

Natürlich spielt der Mythos RAF immer noch eine große Rolle. Die mediale und damit verbundene öffentliche Aufmerksamkeit insgesamt hängt jedoch vor allem mit einem Umstand zusammen: Frau Klette berührt das große Geheimnis der dritten Generation. Sie gehörte dieser RAF-Generation an, bevor sie mit Staub und Garweg kriminelle Taten, sprich Geldbeschaffungsmaßnahmen, verübte. Solange die meisten der von der dritten Generation begangenen Mordfälle zwischen 1985 und 1991 ungeklärt bleiben, muss schon allein aus strafrechtlichen Gründen die Festnahme einer Person aus diesem Umfeld auf großes Interesse stoßen.

Was unterschied denn die dritte Generation von der ersten und zweiten?

Zunächst einmal sollte man erwähnen, dass es sich bei dieser Einteilung um nichts anderes als einen Terminus technicus handelt. Er stammt nicht etwa von der RAF selbst, sondern ist ihr von Kommentatoren zugeschrieben worden. Mitglieder wie etwa Brigitte Mohnhaupt, die in allen drei „Generationen“ aktiv gewesen sind, zeigen, dass es sich hier um ein nur bedingt taugliches Ordnungsprinzip handelt. Die erste Generation verfolgte durchaus politische Interessen, insbesondere mit ihren Angriffen auf US-amerikanische Einrichtungen während des Vietnamkriegs. Die zweite Generation unterschied sich hiervon stark.

Nämlich wie?

Sie verfolgte eigentlich nur ein einziges Ziel: ihre eigenen Gefangenen freizubekommen, vor allem jene, die in Stuttgart-Stammheim inhaftiert waren: Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe. Das war reichlich selbstbezogen. Manche sprachen deshalb auch ironisch von einer „Befreit die Guerilla-Guerilla“.

Und die dritte Generation?

Sie glaubte, eine Art antiimperialistischen Kampf führen zu können, und richtete sich daher mit Mordaktionen gegen Repräsentanten verschiedener Machteliten – etwa im Bereich des Militärs, der Wirtschaft, der Industrie und des Finanzsektors. Dies sind ganz markante Unterschiede in den Zielsetzungen der drei zwischen 1970 und 1998 aktiven RAF-Generationen.

War die letzte Generation mörderischer als die vorherigen?

Auch zuvor gab es ja schon Mordtaten, wie etwa im April 1977 das Attentat auf Generalbundesanwalt Siegfried Buback. Das war eine regelrechte Liquidierungsaktion. Sie dachten gar nicht an eine Entführung, sondern nur an Mord. Baader hatte schlichtweg die Parole ausgegeben: „Der General muss weg.“ Und derartigen vom 7. Stock in Stammheim ausgegebenen Anweisungen leistete man bedingungslos Folge. Mörderisch war die RAF also schon längst zuvor, aber nicht in dieser Serienmäßigkeit, die die dritte Generation seit Mitte der 80er Jahre an den Tag legte. Und das alles in einem Kontext, der maßgeblich von den Misserfolgen der Ermittler mitgeprägt war. Eine der wenigen Ausnahmen bestand in der Festnahme von Birgit Hogefeld im Juni 1993 in Bad Kleinen. Sie wurde schließlich 1996 zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt, vor allem wegen der Ermordung des US-amerikanischen Soldaten Edward Pimental im August 1985. Sie hatte ihn aus einer Diskothek gelockt, um in den Besitz seiner Ausweispapiere zu kommen, mit denen man am nächsten Tag eine Kontrollstation der Rhein-Main-Airbase passieren wollte, um dort einen Anschlag zu verüben.

Die staatlichen Behörden konnten in den ersten Generationen relativ gut kalkulieren, wer mögliches Ziel der RAF war. Wo lag das Problem mit der dritten Generation?

Der damalige Präsident des Bundeskriminalamtes, Horst Herold, tat sich dabei mit der Rasterfahndung besonders hervor, indem er ein Soziogramm mit Erkennungsmerkmalen erstellte, das bereits damals computergestützt war. Ihm gelang es, den Kreis der Verdächtigen auf diese Weise enorm einzugrenzen. Er sagte sogar Buback wenige Tage vor seiner Ermordung voraus, dass er das nächste Ziel der RAF sein würde. Doch in den späten 1980er und 1990er Jahren verfügte niemand mehr über solch prognostische Fähigkeiten. Die Situation war deutlich schwieriger. Aufgrund dieses Defizits gab es zeitweilig sogar Spekulationen, ob vielleicht die Staatssicherheit der DDR hinter den Aktionen stecken könnte. Besonders im Fall Rohwedder, aber das ließ sich nicht bestätigen. Birgit Hogefeld bezeichnete solche Behauptungen im Übrigen als völligen „Quatsch“.

Ende der 1990er Jahre löste sich die RAF auf. Es gab von staatlicher Seite einen großen Schritt unter dem Justizminister Klaus Kinkel.

Zur Person

Wolfgang Kraushaar, geb. 1948, ist Politologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung. Sein Arbeitsschwerpunkt liegt in der Forschung zu Protest und Widerstand in der Geschichte der Bundesrepublik und der DDR.

Einschläge Arbeiten hat er insbesondere zur 68er-Bewegung, RAF und K-Gruppen vorgelegt. So etwa die Bücher „Die blinden Flecken der 68er Bewegung“ sowie „Die blinden Flecken der RAF“ (beide Klett-Cotta) . Auch mit Totalitarismus- und Extremismustheorie befasst er sich.

Das war die Kinkel-Initiative, ein Versuch, etwas vom staatlichen Verfolgungsdruck zurückzunehmen. Auch die RAF signalisierte, auf bestimmte Aktionen verzichten zu wollen. Zu Beginn der 90er Jahre kam es zu einem tiefen Riss in der RAF, der zu einem Bruch und letztlich zu ihrer Auflösung führte. Es gab zwei Fraktionen: eine wurde von ihren in Celle einsitzenden Gefangenen angeführt, insbesondere von Karl-Heinz Dellwo, der ein ungewöhnlich selbstkritisches Papier über die Entwicklung der RAF verfasst hatte. Auf der anderen Seite stand eine Gruppe um Brigitte Mohnhaupt, die unbedingt weitermachen wollte wie bisher. Letztendlich setzte sich die erstgenannte Fraktion durch, und im April 1998 wurde schließlich die Auflösung der RAF bekanntgegeben.

Von dieser Zeit an war man nicht mehr im Bilde, was das RAF-Rentner-Trio gemacht hat?

In meinen Augen ist das nicht ganz so einfach. Es scheint, als würde etwas nicht zu den öffentlich kommunizierten Fakten passen. Klette, Garweg und Staub werden ja vor allem Indizien zur Last gelegt, die sich seit 1999 bei Überfällen auf Geldtransporter und Supermärkte herausgestellt hatten. Allein bei dem ersten Überfall in Duisburg-Rheinhausen wurde damals eine Million D-Mark erbeutet. Erst ab 2006 ging es dann weiter, mit einem Höhepunkt von einem halben Dutzend Überfällen im Jahr 2015, die 2016 offenbar endeten. Es gibt aber Hinweise darauf, dass diese Serie möglicherweise schon 1997 begonnen haben könnte. Das nordrhein-westfälische Landeskriminalamt in Düsseldorf hatte 2001 Folgendes herausgefunden: Es gab immer drei Täter, sie waren maskiert, sie agierten mit Schnellfeuergewehren und teilweise sogar mit Panzerfäusten, und sie hatten jeweils zwei gestohlene Autos mit dabei. Dies führte dazu, dass die Bundesanwaltschaft auf den Plan trat und ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Bildung einer terroristischen Vereinigung eröffnete. Zu diesem Zeitpunkt existierte also der Verdacht, ob es sich bei diesen Raubzügen um mehr als Akte bloßer Schwerstkriminalität, nämlich um den Aufbau einer vierten RAF-Generation oder einer Nachfolgeorganisation hätte handeln können.

Was wurde Daniela Klette zur Last gelegt?

Konzentriert man sich allein auf die Indizien, so geht es um den Fund von Haarspuren in einem VW Golf, der bei einem im Februar 1990 fehlgeschlagenen Sprengstoffanschlag auf das Rechenzentrum der Deutschen Bank in Eschborn eine Rolle gespielt hat. DNA-Spuren von Klette deuten zudem auf ihre Beteiligung an einem Anschlag im Februar 1991 auf die US-Botschaft in Bonn im Kontext des Golfkrieges hin. Der spektakulärste Fall dürfte sich allerdings im März 1993 der Sprengstoffanschlag auf die JVA Weiterstadt abgespielt haben, bei dem DNA-Spuren von Klette und Garweg gefunden wurden. Die JVA war ein Reformprojekt im Strafvollzug, befand sich noch im Bau, als das Wachpersonal überfallen und das Gebäude mit einem enorm großen Sprengstoffanschlag größtenteils zerstört wurde. Dies spielte sich also zu Beginn der 90er Jahre ab. Und das „RAF-Trio“, das später die Überfälle durchgeführt hat, könnte daran beteiligt gewesen sein.

Wie bewerten Sie die Festnahme Klettes? Waren Sie überrascht?

Die Festnahme war bis auf ein paar Journalisten, die für einen Podcast recherchierten und mittels einer Gesichtserkennungssoftware Klette schon im letzten Jahr auf die Spur gekommen waren, eigentlich für alle unerwartet. Für mich selbst war es jedenfalls eine große Überraschung. An der „Front“ des sogenannten „RAF-Rentner-Trios“ war ja seit 2016 im Grunde genommen Ruhe eingekehrt. Zuletzt war die Fahndung noch einmal in der Sendung „XY ungelöst“ forciert worden. Der Hinweis zu Klettes Festnahme stammte jedoch schon vom November 2023. Insofern dürfte der Erfolg des niedersächsischen LKA nicht in einem direkten Zusammenhang mit der Sendung gestanden haben.

Waren RAF-Mitglieder nach Festnahmen äußerst verschwiegen?

Die meisten haben jedenfalls nach ihren Festnahmen bei ihren Verhören geschwiegen. Es gibt allerdings eine große Ausnahme: Die Niederlage der RAF im „Deutschen Herbst“, insbesondere dem der GSG 9 in Mogadischu geglückten Befreiungsversuch von Geiseln einer Lufthansa-Maschine, hatte dazu geführt, dass sich 1980 zehn RAF-Mitglieder nach Paris absetzten. Sie tauchten in der DDR unter und flogen im Juni 1990 kurz vor dem Ende des SED-Staates auf. Das Angebot einer Kronzeugenregelung brachte sie schließlich dazu, dass sie allesamt auspackten, was nicht nur den behördlichen Kenntnisstand über die zweite Generation enorm erweiterte. Im Unterschied zu ihnen schweigen sich jedoch fast alle anderen RAF-Mitglieder aus und sind gegenüber staatlichen Behörden nicht bereit, irgendwelche Aussagen zu machen. Journalisten gegenüber mögen sie vielleicht hin und wieder eine Ausnahme machen. Ein Mitglied wie Brigitte Mohnhaupt etwa, die einstige Chefin der zweiten Generation, achtet jedoch nur zu genau darauf, dass niemand von ihnen auspackt. Es gibt jedenfalls Presseberichte, in denen geschildert wird, wie Mohnhaupt etwa Verena Becker daran gehindert habe, Aussagen zu machen, indem sie ihr mit verschiedenen Dingen drohte. Das Schweigegebot dürfte vermutlich auch heute noch weiter gelten.

Welche Bedeutung schreiben Sie dem Linksterrorismus zu? Sie haben ihn stark mit islamistischem Terrorismus verglichen.

Spätestens seit Nine Eleven sind wir mit einem überbordenden islamisch geprägten Terrorismus konfrontiert und hierzulande auch mit einem stärker werdenden Rechtsterrorismus. Die öffentliche Aufmerksamkeit ist jedoch ganz anders ausgerichtet, wenn man ganz allgemein über Terrorismus spricht. Denn der linke Terrorismus der frühen RAF-Zeit gilt vielen noch immer als das primäre Referenzsystem. Das liegt vermutlich daran, dass es der RAF Mitte der 70er Jahre gelungen war, die innere Sicherheit des bundesdeutschen Rechtsstaates massiv infrage zu stellen. Das hatte etwa bei Helmut Schmidt dazu geführt, dass es im Zuge der Schleyer-Entführung zu einer regelrechten Dramatisierung des Terrorismus gekommen war. Die Opposition griff die sozial-liberale Koalition vor allem wegen ihrer Ostpolitik und ihres angeblichen Versagens bei der inneren Sicherheit an. Die Landshut-Entführung durch Palästinenser hätte Schmidt sogar beinahe zum Rücktritt als Bundeskanzler geführt. Für den Fall, dass die Geiselbefreiung in Mogadischu schiefgegangen wäre, hatte er sein Rücktrittsgesuch bereits unterschrieben. Da stand also viel auf dem Spiel. Führende Politiker wie Franz Josef Strauß etwa mussten damals befürchten, von der RAF entführt zu werden. Peter-Jürgen Boock, Mitglied der zweiten RAF-Generation, rückte viele Jahre später damit heraus, dass man seinerzeit nahe dran gewesen sei, Bundeskanzler Schmidt zu entführen. Die Stammheimer hätten dem jedoch eine Absage erteilt, deshalb habe alles abgebrochen werden müssen.

Wie ordnen Sie den Rechtsterrorismus ein? Der Linksterrorismus scheint tot zu sein?

Die gesamte Terrorismusszenerie hat sich grundlegend verändert, nicht nur wegen des 2011 aufgeflogenen „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU). Nun treten vor allem die Reichsbürger in den Vordergrund. Sie lehnen Staat und Verfassung der Bundesrepublik grundsätzlich ab und zeigen eine starke Affinität zu Waffen. Sie bilden kleinere Zellen und sind im Zuge der Corona-Demonstrationen sehr stark geworden. Eines ihrer Ziele bestand darin, Gesundheitsminister Lauterbach zu entführen, um mit ihm als Geisel einen Regierungssturz herbeizuführen. Die in diesem Jahr anstehenden Gerichtsverfahren werden hoffentlich mehr Klarheit über diese Fälle bringen. Dies ist jedenfalls ein ganz anderes Phänomen als das des NSU, vom linken Terrorismus der 70er und 80er Jahre ganz zu schweigen. Eines steht jedoch bislang fest: Trotz des sogenannten „RAF-Trios“ von Garweg, Staub und Klette haben sich bislang alle Spekulationen über eine Nachfolgeorganisation der RAF in Luft aufgelöst.

Wolfgang Kraushaar.
Wolfgang Kraushaar. © imago/Future Image

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