WELT: Frau Barley, wo waren Sie, als Sie vom Einschlag der Rakete in Polen erfahren haben?
Katarina Barley: Ich war gerade in einem Pressegespräch mit 20 Brüsseler Journalistinnen und Journalisten zusammen und acht bis zehn Abgeordneten meiner Gruppe. Und dann tippte mich der Journalist neben mir an und zeigte mir die Meldung auf seinem Handy. Dadurch bekam diese Diskussion eine andere Dimension.
Aber da muss ich sagen, ging es jetzt nicht so los: „Ach Gott, und das waren jetzt bestimmt die Russen. Und was passiert dann?“ Sondern es war wirklich so: „Jetzt müssen wir erst mal kühlen Kopf bewahren und gucken, was wirklich passiert ist, bevor wir uns hier irgendwie äußern oder verrückt machen.“
WELT: In Brüssel kommen Abgeordnete aus ganz Europa zusammen. Wie haben Sie deren Reaktionen wahrgenommen?
Barley: Wir haben verschiedene Nationen und wir haben alle verschiedenen politischen Richtungen. Dann gibt es die, die das sofort ausschlachten. Wobei im Moment gerade die rechts außen, die eher einen Russland-freundlichen Kurs führen, eher ruhig waren.
Und einig waren sich alle, egal, was das jetzt war, ob das ein russischer Flugkörper war oder ein ukrainischer zur Verteidigung: Klar ist daran, dass Russland die Ukraine überfallen hat; also dass wir jetzt nicht anfangen, da irgendwo anders Schuldige zu suchen. Das kann ein technischer Fehler gewesen sein, ein menschlicher. Aber Fakt ist, das ist passiert, weil Putin die Ukraine überfallen hat.
WELT: An diesem Abend, an dem man noch nichts wusste, bin ich mit einem unguten Gefühl ins Bett gegangen. Wird ein Nato-Bündnisfall ausgerufen? Was bedeutet das für mich, für meine zwei Kinder?
Barley: Ich glaube, den Gedanken hatten wir alle. Ist das jetzt so der Beginn des dritten Weltkriegs? Das hat uns alle beschäftigt. Und ich habe mich gefragt, ist das jetzt ein Test von Putin? Also, wenn das jetzt ein russischer Flugkörper gewesen wäre, so nach dem Motto: Wie weit kann ich gehen? Das hätte für uns dann auch gleich wieder die Frage aufgeworfen: Was jetzt tun? Aber wir hatten relativ schnell die ersten Signale durch die polnische Regierung, dass es vielleicht anders sein könnte.
Aber dieser Gedanke ist natürlich da. Und deswegen ist es so wichtig, dass das sowohl die Bundesregierung als auch die Amerikaner und auch zum Beispiel Emmanuel Macron (Frankreichs Präsident, d. Red.) immer wieder sagen: Die Nato wird keine Kriegspartei.
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WELT: Ist das derzeit die gefährlichste politische Lage, die Sie bisher erlebt haben? Wir hatten den Kosovo-Krieg, wir hatten Völkermorde in Ruanda – aber die Welt stand noch nie so am Abgrund wie in letzter Zeit, oder?
Barley: Gefühlsmäßig geht es mir genauso wie Ihnen. Allerdings hat das auch damit zu tun, dass das einfach verdammt nah dran an uns ist. Und das ist vielleicht auch mal was, was uns die Augen öffnet. Dass es so viele wirklich schlimme und auch gefährliche Konflikte auf der Welt gibt und wir die nicht so auf dem Schirm haben.
Das Einzige, was so ein bisschen annähernd rankommt, ist für mich die Diskussion um den Irak-Krieg. Wo wir auch sehr heftig diskutiert haben in Deutschland. Was ich der damaligen Regierung und Gerhard Schröder echt hoch anrechne, dass er Nein gesagt hat. Denn es stellte sich heraus, dass diese angeblichen Beweise Amerikas (dass Iraks Diktator Saddam Hussein im Besitz von chemischen und biologischen Massenvernichtungswaffen sei, d. Red.) nicht existierten.
WELT: In den letzten Jahren ist die Distanz zwischen einigen europäischen Ländern größer geworden. Die Regierungen von Polen und Ungarn haben sich von den gemeinsamen europäischen Werten entfernt. Führt dieser Konflikt mit Russland wieder zu einer innereuropäischen Einigkeit?
Barley: Das ist gespalten. Also auf der einen Seite sind wir alle megasolidarisch, auch mit Polen. Wir unterstützen die Regierung in ihren Bemühungen. Wobei man in Polen sagen muss, das macht auch ganz viel die Gesellschaft. Also ganz normale Leute regeln das, fahren an die Grenze zur Ukraine und holen die Leute und bringen die privat.
Wir sind solidarisch mit Polen und Ungarn, und trotzdem muss man sagen: Beide Regierungen machen weiter mit dem Abbau der Demokratie. Und das ist eine ganz schwierige Situation für uns, weil wir natürlich sehen, dass diese Länder, vor allen Dingen Polen, viel mehr betroffen sind durch die räumliche Nähe (zur Ukraine, d. Red.) und auch sehr belastet sind.
Und auf der anderen Seite können die deswegen trotzdem nicht ihre Justiz total abhängig machen und ihre Medienlandschaft langsam aufkaufen als Regierung. Da müssen wir eine Balance finden, aber ich glaube, das kriegen wir ganz gut hin. Natürlich stellen die das anders dar. Natürlich wollen die jetzt sagen: Hey, es ist Krieg und jetzt müsst ihr uns alles, alles geben, alle Augen zudrücken gegenüber dem, was wir so machen.
Aber wir sagen: Ihr kriegt alles, was ihr braucht für die Geflüchteten, und ihr kriegt militärische Unterstützung. Aber trotzdem müsst ihr eure Justiz wieder unabhängig machen und eure Medienlandschaft wieder pluraler gestalten.
WELT: Findet denn ein Umdenken bei den Regierungsvertretern Polens oder Ungarns statt?
Barley: Nein, das sehe ich überhaupt nicht. Dieses Umdenken, was wir zwischenzeitlich mal gesehen haben, ist, dass dieser Block Polen und Ungarn, der ja auch ein Blockade-Block war, ein bisschen aufgesplittet ist. Dass Viktor Orbán (Ungarns Regierungschef, d. Red.) die Sanktionen gegen Russland nicht mitgetragen hat, ist in Polen überhaupt nicht gut angekommen – auch in der polnischen Bevölkerung nicht.
Und da war mal zeitweise so die Hoffnung: Vielleicht wendet sich Polen ein bisschen ab von Viktor Orbán. Das ist letztendlich nicht der Fall. Die finden es zwar immer noch nicht gut, aber bilden ein Zweckbündnis. Und jetzt haben wir mit Italien auch noch eine Regierung, die Viktor Orbán toll findet und ihn innerhalb der Europäischen Union unterstützt. Das Problem wird eher größer als kleiner.
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