Wann fängt Weihnachten an? - Bistum Augsburg
Predigt in der Christmette 2019 im Hohen Dom zu Augsburg
von Diözesanadministrator Prälat Dr. Bertram Meier

Wann fängt Weihnachten an?

24.12.2019 22:00

Diese Frage ist der Titel eines Gedichtes von Rolf Krenzer: Wann fängt Weihnachten an?

Für viele fängt Weihnachten viel früher an als im Kalender, spätestens am ersten Advent. Weihnachten fängt an,
- wenn wir die ersten Lebkuchen verzehren und Plätzchen kosten;
- wenn das Weihnachtsgeld auf dem Konto verbucht ist;
- wenn der Chef zur Weihnachtsfeier einlädt, oft schon Wochen vor dem Fest.

Der Advent hätte eigentlich Schutzfunktion: Der Advent schützt Weihnachten, dass es nicht zu früh kommt; und Weihnachten braucht den Advent wie einen Vorbau, damit wir uns vorbereiten können auf die Ankunft des Herrn.

Wann fängt Weihnachten an? Eigentlich erst heute, am Heiligen Abend, in der Heiligen Nacht. Heute, hier und jetzt fängt Weihnachten an: die „stille Nacht, heilige Nacht“, die wir besingen.

Wie aber kann Heiliges erfahren werden zwischen Kommerz, Konsum und Kitsch? Wie können wir den Heiligen spüren, wenn so vieles um uns herum entheiligt ist, wenn wir uns bewusst machen, dass wir in einer vielfach entzauberten und ziemlich religionslos gewordenen Umwelt leben? Ehrlich gefragt: Wie viele unserer Zeitgenossen akzeptieren noch etwas als unfassbar, unendlich, unverfügbar, als Tabu, das nicht zerdiskutiert werden kann, als tiefgründiges und nicht auslotbares Geheimnis?

Es ist nicht leicht, über die Heilige Nacht zu sprechen. Heilig – das waren früher Gott oder Götzen und deren Erscheinungen; auch Kirche, Heimat, Ehe und Treue gehörten dazu. Doch der Heiligenschein ist verblasst. Und wir selbst sind nicht unschuldig daran. Können wir nach 2010, als der Missbrauchsskandal an die Öffentlichkeit kam, das Wort von der heiligen Kirche überhaupt noch in den Mund nehmen? Die Glaubwürdigkeit bröckelt. Was und wen dürfen wir heilig nennen? Religiöse Gefühle werden mitunter müde belächelt oder sogar offen verletzt. Seit es nicht mehr besonders aufregend ist, sexuelle Tabus zu brechen, gehört es in manchen künstlerischen Produktionen fast schon zur Normalität, das zu entweihen, was anderen - vor allem uns Christen - heilig ist. Mit dem Islam geht man in Deutschland bisher noch einigermaßen respektvoll um, wie mit einem rohen Ei: weil er wie jede Religion heilig ist oder mehr aus Vorsicht und Angst, das sei dahingestellt. Allerdings nehmen die Aktionen gegenüber unseren jüdischen Glaubensgeschwistern merklich zu: ein Grund zu großer Sorge.

Obwohl in unserer Zeit nicht mehr viel als heilig gilt, feiern wir die Heilige Nacht. Worauf kommt es uns an? „Auf den Sohn Gottes, der Mensch wurde, auf seine Geburt“, sagt Karl Rahner: „Alles andere an diesem Fest lebt davon, oder es stirbt und wird zur Illusion. Weihnachten heißt: Er ist gekommen. Er hat die Nacht hell gemacht. Er hat die Nacht unserer Finsternisse, die Nacht unserer Unbegreiflichkeiten, die grausame Nacht unserer Ängste und Hoffnungslosigkeiten zur Weihnacht, zur Heiligen Nacht gemacht.“

Dass wir heute Abend in die Kirche gekommen sind, um Gottesdienst zu feiern, ist schon ein Zeichen für die Heiligkeit dieser Nacht. Schön, dass so viele da sind! Schauen wir in die erste Heilige Nacht! Die Bewohner von Bethlehem haben geschlafen, und die Hoteliers und Pensionsbesitzer, die aus dem Schlaf gerissen wurden, wollten sich nicht stören lassen. Keine Spur von Heiliger Nacht! Die einzigen, die wach blieben und mobil, waren die Hirten auf dem Feld. Sie sind ganz Ohr für die Botschaft der Engel, für den Hymnus auf den Frieden, den sie anstimmen. Sie hören von der Geburt eines Kindes, das in Nacht und Nebel geboren wird, mitten in der Fremde, ohne schützendes Dach. Keine Frau in anderen Umständen will unter solchen Umständen ihr Kind zur Welt bringen, so ausgeliefert, so unerwünscht, so schutzlos. Und doch: Wie widrig die Umstände auch sein mögen, die Geburt eines Kindes ist immer ein heiliger Moment. In dieser Nacht hören wir das Evangelium: Ein Kind ist uns geboren, ein neuer Mensch wird uns geschenkt: Gottes Sohn. Wir stimmen ein in den gemischten Chor von Engeln und Hirten, von Himmel und Erde, wenn wir das Gloria ebenso intonieren wie das Transeamus usque Bethlehem. In jeder Kirche, wo jetzt gefeiert wird, ist Bethlehem, heilige Nacht und heiliger Boden. Denn es geht nicht nur um irgendeinen neuen Erdenbürger, es geht um Gottes Geburt. Weihnachten ist weder Traum noch Mythos. Weihnachten ist ein festes Datum, ein historischer Augenblick. Der Allerheiligste betritt die Welt als Kind. Wer kann das verstehen?

Der große Gott – so klein.
Der Allmächtige – so wehrlos.
Der Ewige – ausgesetzt in unsere Zeit und Geschichte.
Der Grenzenlose – der sich selbst ein Limit setzt in den Grenzen des Menschen. Schonungslos deckt es ein Weihnachtslied aus dem 16. Jahrhundert auf: Dort in der Krippe liegt das Kind „elend, nackt und bloß, entäußert sich all seiner Gewalt, wird niedrig und gering.“

Wie anders sind wir Menschen da veranlagt? Wir wollen uns einen Namen machen als Herr oder Frau Gernegroß; heute hingegen feiern wir die Geburt von Gott Gerneklein. Das ist der tiefste Sinn der Heiligen Nacht: die Geburt von Gott Gerneklein.

Gott Gerneklein ermöglicht es, den Menschen groß zu machen und heilig. Jeder Mensch ist heilig, wie klein und krank, schwach und zerbrechlich, jung oder alt oder angeknackst er auch sein mag. Diese Nacht sagt es uns. Jeder Mensch hat Würde von Gott, denn der Allerheiligste selbst wurde einer von uns.

Wahrhaft Heilige Nacht: Im Heiligen Kind sind wir alle geheiligt.
- all unser Leben, all unser Sorgen, geheiligt das Gelingen und das Versagen.
- geheiligt selbst unser Scheitern, alle Grenzen, auf die wir stoßen.
- geheiligt wir alle, die wir heute Gottesdienst feiern, aber auch jene, die ans Krankenbett gefesselt sind oder aus anderen Gründen nicht dabei sein können oder wollen.

Alles, was den Namen Mensch trägt, muss uns heilig sein, weil geheiligt von Gott: egal, wer er ist, wo und wie er lebt; egal, ob im Mutterleib, behindert oder todgeweiht; egal, welche Lebenslinien und Lebensbrüche er mitbringt; egal, was er vorweisen kann; egal, welcher Religion er angehört.

Ohne andere missionieren oder gar eingemeinden zu wollen in die Gemeinschaft der Christen, dürfen wir sagen: Vor Gott ist jede und jeder geheiligt, weil Jesus der Heiland aller Menschen ist.

Die Heilige Nacht verpflichtet. Wenn es Tag wird, dürfen wir nicht vergessen, was in dieser Nacht geschah. Wir bezeugen, dass wir die Geburt des Heilands gefeiert haben. So wird die Heilige Nacht heilsam – im wahrsten Sinn des Wortes. Die Heilige Nacht heilt Wunden als Nacht des Friedens und der Versöhnung. Die Heilige Nacht hinterlässt in unseren Herzen Spuren. Spuren, die Antwort geben auf die Frage des Dichters: Wann fängt Weihnachten an?

Wenn der Schwache dem Starken die Schwäche vergibt,
wenn der Starke die Kräfte des Schwachen liebt,
wenn der Habewas mit dem Habenichts teilt,
wenn der Laute bei dem Stummen verweilt
und begreift, was der Stumme ihm sagen will,
wenn das Leise laut wird und das Laute still,
wenn das Bedeutungsvolle bedeutungslos,
das scheinbar Unwichtige wichtig wird und groß,
wenn mitten im Dunkel ein winziges Licht
Geborgenheit, helles Leben verspricht,
und du zögerst nicht, sondern du gehst,
so wie du bist, darauf zu,
dann, ja dann
fängt Weihnachten an.

Ich wünsche uns allen eine gesegnete Heilige Nacht!