Die Anklage war an den Haaren herbeigezogen – und der Staatsanwalt gab das sogar ganz offen zu. „Verschiedene Zeitungsartikel, öffentliche Reden, Broschüren und Briefe der Angeklagten aus den letzten zehn Jahren“ zusammen mit Äußerungen anderer Sozialdemokraten, seien „in ihrer Gesamtheit vorbereitende Handlungen zum Hochverrat“. So verkündete es der Ankläger, ein Leipziger Jurist namens Hoffmann, gleich am ersten Tag der Verhandlung gegen die beiden Köpfe der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) August Bebel und Wilhelm Liebknecht sowie den Zeitungsredakteur Adolf Hepner.
Den drei Beschuldigten wurde also gar keine konkrete Tat vorgeworfen, sondern die „Gesamtheit“ öffentlicher Stellungnahmen. Damit wurde der Leipziger Hochverratsprozess zur Zäsur in der deutschen Rechtsgeschichte. Zwar fiel am 26. März 1872 das Urteil, je zwei Jahre Festungshaft gegen Bebel und Liebknecht sowie Freispruch für Hepner. Aber der erkennbar konstruierte Vorwurf und der darauf beruhende Schuldspruch hatten die entgegengesetzte Wirkung: Die Arbeiterbewegung wurde nicht geschwächt, sondern gestärkt.
Ausgangspunkt des Prozesses war die selbst in Parteikreisen keineswegs unumstrittene Enthaltung Bebels und Liebknechts bei der Abstimmung über die Kriegskredite für den Deutsch-Französischen Krieg im Norddeutschen Reichstag am 19. Juli 1870 gewesen. Denn diese Enthaltung erschien „vaterlandslos“, rief daher in der Öffentlichkeit weithin Empörung hervor und löste massive Gegenmaßnahmen gegen die SDAP aus.
Im September 1870 gab es erste Verhaftungen von Parteifunktionären. Bebel und Liebknecht wurden direkt nach Auslaufen der kriegsbedingt verlängerten Legislaturperiode Ende Dezember 1870 ebenfalls festgenommen und blieben bis Ende März 1871 in Untersuchungshaft. Knapp ein Jahr später begann der Prozess in Leipzig.
Die beiden Hauptangeklagten (Hepner war eher ein „Beifang“) waren die damals bekanntesten Vertreter der deutschen Arbeiterbewegung. Bebel, 1840 geboren in einfache Verhältnisse, hatte sich seit seiner Gesellenzeit als Dreher für Arbeiterrechte engagiert und sich zugleich eine Werkstatt aufgebaut, die er bis zum Betrieb mit etwa zehn Angestellten ausbaute. 1866 gründete er mit Wilhelm Liebknecht die Sächsische Volkspartei, eine von vielen Kleingruppen in der beginnenden Arbeiterbewegung, die 1869 in der SDAP aufgingen.
Liebknecht, 14 Jahre älter als Bebel und aus bürgerlichem Elternhaus, aber durch den frühen Tod seiner Eltern verarmt, bekannte sich zur Ideologie des Marxismus. Er dominierte die Presse der Arbeiterbewegung und war wie Bebel seit 1867 Abgeordneter des Norddeutschen Reichstags.
Die Anklage gegen sie hatte eigentlich auf Landesverrat lauten sollen, doch dafür war der Krieg gegen das französische Kaiserreich nach dem Sieg bei Sedan zu schnell vorüber. Also konstruierten die Strafverfolger eine Anklage wegen angeblichen Hochverrats. Doch die Angeklagten hatten weder entsprechende geheime Absprachen getroffen noch zum Beispiel Waffenlager angelegt.
Der Hochverrats-Paragraf 83 des Reichsstrafgesetzes setzte eine bestimmte konkrete Handlung für die Erfüllung des Tatbestandes voraus. Allerdings gab der Paragraf 86 die Möglichkeit, jede andere ein „hochverräterisches Unternehmen vorbereitende Handlung“ mit bis zu drei Jahren Freiheitsentzug zu ahnden. Also bemühte sich Staatsanwalt Hoffmann, solche „vorbereitende Handlungen“ zu konstruieren.
Die beiden Verteidiger, die Gebrüder Freytag, gingen in ihren Plädoyers ausführlich auf dieses Thema ein. Damit der Tatbestand des Hochverrats erfüllt sei, müssten die Angeklagten einen Entschluss zum gewaltsamen Angriff auf den Staat sowie zu dessen Ausführung gefasst haben. Doch Bebel und Liebknecht betonten vor Gericht, dass es vielfältige Wege zu dem von ihnen angestrebten Ziel einer Republik gebe und revolutionäre Gewalt keineswegs der einzige sei.
Das nützte ihnen jedoch wenig, denn die nationalitätstrunkene Stimmung der Zeit stand gegen sie. Mit der minimalen Zahl an Geschworenenstimmen wurden beide zu je zwei Jahren Festungshaft verurteilt, Bebel bekam zudem das bei der Wahl im März 1871 errungene Mandat im ersten gesamtdeutschen Reichstag aberkannt. „Im Leipziger Urteil kam ein autoritärer Zug der Rechtskultur des Kaiserreichs zur Geltung“, schrieb der Münchner Historiker Jürgen Zarusky. Aber immerhin mussten sie nicht ins mit schwerer körperlicher Arbeit verbundene Zuchthaus.
Beide Verurteilten traten ihre Haft in der Strafanstalt im sächsischen Hubertusburg an – und fanden sie gar nicht so schlimm. Bebel erholte sich, nutzte die Zeit zur Lektüre und zum Sprachenlernen. Später amüsierte er sich deshalb über seine „Haftuniversität“. 1873 wurde er in einer Nachwahl als Abgeordneter des Reichstags bestätigt, Liebknecht errang 1874 bei der nächsten regulären Wahl (damals betrug die Legislaturperiode drei Jahre) ein Mandat – das schlecht begründete, offensichtlich politisch motivierte Urteil hatte sie nicht marginalisiert, sondern im Gegenteil zu Helden gemacht.
Liebknecht blieb (mit einer kurzen Unterbrechung 1887/88) Abgeordneter bis zu seinem Tode 1900 und amtierte außerdem als Chefredakteur des SPD-Blattes „Vorwärts“. Er hielt zahlreiche Reden und galt als Vordenker der SPD. Zu seinen sieben Kindern gehörte der spätere Sozialist und Bolschewik Karl Liebknecht, der nach dem Versuch, die demokratische Revolution in den Bürgerkrieg zu stürzen, 1919 von reaktionären Soldaten ermordet wurde.
Bebel, der als „rednerische Naturbegabung von höchstem Rang“ galt, wirkte von 1867 bis 1872, dann 1873 bis 1881 und erneut von 1883 bis zu seinem Tod 1913 als Reichstagsabgeordneter. Im Gegensatz zu Liebknecht, der über das „Paktieren und Parlamenteln“ höhnte, nahm Bebel sein Mandat ernst und erwies sich als großer Vorkämpfer des Parlamentarismus, also des gewiss formellen, aber eben deshalb auch anschlussfähigen sozialdemokratischen Reformismus. Der Durchbruch für beide, das zeigte sich im Rückblick klar, war der Leipziger Hochverratsprozess.
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Dieser Artikel wurde erstmals im März 2022 veröffentlicht.