RKI-Protokolle – Lauterbachs Wandel: Wie oft wechselt der Gesundheitsminister seine Meinung?

Lauterbach und die RKI-Protokolle: Was interessiert ihn sein Geschwätz von Montag?

Der Gesundheitsminister sagt plötzlich, er wolle die Pandemie aufarbeiten und die RKI-Files entschwärzen. Das ist toll, aber wie war das noch mit dem Einfluss fremder Mächte? Ein Kommentar. 

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach will nun doch die RKI-Files entschwärzen lassen.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach will nun doch die RKI-Files entschwärzen lassen.Kay Nietfeld/dpa

Karl Lauterbach (SPD) scheint ein Chamäleon zu sein: Kaum einer in der gegenwärtigen Politik beherrscht die Kunst des schnellen Wandels so gut wie er. Und das, obwohl die Bundesregierung an wandelbaren Typen nicht gerade arm ist, siehe Grüne und Waffenlieferungen vor und nach der Bundestagswahl.

Der amtierende Gesundheitsminister allerdings fällt besonders damit auf, heute dies zu sagen und morgen das Gegenteil. Bemerkenswert war das schon in Bezug auf die Impfnebenwirkungen, nun hat er ein neues Glanzstück abgeliefert, diesmal kam der Wandel binnen kürzester Zeit.

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Warum plötzlich die Wende?

Dem Deutschlandfunk (DLF) sagte Lauterbach am Donnerstag, er sei für eine parlamentarische Aufarbeitung der Corona-Politik. Er habe außerdem am Mittwoch veranlasst, die RKI-Files nun entschwärzen zu lassen. Das könne vier Wochen dauern.

Das muss verwundern, da derselbe Politiker erst am Montag dieser Woche noch die RKI-Files öffentlich als Einmischung fremder Mächte abgetan hatte, unisono mit dem Berliner Gesundheitspolitiker Janosch Dahmen von den Grünen.

Dahmen hatte auf X (ehemals Twitter) geschrieben: „Der Versuch, in die RKI-Files einen Skandal hineininterpretieren zu wollen, ist Ausdruck von Unkenntnis zur Krisenstabsarbeit und von weiterer Desinformation, um uns zu spalten. Wir sollten uns vor solcher Einflussnahme ausländischer Nachrichtendienste schützen.“

Lauterbach folgte ihm inhaltlich und schrieb am Montagabend um 19.28 Uhr: „Mein Statement zu den sogenannten RKI-Files: Aufklärung ist gut, aber wir dürfen nicht durch die Einmischung fremder Regierungen Verschwörungstheorien in sozialen Medien entstehen lassen. Das RKI hat wissenschaftlich unabhängig viel geleistet.“

Fremde Regierungen? Ausländische Nachrichtendienste? Was meinen die rot-grünen Politiker damit? Was hat die innerdeutsche Schwärzung von Behördenprotokollen mit fremden Mächten zu tun? Ist das eine dieser berühmten Verschwörungstheorien? 

Genauer erklären wollten das der Welt, die nachfragte, offenbar beide Politiker nicht, dem Nachrichtenportal t-online sagte Dahmen: „Mir scheint, dass die virulente Verbreitung solcher wahrheitswidriger Gerüchte auch Ergebnis der Einflussnahme ausländischer Nachrichtendienste ist, um unsere Gesellschaft vor dem Hintergrund von Russlands Krieg gegen die Ukraine weiter zu spalten und Politik handlungsunfähig zu machen.“

Am Freitag war Lauterbach noch gegen die parlamentarische Aufarbeitung

Lauterbach hingegen scheint das nun anders zu sehen und zeigt sich im Interview mit dem Deutschlandfunk plötzlich doch handlungsfähig: Dieselben RKI-Files, über die allein zu diskutieren vergangene Woche noch als unredlich galt und die Anfang der Woche eher noch als Verschwörungsobjekt galten, dieselben Protokolle also, die das Online-Portal Multipolar über Jahre versucht hatte ungeschwärzt veröffentlichen zu lassen, was erst jetzt durch gerichtlichen Zwang und auch nicht in Gänze gelungen ist, dieselben RKI-Files also, von denen Lauterbach zudem erst am Montag behauptet hatte, es seien ja nur Namen geschwärzt – die will er nun aufwendig wieder entschwärzen lassen? Was ist das für ein absurder Eiertanz?

Und damit nicht genug. Erst am vergangenen Freitag hatte der Gesundheitsminister im ZDF-Morgenmagazin im Gespräch mit Dunja Hayali auf Nachfrage gesagt, als Abgeordneter halte er von einer Aufklärung durch eine Enquete-Kommission „im Moment nicht so viel“, denn es gebe „rechte Gruppen“ und die AfD, die sich das Thema zu eigen machen wollen würden: „Eine Enquete-Kommission ist eine hochpolitische Angelegenheit.“ Noch politischer und noch weniger wissenschaftlich dürfe die Aufarbeitung aber nicht sein. Eine parlamentarische Aufarbeitung sei deshalb aktuell für ihn schwierig. Schon im vergangenen Jahr hatte sich Lauterbach von einer politischen Aufarbeitung nicht begeistert gezeigt. 

Um es noch mal zu verdeutlichen: Lauterbach sagt heute geradezu das Gegenteil von dem, was er am Montag und am Freitag noch gesagt und geschrieben hat. Wie ist das zu erklären?

Natürlich ist es jedem Menschen, auch Parlamentariern, unbenommen, die Meinung zu ändern. Bisweilen ist das höchst angebracht, wenn sich etwa die Umstände ändern, man einen Fehler eingesehen hat oder man sich hat überzeugen lassen. Auch ein Krieg etwa kann durchaus Anlass zu Gemütsänderungen sein. Dann ist es richtig und wichtig, nicht aus Stolz auf einer Meinung zu beharren.

Was aber könnte Karl Lauterbach dazu bewegt haben, dies in nur wenigen Tagen zu tun? Denn die RKI-Files und ihre Schwärzungen haben sich seither ja nicht geändert. Ist es vielleicht die Aussicht darauf, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen und seinem Vorgänger Jens Spahn die Verantwortung zu überlassen, wie manche munkeln?

„Will Lauterbach Spahn vor den Bus werfen?“

In den sozialen Medien wird das Thema heiß diskutiert: „Also will Lauterbach Spahn vor den Bus werfen, der sich nicht lumpen lassen wird und Lauterbach vor den Bus werfen wird. Es wird interessant“, kommentiert etwa ein User unter der aktuellen Mitteilung des Gesundheitsministeriums bei X.

Andere fragen dort, warum die Protokolle dann überhaupt erst so mühsam eingeklagt werden mussten, wenn nun plötzlich Transparenz die oberste Maxime sei.

Multipolar-Chef Paul Schreyer, der die RKI-Protokolle freigeklagt hatte, schrieb am Donnerstag: „Lauterbach erklärte am Montag vor laufenden Kameras: ‚Das RKI hat unabhängig von politischer Weisung gearbeitet.‘ Im RKI-Protokoll vom 29.6.2020 steht: ‚Immer noch hohes Risiko, Vorgabe vom BMG‘ (Bundesgesundheitsministerium). Lauterbach lügt.“

Und der Epidemiologe Friedrich Pürner, der inzwischen dem Bündnis Sahra Wagenknecht angehört, schreibt: „Lauterbach zeigt eindrucksvoll, wie sehr das RKI am Faden seines Ministeriums hängt. Betonte Lauterbach nicht höchstselbst, dass das RKI unabhängig sei? Nun veranlasste er, dass die Schwärzungen weitestgehend aufgehoben werden. Sehr interessant.“

Es ist schon auffällig, dass Lauterbach im Interview mit dem DLF an mehreren Stellen sagt, er habe mit der Schwärzung nichts zu tun – und vor allem nicht mit den infrage stehenden Entscheidungen, über die die RKI-Protokolle Auskunft geben sollen. Weil sie sich nur auf die ersten zwei Pandemiejahre beziehen, als Lauterbach noch nicht im Amt war, sondern Spahn (CDU).

Letzteres ist zwar richtig, dennoch ist Lauterbach seit Dezember 2021 Gesundheitsminister, seither für die Corona-Politik und vor allem für die Impfstoff-Politik sehr engagiert zuständig gewesen. Es ist zu erwarten, dass auch die RKI-Unterlagen ab Mitte 2021 bis 2023, die jetzt noch fehlen, in absehbarer Zeit offengelegt werden dürften.

Spätestens dann wird sich zeigen, ob und an welchen Stellen Karl Lauterbach Einfluss genommen hat. Nun gilt es erst mal herauszufinden, ob und an welchen Stellen Jens Spahn dies getan hat. In dessen Zeit fällt etwa auch die Freistellung der Impfhersteller von jeglicher Haftung bei Impfnebenwirkungen, die heute einige Gerichte beschäftigt.

Nicht jedem kommt eine Aufarbeitung gelegen

Es gibt also in der Tat viel aufzuarbeiten, und sogar unabhängig davon, was und wie viel die RKI-Files, sobald sie denn entschwärzt wurden, überhaupt aussagen.

Doch ganz offensichtlich kommt eine Aufarbeitung nicht jedem gelegen. Sogar die Präsidentin der Caritas fühlte sich am Donnerstag bemüßigt, im Zusammenhang mit der RKI-Files-Diskussion zu warnen: „Dieser Wettstreit ist toxisch“, sagte Eva Maria Welskop-Deffaa der Funke Mediengruppe. Dadurch würden Menschen bei der nächsten Krise weniger bereit sein, „unter riskanten Bedingungen zupackend Entscheidungen zu treffen“, mahnte sie. Es sollten rückwirkend keine Schuldzuweisungen und Verdächtigungen in den Mittelpunkt gestellt werden.

Die Chefin des katholischen Wohlfahrtsverbandes forderte stattdessen „einen Wettstreit bei der Suche nach den Namen der ungezählten Heldinnen und Helden der Corona-Krise“. In Altenheimen, Krankenhäusern, Sozialberatungsstellen, aber auch in den Verwaltungen der Sozial- und Gesundheitsbehörden hätten Menschen in der Pandemie „selbstlos Verantwortung übernommen“. Und weiter: „Wenn wir aus Corona lernen wollen, darf sich der Blick nicht auf mögliche Fehler verengen.“

Bitte kein übersteigertes Harmoniebedürfnis

Auch eine schöne Idee. Das wird aber nicht der Frage gerecht, wie etwa zu Beginn von Corona Alte in den Heimen, zwischendrin Ungeimpfte und später Impfgeschädigte durch die Pandemie gekommen sind. Auch Karl Lauterbach bekräftigt im Interview mit dem Deutschlandfunk einmal mehr, der einzig echte Fehler in der Pandemie sei der Umgang mit Kindern und Jugendlichen gewesen. Aber was ist mit den Alten und Kranken, die ohne Kontakt zu ihren Lieben in Heimen und Klinken gestorben sind und vorher teils monatelang isoliert waren, sowie mit deren Angehörigen? Schwamm drüber?

Will man da auch einen „Wettstreit“ draus machen, wer wen am wenigsten vernachlässigt hat? Und am meisten abgeschirmt? Oder am wenigsten?

Nein, so geht das nicht. Die Aufarbeitung darf nicht Einzelinteressen unterworfen werden und auch keinem übersteigerten Harmoniebedürfnis à la „Deutschland ist doch so gut durch die Pandemie gekommen“. Denn wer ist dieses Deutschland? Die Impfgeschädigten offensichtlich schon mal gar nicht, Teile der Ungeimpften ebenfalls nicht, wer pleitegegangen ist auch nicht, wer in dieser Zeit vor Sorge Suizid begangen hat leider auch nicht (mehr). Über all das muss öffentlich gesprochen werden, im Parlament, in den Medien und in der Gesellschaft – nicht nur über die genehmen Themen, bei denen man sich schnell einig werden kann.

Ansonsten ist es keine Aufarbeitung.

Schlussendlich: Wenn den amtierenden Gesundheitsminister schon heute sein Geschwätz von Montag nicht mehr interessiert, dann darf man ruhig mal darauf hinweisen, dass hier wohl etwas Grundsätzliches nicht stimmen kann.