Nazi-Vergangenheit von Politikern: Ein doppeltes Spiel

Nazi-Vergangenheit von Politikern: Ein doppeltes Spiel

Als die USA 1994 nach jahrzehntelangen Verhandlungen Dokumente des Berlin Document Center (BCD) an die Bundesrepublik Deutschland zurückgaben, gewann die Öffentlichkeit den Eindruck, die Bundesrepublik sei in ihren frühen Jahren von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern regiert worden. Die im BCD verwahrte Mitgliederkartei der NSDAP gab vertraute Namen preis: drei Bundespräsidenten – Karl Carstens (CDU), Heinrich Lübke (CDU) und Walter Scheel (FDP), der zuvor Außenminister war –, der ehemalige Präsident des Deutschen Bundestages, Richard Stücklen (CSU), der Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP), die Wirtschafts- und Finanzminister Karl Schiller (SPD) und Liselotte Funcke (SPD), der Kanzleramtschef Horst Ehmke (SPD), der ehemalige Fraktionschef der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Alfred Dregger, und viele andere.

Der Eindruck täuschte nicht. Allein in der Regierung Willy Brandts saßen zwölf ehemalige Nationalsozialisten am Kabinettstisch. Die Flakhelfergeneration, wie der Autor und Journalist Malte Herwig sie nennt, war auch am Projekt „Mehr Demokratie wagen“ maßgeblich beteiligt. Die Geschichte ihrer schuldlos-schuldigen Verstrickung in die NS-Vergangenheit erzählt Herwig in seinem Anfang Juni erschienenen Buch „Flakhelfer – wie aus Hitlers jüngsten Parteimitgliedern Deutschlands führende Demokraten wurden“.

Allumfassendes Desinteresse

Herwig zeichnet auch das jahrzehntelange Ringen um das Archiv des Berlin Document Center nach, er beschreibt die Verhandlungen zwischen den USA und der Bundesrepublik über eine Rückgabe der NS-Akten, weist nach, dass diese Rückgabe von der deutschen Regierung lange verschleppt worden ist. Vor allem die Mitgliederkartei der NSDAP wollte man auf deutscher Seite so schnell nicht wiedersehen. Immerhin wussten an den Verhandlungen Beteiligte wie etwa Hans-Dietrich Genscher spätestens seit Anfang der Siebzigerjahre, dass auch ihr Kärtchen hier zu finden war.

Das Desinteresse an den Dokumenten des BDC war allumfassend und parteiübergreifend: Union, SPD und FDP waren sich darin einig, eine erneute Entnazifizierung verhindern zu wollen. Dabei waren die USA bereits 1967 zu einer Rückgabe der Akten bereit, allein, die Regierung Kiesinger zeigte ebenso wenig Interesse wie ihre Nachfolger. Von den jeweiligen Parteilinien abweichende Abgeordnete, die eine Rück- und Freigabe aller NS-Akten forderten, galten als lästige Nervensägen. Der SPD-Abgeordnete Karl-Heinz Hansen wurde nach beharrlichem Drängen aus seiner Partei ausgeschlossen.

Erst als die Grünen 1989 einen Parlamentsbeschluss herbeiführten, sah sich die Bundesregierung unter Helmut Kohl gezwungen zu handeln. Das Auswärtige Amt bat die USA aber, so hat es der Autor Malte Herwigs in den Akten recherchiert, nur zum Schein um die „sofortige Herausgabe“ der Dokumente. Tatsächlich signalisierte das Auswärtige Amt unter Genscher dem Bündnispartner, man erwarte eine Absage. All dies belegt Herwig mit Verweisen auf Quellen im Nationalarchiv der USA in Washington und im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts in Berlin.

Auf eine Kleine Anfrage der Linken zur „möglichen verzögerten Rückgabe von NS-Akten“, die der Berliner Zeitung vorliegt, erklärt das Auswärtige Amt indes: „Aus den Akten des Auswärtigen Amts ergeben sich keine Hinweise, dass es bewusste Verzögerungen bei der Aufnahme von Regierungsverhandlungen mit den Vereinigten Staaten von Amerika zur Rückgabe von NS-Akten gegeben hat.“

Vielmehr habe insbesondere Hans-Dietrich Genscher auf zügige Verhandlungen gedrängt, die allerdings an unterschiedlichen Auffassungen zu Mikroverfilmung, Standort, Finanzierung, Benutzungsordnung und Organisation „ins Stocken geraten“ seien. Tatsächlich stockten sie 27 Jahre lang, bis 1994.

Malte Herwig dagegen zitiert amerikanische Quellen wie den ehemaligen Direktor des BDC, Daniel Simon, der 1987 seinem Ärger über die Deutschen in einem Memo an die US-Gesandtschaft in Berlin Luft machte: „Ich habe es langsam satt, dass sie uns immer und immer wieder öffentlich für die Verzögerungen verantwortlich machen. Dabei habe ich keinen Zweifel, dass sie (eine Rückgabe der Akten) ablehnen würden, wenn wir ihnen das BDC Morgen ohne jegliche Bedingungen anbieten würden.“

Auch das doppelte Spiel, das die Bundesregierung 1989 mit ihrer vermeintlichen Forderung nach einer sofortigen Rückgabe der Akten betrieb, findet in einer vertraulichen Depesche der US-Botschaft an das Außenministerium in Washington Erwähnung. Aus dieser Depesche, die auf den Oktober 1989 datiert ist, wird klar: Offenbar bittet das Auswärtige Amt um Wiederaufnahme der Verhandlungen, „um dem politischen Druck derer zu begegnen, die im Bundestag eine raschere Rückgabe des BDC fordern“.

In der Antwort des Auswärtigen Amtes auf die Anfrage der Linken heißt es hierzu nun: „Die Bundesregierung verfügt über keine Erkenntnisse, wonach den USA 1990 ein angebliches Scheinangebot unterbreitet worden sein soll.“ Im Übrigen nehme man zu Dokumenten fremder Staaten keine Stellung.

„Selbstverständlich gibt es Belege, die amerikanischen Quellen sind eindeutig“, sagt Herwig dagegen der Berliner Zeitung. „Das Auswärtige Amt versucht, den eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, indem es die Quellen mutwillig ignoriert. Dass sie die amerikanischen Akten nicht kennen, daraus kann man ihnen keinen Vorwurf machen. Dass sie die aber nicht einmal zur Kenntnis nehmen wollen – nun ja.“

Erneute Täuschung

Entsprechende Aussagen, die die Verzögerung belegen, könnte das Auswärtige Amt allerdings auch im eigenen Aktenbestand finden. Herwig jedenfalls erwähnt einen handschriftlichen Vermerk aus den Achtzigerjahren. Ein höherer Beamter des Auswärtigen Amtes erklärt darin, „es könne nicht schaden, wenn es noch ein paar Jahre dauert, bis die Akten zurückkommen“.

„Das Auswärtige Amt täuscht den Bundestag erneut in der Frage der Nazi-Akten wie schon Anfang der Neunziger“, sagt Herwig. Ihm gehe es nicht darum, alten Leuten vorzuwerfen, dass sie 1944 im Alter von achtzehn Jahren noch in die NSDAP eingetreten sind. „Es geht nicht um die Tat, es geht um das jahrzehntelange Leugnen, darum, dass aus persönlicher Verdrängung ein Motiv regierungsamtlichen Handelns wird.“

Die Verzögerungstaktik des Auswärtigen Amtes hatte dazu geführt, dass die Öffentlichkeit erst 1994, nach der endgültigen Rückgabe der BDC-Akten, von der NSDAP-Mitgliedschaft Genschers erfuhr Zwei Jahre zuvor war er nach 18 Jahren als Außenminister zurückgetreten. „Wären diese Akten schon in den Siebzigerjahren zurückgegeben worden – und dazu waren die Amerikaner bereit – wäre seine NSDAP-Vergangenheit und die vieler anderer Spitzenpolitiker herausgekommen, als sie noch Regierungsverantwortung hatten“, sagt Herwig.

„Wenn sich herausstellt, dass die Bundesregierung aus parteipolitischen Gründen die Unwahrheit gesagt hat, wäre dies ein Rückfall in vergangene Zeiten der Vertuschung und Verzögerung“, sagt Jan Korte, Bundestagsabgeordneter der Linken. „Diese Art, mit der Vergangenheit umzugehen, muss endlich vorbei sein.“