Genau 66.463 Blatt. So viele einzelne Seiten haben die National Archives der USA allein im Jahr 2023 an Unterlagen über die Ermordung von John F. Kennedy am 22. November 1963 veröffentlicht. Es handelt sich um gut die Hälfte des Gesamtumfanges der 2693 Dokumente verschiedener US-Regierungsbehörden, die allein zwischen April und August 2023 freigegeben wurden. Im ganzen Jahr 2022 waren es 13.173 verschiedene Dokumente, seit 2017 insgesamt mehr als 55.000 Dokumente mit geschätzt deutlich mehr als einer Million Blatt.
Trotz dieser unüberschaubaren Mengen an Material werden, das ist keine besonders schwierig aufzustellende Prognose, die tödlichen Schüsse auf den 35. Präsidenten der USA weiterhin umstritten bleiben. Die seit 2017 massenhaft veröffentlichten Unterlagen aus dem Nationalarchiv werden daran ebenso wenig ändern wie all die Untersuchungsberichte vorher.
Das ist auch nicht weiter erstaunlich, denn sämtliche mehr als fünf Millionen Seiten der „JFK Assassination Records“ sind bereits vor Jahrzehnten ausgewertet worden, kurz nach dem Mord in Dallas durch die Mitarbeiter der Warren-Kommission oder 1976 bis 1979 durch das Komitee des US-Repräsentantenhauses über Mordanschläge (House Select Committee on Assassinations; gemeint waren die Anschläge auf die beiden Kennedy-Brüder sowie auf Martin Luther King). Die Vorstellung, dass in diesem Material etwas verborgen sein könnte, was die Verschwörungstheorien bestätigt, ist irreal.
Ohnehin sind die Fakten des Falls recht einfach: Am Freitag, dem 22. November 1963, fiel ziemlich genau um 12.30 Uhr und 30 Sekunden der erste Schuss aus dem sechsten Stockwerk des Schulbuchlagers von Dallas auf den offenen Wagen, in dem Kennedy eine Rundfahrt durch die texanische Stadt unternahm. Die aus ziemlich genau 42 Metern Distanz abgefeuerte Kugel wurde von einer Ampel abgelenkt und schlug ohne weitere Folgen in einer nahegelegenen Brücke ein.
Genau 3,5 Sekunden nach dem ersten Schuss knallte es zum zweiten Mal. Aus diesmal rund 58 Metern Entfernung traf die Kugel Kennedy mit einer Geschwindigkeit von knapp 600 Metern pro Sekunde in den Nacken und trat vorne am Hals wieder aus. Dann drang das Geschoss in den Rücken des schräg vor ihm sitzenden Gouverneurs von Texas John Connally ein, perforierte seinen rechten Lungenflügel und trat wieder aus. Zuletzt durchschlug es sein Handgelenk und blieb in seinem Oberschenkel stecken.
Kennedys Körper reagierte auf die massive Verletzung mit einem vegetativen Reflex: Der Präsident riss die Arme hoch. Erst in diesem Moment wurden der Leibwächter und auch Jacqueline Kennedy neben ihrem Mann darauf aufmerksam, dass etwas geschehen war.
Knapp fünf Sekunden nach dem zweiten Schuss knallte es ein drittes Mal; die Entfernung vom Fenster im sechsten Stock bis zu Kennedy im Fond der Limousine betrug nun knapp 81 Meter. Die Kugel traf ihn in seinen Hinterkopf. Weil der Präsident wegen seiner chronischen Rückenschmerzen ein Stützkorsett trug, erhielt sein Körper durch den Einschlag der Kugel zuerst einen Impuls nach vorne, der sich dann aber, verstärkt von dem vom Geschoss rechts an seiner Schädelkalotte abgesprengten großen Knochenstück umkehrte – so wurde der Kopf des bereits tödlich verletzten Präsidenten nach hinten geworfen.
Erst jetzt drückte der Fahrer des Secret Service am Steuer der Limousine beherzt aufs Gaspedal und brachte den stark motorisierten Wagen binnen weniger Sekunden auf mehr als 100 Kilometer pro Stunde. Um 12.36 Uhr, keine fünf Minuten nach den Schüssen, kamen die Fahrzeuge der Präsidentenkolonne etwa 5300 Meter Wegstrecke entfernt an der Notaufnahme des Parkland Memorial Hospital an. 22 Minuten später beendete der zuständige Arzt seine Bemühungen, Kennedys Leben zu retten – er hatte ohnehin auf den ersten Blick gesehen, dass die Kopfverletzung tödlich war.
Die Fakten des Falls waren und sind einfach: Es gab drei Schüsse, von denen zwei die Zielperson trafen; weitere Knallgeräusche, die vom Polizeifunk aufgezeichnet wurden, waren Echos. Die zweite Kugel, die als erste traf, verursachte gleich sieben Wunden; alle lagen, betrachtet man die tatsächliche Sitzposition von Kennedy und Connally in der Limousine (der Gouverneur saß auf einem Klappsitz etwa fünf Zentimeter tiefer und zehn Zentimeter schräg versetzt vor dem Präsidenten), auf einer Linie. Die Tatwaffe wurde am Tatort, einem Fenster im sechsten Stock des Schulbuchlagers gefunden; das Gewehr hatte der tatverdächtige Lee Harvey Oswald nachweislich über einen Versandhandel gekauft.
An sich also war und ist der Fall klar. Trotzdem gab es bis zum Terroranschlag am 11. September 2001 kein anderes Verbrechen, das vergleichbar umstritten, ja umkämpft ist wie der Mord an John F. Kennedy. Und es fällt leicht festzustellen, dass der Mord von Dallas sicher weiter allerlei Verschwörungstheoretiker beschäftigen wird, obwohl kein Anschlag der Weltgeschichte intensiver untersucht wurde. Oder, genauer: Gerade weil dieses Attentat so intensiv untersucht wurde wie kein anderes. Dieses auf den ersten Blick überraschende Phänomen gibt es in der Weltgeschichte der Kriminalität immer wieder: Je genauer ein Verbrechen untersucht wird, desto mehr offene Fragen stellen sich.
Was paradox scheinen mag, ist in Wirklichkeit eine rational leicht erklärbare Dialektik: Erstens lässt sich kein Ereignis im Nachhinein wirklich bis ins kleinste Detail rekonstruieren. Zweitens führen stets Erinnerungslücken oder unwissentlich falsche Aussagen, wichtigtuerische Zeugen oder handwerkliche Mängel bei Ermittlungen zu mitunter hanebüchenen Fehlern. Drittens aber verlangen zahlreiche Menschen gerade bei spektakulären Kriminalfällen, bei Katastrophen oder eben bei Attentaten „vollständige Aufklärung“ – obwohl es die gar nicht geben kann.
Hinzu kommt die Suche nach vermeintlichen Nutznießer – die berühmt-berüchtigte Frage „Cui bono?“, die zuverlässig in den Irrtum führt. Denn die Antwort hängt immer ab von den Vorannahmen jener, die sie stellen. Je nachdem sollen es wahlweise der KGB oder die CIA , die kommunistischen Kubaner oder antikommunistische Exilkubaner, der texanische Vizepräsident Lyndon B. Johnson, ein Demokrat, oder texanische Rechtsextremisten, der „militärisch-industrielle Komplex“ der USA oder sonstwer gewesen sein, die – ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen – das Attentat ausgeführt haben.
Daran werden auch alle weiteren von den National Archives freigegebenen Unterlagen nichts ändern können. Zumal sie inhaltlich schon längst ausgewertet worden sind: Wer glaubt, dass hinter dem Mord an John F. Kennedy eine Verschwörung steckte, wird dies unabhängig von allen Beweisen weiterhin glauben. Übrigens: Dass immer noch einige tausend Blatt der Kennedy-Akten unveröffentlicht sind, liegt vor allem am Datenschutz – und nicht an irgendwelchen dunklen Geheimnissen, die darin verborgen sind.
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Dieser Artikel wurde erstmals im November 2023 veröffentlicht.