Traumhaft, absolut traumhaft. Anders konnte man die Quote nicht nennen, die alle drei großen US-Fernsehsender bei der gemeinsamen Ausstrahlung des ersten TV-Duells der beiden Präsidentschaftsbewerber erzielten: 66,9 Millionen Amerikaner sahen nach den offiziellen Messungen live zu. Fast 90 Prozent aller Menschen, die überhaupt Zugang zu der Sendung hatten, hatten also eingeschaltet. „Das ist die größte Menschenmenge, die jemals mit eigenen Augen Zeuge eines politischen Ereignisses geworden ist“, urteilte WELT.
Eine Stunde lang stellten sich die Bewerber der beiden großen US-Parteien für die Präsidentschaftswahl 1960, der amtierende Vizepräsident Richard M. Nixon für die Republikaner und der Senator John F. Kennedy für die Demokraten, in einem Studio in Chicago den Fragen von vier Journalisten. Es war ihr erstes Streitgespräch im Wahlkampf, drei weitere andere waren noch angesetzt bis zur Abstimmung am 8. November.
In der Sache hart, aber im Ton gemäßigt lief die Debatte nach klaren Regeln ab. Zunächst hatte jeder Kandidat acht Minuten Zeit für eine Selbstdarstellung. Dann gab der Moderator Howard K. Smith seinen Kollegen vor der Bühne das Wort. Derjenige Kandidat, an den eine Frage gerichtet wurde, hatte drei Minuten Zeit zur Antwort, der andere durfte anderthalb Minuten Stellung nehmen. Zum Schluss erhielt jeder Kandidat drei Minuten für eine Zusammenfassung.
„Wie Prüflinge im Abitur mussten sich Kennedy und Nixon auf Herz und Nieren über ihre politischen Ansichten, ihre Routiniertheit und ihre politischen Fähigkeiten testen lassen“, befand WELT. Das war ein neues Format im US-Wahlkampf, wiewohl Rededuelle von Bewerbern um dasselbe Amt immer wieder inszeniert worden waren.
So hatten Abraham Lincoln und sein Konkurrent um den Senatorensitz von Illinois 1858 siebenmal öffentlich über die Sklaverei gestritten; Douglas gewann schließlich den Sitz. Lincoln jedoch wurde zwei Jahre später zum 16. Präsidenten der USA gewählt.
Im Rahmen der für die US-Demokratie typischen innerparteilichen Vorwahlen gab es die jeweils erste Nutzung der elektronischen Medien für Duelle: Zwei Bewerber für die Präsidentschaftskandidatur der Republikaner stritten 1948 im Hörfunk über Sinn und Zweck des Vorschlages, die Kommunistische Partei in den USA zu verbieten. Acht Jahre später gab es das erste Aufeinandertreffen zweier demokratischer Bewerber im Fernsehen.
Aber am 26. September 1960 traten zum ersten Mal die tatsächlichen Kandidaten gegeneinander an. Generalthema war die Innenpolitik. Nixon verwies auf seine Erfahrung als Vizepräsident von Dwight D. Eisenhower seit 1953, Kennedy hielt geschickt dagegen: „Ich gehöre genau wie Mr. Nixon seit vierzehn Jahren dem Kongress an. Wir stehen uns da also nicht nach.“
Der Republikaner versprach, die Politik der Regierung Eisenhower fortzusetzen, der Demokrat dagegen attackierte: „Die Eisenhower-Jahre waren ein Abgleiten Amerikas.“ Die USA müssten sich unter seiner und der Demokraten Führung wieder aufraffen. Amerika habe lange nicht genug getan, um seine Führungsrolle in der westlichen Welt zu wahren.
Zum Schluss forderte Kennedy die Zuschauer auf, für Nixon zu stimmen, sofern sie glaubten, dass alles zum Besten stehe – falls aber nicht, müssten sie den demokratischen Kandidaten wählen. Als die Kameras abgeschaltet waren, sagte Nixon zu Kennedy: „Ich glaube, unser Gespräch hat dem Land und uns selbst gedient.“ Kennedy stimmte mit der Bemerkung zu: „Es war sehr nutzbringend.“ Das Urteil der meisten Beobachter lautete: „Gemeinsamkeit in den Zielen, Unterschiede in den Methoden.“
Beide Kandidaten hatten Entgleisungen vermieden, achteten vielmehr auf beachtliche Höflichkeit. Doch Kennedy trat kraftvoller auf, Nixon schien besonders im Vergleich zu seiner sonst gewohnten Art defensiv und sogar etwas müde.
Das hatte mehrere Gründe. Nixon hatte sich zuvor eine Infektion zugezogen und war davon noch geschwächt. Außerdem lehnte er es vor der ersten Debatte ab, sich schminken zu lassen – so waren seine Bartstoppeln auf den Schwarz-Weiß-Fernsehbildschirmen deutlich zu erkennen. Während der Debatte begann der Vizepräsident ferner stark zu schwitzen – eine Folge der intensiven und heißen Studiobeleuchtung. Schließlich war sein hellgrauer Anzug schlecht gewählt: Manchmal verschwamm er mit dem Hintergrund des Sets.
Kennedy hingegen war topfit an diesem Montagabend. Er war sonnengebräunt, sein leichter schwarzer Anzug passte genau für den Anlass. Und ohnehin kam der telegene 43-Jährige mit dem Medium Fernsehen besser klar.
Es folgten noch drei weitere Debatten zwischen den beiden Kontrahenten in ähnlichen Formaten im Oktober 1960. Der Vizepräsident schnitt dabei besser ab als beim ersten Termin, denn er hatte aus seinen Fehlern und Schwächen gelernt. Der Demokrat hielt seine Konzentration allerdings durch und war so insgesamt der Sieger.
Welchen Einfluss hatten die vier TV-Debatten auf das Ergebnis? Bei Umfragen nach dem 8. November 1960 gaben nach repräsentativen Hochrechnungen fast 50 Prozent der Wähler an, ihre Entscheidung sei beeinflusst worden; sogar sechs Prozent machten die Debatte für ihre Entscheidung zugunsten Kennedys verantwortlich. Tatsächlich hatte nach den Nominierungsparteitagen der Republikaner und Demokraten Nixon noch ziemlich genau sechs Prozent vor Kennedy gelegen – im Endergebnis lag Kennedy 102.827 Stimmen (entsprechend 0,14 Prozent) vor Nixon.
Hatte also das Fernsehen den politischen Prozess verändert? War es wichtiger, wie man auf der Mattscheibe aussieht und sich präsentiert, als was man sagt? Diese Debatten sorgten dafür, dass es erst einmal keine Wiederholungen gab. Erst 1976 kam es zur zweiten Serie von diesmal drei TV-Duellen zischen den Präsidentschaftsbewerbern. Der amtierende Gerald Ford unterlag dabei dem Herausforderer Jimmy Carter recht deutlich.
Seither gibt es bei allen Präsidentschaftswahlkämpfen solche Duelle. Von „Debatten“ wollten und wollen manche Beobachter nicht sprechen, denn fast nie sprachen die Kandidaten wirklich miteinander. An der mitunter wahlentscheidenden Funktion besteht heute kein Zweifel mehr. Deshalb gibt es auch Überlegungen, auf dieses Format künftig zu verzichten, da es zwangsläufig Populisten bevorzuge. Doch sehr wahrscheinlich ist es nicht, dass die TV-Demokratie ausgerechnet auf dieses Hochamt verzichten wird.
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