Ein Linker, der im ÖVP-geführten Kanzleramt gut ankommt: Gesundheits- und Sozialminister Rauch ist für Überraschungen gut.
Foto: Helena Manhartsberger

Auf der hohen Stirn des Ministers zeichnet sich ein rötlicher Schimmer ab. Verloren, fast schüchtern wirkt Johannes Rauch, als er mit einem Tablett voller Krapfen in einem nüchtern möblierten Gewölbe unter der Wiener U6 steht. Viele der Gäste, die hier ein billiges Mittagsmahl, ein Bett für ein paar Stunden oder einfach Wärme suchen, blicken nicht einmal auf. "Ah, Politiker sind Sie?", erhebt sich eine Stimme aus dem Gewirr unzähliger Sprachen und Akzente, "ich dachte, Sie wären Schauspieler."

Rauch zieht hier kein Medienspektakel ab. Ein paar Fotos werden auf Instagram und Twitter landen, das schon, doch die Anwesenheit des STANDARD war eigentlich nicht vorgesehen. Der Grüne hätte die "Josi", ein Tageszentrum für Obdachlose, auch besucht, wenn keine Anfrage um einen reportagetauglichen Termin eingelangt wäre. Für einen ehemaligen Sozialarbeiter, sagt er, sei das wie Heimkommen.

Smalltalk spart sich Rauch, er taut erst auf, als es um Handfestes geht. "Handlungsbedarf für die Politik: wo?", fragt er die Verantwortlichen der Einrichtung, um eine bittere Bestandsaufnahme des "völlig eskalierten" Wohnungsmarktes einzuleiten. Die Wohnbauförderung der Bundesländer gehöre längst an soziale Kriterien geknüpft, sagt der Grüne: "Ich hätte da schon Pläne."

Abgewendeter Bauchfleck

Was der Ressortchef im Kleinen vorexerziert, setzt er auf der Regierungsbühne fort. Vom Abgesang auf Corona-Regeln bis zur Revolution im Gesundheitssystem: Selbstbewusste Ansagen bescheren dem 63-Jährigen Schlagzeilen – und einen ungeahnten Sympathieschub. Rauch zählt zu jenen Ausnahmeerscheinungen in der türkis-grünen Koalition, denen Umfragen intaktes Vertrauen ausweisen.

Dabei schien ein Bauchfleck absehbar, als der Beinahepensionist vor einem Jahr als dritter Sozial- und Gesundheitsminister nach Rudolf Anschober und Wolfgang Mückstein die verfahrene Corona-Politik übernahm. Schon nach einem Monat sah die Presse Rauch – "weder originell, noch Original" – auf den Spuren der "gescheiterten" Kollegen. DER STANDARD fragte: "Liegt auf dem Amt des Gesundheitsministers ein Fluch?"

Tatsächlich erwies sich das Momentum als Segen. Dass mit der übereilten Öffnung im März die Todesrate hochschoss, war noch Beschlüssen vor seiner Zeit anzulasten; Rauch durfte hingegen die folgende Entspannungsphase managen. Er gestand Fehler – die seiner Vorgänger – ein und nahm das Risiko, das Anti-Corona-Regime trotz Warnungen konsequent zu demontieren. Die Entwicklung gab ihm recht: Nie mehr gerieten die Spitäler in die Gefahr der Überlastung.

Der Grünen-Politiker will Pflegeberufe aufwerten, Hierarchien flacher gestalten – und kritisiert Widerstände gegen notwendige Veränderungen aus der Ärztekammer. Was sich sonst noch ändern muss? Eine Expertenrunde diskutiert.
DER STANDARD

Glatter Ausstieg aus Corona

Allein von sachlicher Abwägung habe sich der Hausherr wohl nicht leiten lassen, sagt eine Mitarbeiterin des Ministeriums: "Er ist Politiker genug, um zu erkennen, dass mit dem alten Kurs nichts zu gewinnen war. Und das Pandemiethema ging ihm auch selbst auf den Wecker."

Das bringt ihm Lob von nicht selbstverständlicher Seite ein. Es sei maßgeblich Rauch zu verdanken, "dass wir einen so glatten Ausstieg aus dem Maßnahmenvollzug hingekriegt haben", heißt es aus dem ÖVP-geführten Kanzleramt. Der Vorarlberger sei weniger dogmatisch als seine Vorgänger – und nicht annähernd so eitel wie speziell Anschober, der sich selbst der liebste Experte gewesen sei: "Er ist unaufgeregt und nimmt sich nicht zu wichtig."

Politische Rivalin als Partnerin

Das Urteil der privaten Partnerin fällt auffällig ähnlich aus. "Bescheidenheit und Klarheit" attestiert Gabriele Sprickler-Falschlunger Rauch, der ihr nicht nur als Landsmann verbunden ist. Seit langem ist Vorarlbergs SPÖ-Chefin mit dem politischen Rivalen liiert – was diesen nicht vor Kritik schützt. Als er die Corona-Quarantäne abschaffte, reagierte die praktizierende Ärztin mit öffentlichem Protest, persönlich adressiert an den Minister.

Es komme in ihrer Beziehung ja nicht oft vor, sagt Sprickler-Falschlunger heute, "aber damals hatte ich unrecht". Meist jedoch mache ideologische Nähe politische Debatten ohnehin überflüssig, denn ihr Mann gehöre bei den Grünen zweifellos zu den Linken – und nicht zu jenen Bobo-Politikern, die Besserverdiener im Fokus hätten.

Ein Herz für die Punks

Eingestiegen in sein Metier ist Rauch allerdings in einem, wie er selbst erzählt, konservativen katholischen Milieu. Den nach der Schule angetretenen Posten in einer Bank gibt er auf, "um für jene etwas zu tun, die nicht auf die Butterseite gefallen sind". Als Jugendarbeiter im kirchlichen Dienst im heimatlichen Rankweil bietet er Punks, die sonst keiner haben will, ein Refugium – und provoziert prompt eine Krisensitzung des Pfarrgemeinderats.

Über Jobs in der Sozialpsychiatrie, Arbeitslosenbetreuung und Schuldnerberatung gleitet Rauch – einst noch im Hippielook mit Pferdeschwanz – allmählich in die Berufspolitik. Ab 2000 sitzt der Mitbegründer der Vorarlberger Grünen im Landtag, nach 17 Prozent bei der Wahl 2014 schafft er es als Landesrat für Umwelt und Verkehr in eine Koalition mit der ÖVP.

Erdung durch Fußball

Dass ihm "hundsnormale Menschen" im Laufe seiner Karriere nicht fremd geworden seien, verdanke der Liverpoolfan und Abonnent des Bundesligisten Altach nicht zuletzt regelmäßigen Besuchen am Fußballplatz, sagt ein Wegbegleiter: Das hole einen aus abgehobenen Sphären runter.

An der sozialen Frage werde sich die Zukunft der Demokratie entscheiden, glaubt Rauch. Ohne gute Absicherung wie in Österreich drohten Massenproteste wie in Frankreich: "Die Armen würden sich vom Rechtsstaat abwenden, die Reichen in Gated Communities flüchten." Aber steuert das Land, wenn man Warnungen von Caritas bis SPÖ ernst nimmt, unter türkis-grüner Führung nicht gerade auf ein solches Szenario zu? Gegen das Gefühl der Ohnmacht sei schwer zu argumentieren, erwidert Rauch. Doch jene Berechnungen, die den Staatshilfen die Kompensation der Teuerung für die unteren Einkommen bescheinigten, zeigten ein anderes Bild.

Vom Vorwurf ausgespart

Nach einem Jahr Arbeit kann Rauch einiges verbuchen, das seine Verteidigung stützt. Die automatische Inflationsanpassung der Sozialleistungen hilft Armen ebenso wie die der ÖVP abgerungene Aufbesserung der von Schwarz-Blau zusammengestrichenen Sozialhilfe oder der neue "Wohnschirm" als Auffangnetz bei Mietschulden. Hinter dem überfälligen Einstieg in eine Pflegereform war er treibende Kraft.

Angefangen bei der eher mickrigen Gehaltsaufbesserung für Pflegekräfte haben Kritiker an alldem jede Menge auszusetzen. Doch den Minister nimmt SPÖ-Sozialsprecher Josef Muchitsch vom regelmäßig erhobenen Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung in Zeiten der Preisexplosion explizit aus. Man spüre, dass Rauch aus seiner früheren Arbeit "sehr viel realitätsnahe Erfahrung" mitbringe, sagt der Oppositionspolitiker: "Rauch will mehr erreichen, als ihm die Umklammerung durch die ÖVP erlaubt. Er ist der erste Sozialminister seit langer Zeit, der diesen Titel verdient."

Der Pandemie müde: Rauch wollte lieber Sozialpolitik machen – und entsorgte rasch die Corona-Regeln.
Foto: APA / Roland Schlager

Kunst des Zuhörens

Spätestens an dieser Stelle stößt der journalistische Anspruch, ein kritisches Porträt zu schreiben, an Grenzen: Denn in der gleichen Tonart geht es weiter. "Rauch ist eine positive Überraschung", heißt es auch von der Gegenseite des sozialpolitischen Spektrums.

Der Minister höre selbst Akteuren ernsthaft zu, die den Grünen fernstehen, lobt Neos-Abgeordneter Gerald Loacker. Der betont wirtschaftsliberale Mandatar macht das etwa an Rauchs Einsehen fest, dass die Pensionen kein Fass ohne Boden sein dürften: Die jährliche Erhöhung sei erstmals seit langem so maßvoll ausgefallen, "dass ich keinen Herzinfarkt bekommen habe".

Verdacht der Showpolitik

Loacker gesteht Rauch auch Lernfähigkeit zu. In seiner Bundesfunktion habe er "rasch überrissen, wie nervtötend der Föderalismus und die Art der Landeshauptleute sind".

Das schlägt sich in Rauchs aktueller Lieblingsagenda nieder. Unverblümt, wie es der konsensfixierte Anschober wohl nie getan hätte, drängt er auf einen grundlegenden Umbau des Gesundheitssystems. Der auf diesem Feld kompetenzarme Minister will nicht nur die Ärztekammer entmachten. Von seiner Rundumanklage gegen reformresistente Blockierer dürfen sich auch die für die Spitäler zuständigen Landespolitiker angesprochen fühlen.

Gewieft habe Rauch seinen Vorstoß eingefädelt, sagt Landsmann Loacker: "Wir wissen alle, dass es die große Gesundheitsreform nie geben wird. Doch in den Augen der Öffentlichkeit werden es die anderen sein, die es vermasselt haben." Schon in Vorarlberg sei eines zu beobachten gewesen: "Auch Showpolitik ist ihm nicht fremd."

Steckt hinter dem forschen Reformergeist also vor allem Eigen-PR? Schließlich könnte man annehmen, dass ein Politiker gerade dann scheitern wird, wenn er Verhandlungspartner vor den Kopf stößt. "Es ist keine Zeit mehr, um noch länger um den heißen Brei herumzureden", hält Rauch entgegen. Bleibe das Zeitfenster des heuer neu zu fixierenden Finanzausgleichs zwischen Bund, Ländern und Gemeinden ungenützt, um die Verhältnisse sinnvoll zu ordnen, "wird in fünf Jahren der Sparstift angesetzt".

Weil es schon wurscht ist

Warum solle sein eigenes Image dabei auch groß eine Rolle spielen? "Ich bin 63", sagt Rauch, "ich muss mich keiner Wahl mehr stellen."

Wer weiß: Vielleicht steht Rauch abermals weniger auf verlorenem Posten, als es schon bei Amtsantritt den Anschein hatte. Er sei sehr geschickt darin, via Medien für ein Anliegen Stimmung zu machen, "sodass die Verhandlungspartner nicht mehr auskönnen", ist an einer Schaltstelle der Koalition zu vernehmen. Dieses Urteil stammt nicht aus den Reihen der grünen Mitstreiter – sondern aus der ÖVP. (Gerald John, 4.3.2023)