Das vorliegende Kapitel führt zunächst in die beiden zentralen Gegenstände dieser Arbeit ein. Hierbei wird die besondere Bedeutung des deutsch-israelischen Jugendaustauschs in seiner Funktion der Vermittlung zwischen den Nachkommen der Täter*innen des Dritten Reichs und den Nachkommen der ehemals Verfolgten herausgearbeitet (Abschnitt 2.1.1). Danach wird der Nahostkonflikt in seiner historischen und aktuellen Bedeutung für die deutsche Gesellschaft betrachtet, bevor seine Relevanz für das Feld der politischen Bildung reflektiert wird (Abschnitt 2.1.2). Anschließend fokussiert die theoretische Rahmung auf die Frage, welche politischen Bildungsprozesse für eine Perspektive auf den Nahostkonflikt, die der ihm zugrunde liegenden Komplexität und Vielschichtigkeit gerecht wird, von Relevanz sind. Dabei erfolgt eine Auseinandersetzung mit den Konzepten der Jugendlichen (Abschnitt 2.2.1), ihrer Fähigkeit zur Perspektivübernahme (Abschnitt 2.2.2) sowie ihrer affektiven Wahrnehmung hinsichtlich der beteiligten Konfliktparteien (Abschnitt 2.2.3). In Abschnitt 2.2.4 werden darüber hinaus die ebenfalls in der vorliegenden Untersuchung betrachteten Dimensionen der israelbezogenen antisemitischen Ressentiments und der außercurricularen Beschäftigung mit dem Themenfeld Nahost eingeführt und in ihrer Bedeutung für die vorliegende Untersuchung beschrieben.

Das Kapitel schließt mit einer Zusammenfassung und Synthese hinsichtlich der Relevanz der beschriebenen Bildungsprozesse und ihres Beitrags zur komplexen Wahrnehmung des Nahostkonflikts. Dabei werden ebenfalls die Potentiale des deutsch-israelischen Jugendaustauschs zur Initiierung dieser Bildungsprozesse erörtert (Abschnitt 2.3).

2.1 Zentrale Gegenstände der Arbeit

Die vorliegende Studie beruht auf der Untersuchung des deutsch-israelischen Jugendaustauschs und seiner Wirkung auf politische Bildungsprozesse zum Gegenstand des Nahostkonflikts. Diese beiden Gegenstände werden in den folgenden Abschnitten 2.1.1 und 2.1.2 eingeführt und in ihrer Relevanz für die zentrale Forschungsfrage beschrieben.

2.1.1 Die besondere Bedeutung des deutsch-israelischen Jugendaustausches

„Wir reden hier von Beziehungen zwischen zwei Staaten, die sich von gewöhnlichen zwischenstaatlichen Beziehungen drastisch unterscheiden. Es handelt sich hier vielmehr um eine in staatliche Institutionen gekleidete und unter staatlichem Schutz agierende wechselseitige Annährung zwischen Menschen mit scheinbar geradezu konträren Erfahrungswelten. Während die Angehörigen der israelischen Gesellschaft sich nach dem Trauma der Shoah auf den Weg machten, Lebenssinn und Identität in einem jüdischen Staat zu finden, begannen die Angehörigen der bundesdeutschen Republik ihre äußeren und inneren Aufräumarbeiten zu verrichten. In einer solchen Situation ist nicht nur an Beziehungen nicht zu denken, sondern bereits das Denken an den jeweils Anderen erweckt hier Panik und Trauer, dort Scham oder Schuldabwehr.“ (Kiesel, 2015, S. 7)

So beschreibt der wissenschaftliche Direktor der Bildungsabteilung des Zentralrats der Juden in Deutschland Doron Kiesel die deutsch-israelischen diplomatischen Beziehungen im Vorwort für die vom Koordinierungszentrum Deutsch-Israelischer Jugendaustausch (ConAct) herausgegebene Veröffentlichung anlässlich des Doppeljubiläums von 50 Jahren deutsch-israelischen diplomatischen Beziehungen und 60 Jahren Jugendaustausch (ConAct, 2015). In der Aussage manifestiert sich die Einzigartigkeit der Beziehung beider Staaten: In dieser Beziehung sind die Hauptakteur*innen die Nachkommen der Täter*innen des Dritten Reichs und des Menschenrechtsverbrechens der Shoah, des Mordes an sechs Millionen Juden*Jüdinnen, und die Nachfahren der damals Verfolgten, denen unermessliches Leid zugefügt wurde. Trotz der zunächst unvermeidlichen Kluft beider Länder entwickelte sich über die Jahre nach der Gründung Israels 1948 eine nicht nur diplomatische Beziehung beider Länder, sondern auch eine Annährung der Deutschen und der Israelis. In Reden und Gedenkfeiern wird immer wieder betont, dass das jüdische Volk als Teil der deutschen Staatsräson als ein überparteiliches Anliegen empfunden wird, was das Verantwortungsgefühl der deutschen Politik gegenüber dem Staat Israel bekräftigt (Kaim, 2016, S. 19). Auch aktuelle Bevölkerungsumfragen zeigen, dass die besondere Verantwortung Deutschlands von der Mehrheit der Bevölkerung anerkannt wird (Hagemann, 2016, S. 32; Hagemann & Nathanson, 2015, S. 42; Hestermann et al., 2022, S. 32). So stimmten in einer repräsentativen Umfrage der Bertelsmann Stiftung 61 % der Befragten aus Deutschland der Aussage „Vor dem Hintergrund der Geschichte des Nationalsozialismus hat das heutige Deutschland eine besondere Verantwortung“ zu (Hagemann & Nathanson, 2015, S. 42). In einer Folgestudie aus dem Jahr 2022 sahen 27 % der deutschen Befragten eine Verantwortung des heutigen Deutschlands gegenüber Israel und 35 % gaben an, dass Deutschland explizit eine Verantwortung gegenüber dem jüdischen VolkFootnote 1 trägt (Hestermann et al., 2022, S. 32 f.).

Eine besondere Bedeutung kommt dabei auch der Annährung, dem Austausch und dem Kontakt zwischen den in Deutschland lebenden Jugendlichen und den Jugendlichen aus Israel zu. So würdigten der Bundespräsident Horst Köhler und der israelische Staatspräsident Mosche Katzav im Jahr 2005 im Zuge des 40-jährigen Jubiläums der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Deutschland und Israel die deutsch-israelischen Jugendbegegnungen als einen zentralen Pfeiler der deutsch-israelischen Beziehungen (Weitzel, 2006).

Die Anfänge des deutsch-israelischen Austauschs gehen auf die Mitte der 1950er-Jahre zurück (Hahn, 2015, S. 19), wobei diese – größtenteils noch nicht institutionalisierten – Begegnungen zwischen israelischen und deutschenFootnote 2 Jugendlichen vor allem von den Nachwirkungen und der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen geprägt waren. Über die folgenden Jahrzehnte wurden die Begegnungen zwischen Jugendlichen der beiden Länder ausgebaut, wobei vor allem die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen im Jahr 1965 zwischen der BRD und dem Staat Israel zu einer Intensivierung, Institutionalisierung und Verstetigung der Begegnungen zwischen Jugendlichen der beiden Länder führte (Gat, 2013, S. 320 f.; Hahn, 2015, S. 21). Indes kam es erst nach der Wiedervereinigung zur Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen den neuen Bundesländern der ehemaligen DDR und dem Staat Israel, wodurch auch erst im Zuge der Nachwendejahre erste Austauschbegegnungen zwischen ostdeutschen und israelischen Jugendlichen stattfanden (Pahnke, 2015). Im Jahr 2001 wurde auf Initiative des damaligen deutschen Bundespräsidenten Johannes Rau die Gründung eines Koordinierungsbüros für den deutsch-israelischen Jugendaustausch beschlossen (BMFSFJ & Minister für Erziehungswesen, Israel, 2000), das 2001 als ConAct in der Lutherstadt Wittenberg eröffnete (Hahn, 2015, S. 24). Der Kooperationspartner von ConAct ist die Israel Youth Exchange Authority in Tel Aviv (ebd.). Die aktuellen Zahlen aus dem Jahr 2018 zeigen, dass mehr als 620 000 Jugendliche im Rahmen des deutsch-israelischen Jugendaustauschs bereits das jeweils andere Land besucht haben (BMFSFJ, 2018). Im selben Jahr wurden der Ausbau und die Weiterentwicklung des deutsch-israelischen Jugendaustauschs wegen seiner zentralen Funktion für das gegenseitige Verständnis und die Aussöhnung der beiden Länder durch die Bundesregierung bekräftigt (ebd.).

Die Leiterin des ConAct, Christine Mähler, beschreibt den deutsch-israelischen Jugendaustausch und die angestrebte Zielgruppe wie folgt:

„die Begegnungen junger Menschen aus zwei demokratischen Staaten – der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel. Junge Menschen sowie Fachkräfte der Jugendarbeit aus beiden Ländern sind – ungeachtet ihrer nationalen, religiösen oder anderweitig kulturellen Bezüge und persönlichen Identitäten – mögliche Teilnehmende deutsch-israelischer Austauschprogramme.“ (Mähler, 2015, S. 11)

Dabei zeigen sich auch im deutsch-israelischen Jugendaustausch Effekte aktueller Entwicklungen in den Beziehungen der beiden Länder. Während die Begegnungen der ersten Kohorten der Nachkriegsjahre bis in die 2000er-Jahre wie oben beschrieben ausschließlich im Zeichen der Aufarbeitungs- und Annährungsarbeit standen, rückten mit fortschreitender Zeit auch aktuellere politische Entwicklungen in die Erfahrungswelt der jungen Teilnehmer*innen des Austauschs in den Vordergrund der Begegnungen. Vor allem in den 2000er-Jahren hat die zweite Intifada kurzzeitig zu einem Einbruch der Teilnehmer*innenzahlen des deutsch-israelischen Jugendaustauschs geführt (Hahn, 2015, S. 24) und damit die Teilnehmer*innen auch mit dem genuinen israelisch-palästinensischen Konflikt konfrontiert. Dieser rückte über die Zeit immer mehr in den Fokus des Interesses der Teilnehmer*innen (siehe u. a. Ayalon & Schnell, 2015, S. 80; Heil, 2011, S. 300; Hilbig, 1995, S. 214). Auch wenn es eine vielfach von Koordinator*innen und Organisator*innen geteilte Auffassung ist, dass der Nahostkonflikt nicht zwingend eine diskursive Behandlung im Austauschprogramm erfahren muss, scheint die Konfrontation mit ihm durch die Teilnahme am israelischen Alltag und den Kontakt mit den israelischen Austauschpartner*innen zur heutigen Zeit dennoch unumgänglich (Mähler, 2021). Trotz des bereits erwähnten starken politischen Interesses und der über Jahrzehnte etablierten Tradition des deutsch-israelischen Jugendaustauschs ist vor allem im Bereich der wissenschaftlichen Begleitforschung zur Wirkung dieses Austauschs ein Forschungsdesiderat zu attestierten (Heil, 2011, S. 18 siehe dazu Abschnitt 3.1).

An dieser Stelle ist ein Hinweis zur genutzten Terminologie in der vorliegenden Arbeit nötig. In unterschiedlichen Auseinandersetzungen mit Jugendaustauschprogrammen werden verschiedene Begriffe verwendet. Die Begriffe ‚Jugendaustausch‘, ‚Jugendbegegnung‘ und ‚Schüler*innenaustausch‘ gehören dabei zu den häufigsten Bezeichnungen für Programme, die einen bi- oder multinationalen Austausch von Jugendlichen beinhalten und denen die Prämisse zugrunde liegt, dass die Jugendlichen keine rein touristische Reise in ein Land machen, sondern dass die Kontaktkomponente zu (meist gleichaltrigen) Jugendlichen aus dem Gastland im Zentrum steht (siehe u. a. Ayalon & Schnell, 2015; M. Maoz, 2015; Sailer & Schulz, 2012). In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff ‚deutsch-israelischer Jugendaustausch‘ aus den gemeinsamen Bestimmungen für die Durchführung und Förderung des deutsch-israelischen Jugendaustausches des ConAct (ConAct, 2011) adaptiert.

2.1.2 Der Nahostkonflikt und seine Bedeutung für die politische Bildung

Der Nahostkonflikt ist in der deutschen Öffentlichkeit mit einem hohen Maß an Aufmerksamkeit verbunden und wird als Konflikt mit weltpolitischer Bedeutung diskutiert (Hagemann, 2016, S. 27). Pedi D. Lehmann stellt fest, dass es „kaum eine Krise in der internationalen Politik [gebe, die] so viel Aufmerksamkeit erfahre wie der israelisch-arabische Konflikt“ (Lehmann, 2001, S. 11). Margret Johannsen betont gleichzeitig, dass es streng genommen nicht den „NahostKonflikt“ gibt:

„Was unter diesem Begriff firmiert, sind zwischen lokal, regional und global handelnden Akteuren vielfach verknüpfte Beziehungen, als deren Kern die Konkurrenz um Palästina, das Land zwischen dem Fluss Jordan und dem Mittelmeer, gilt.“ (Johannsen, 2023, S. 1)

Dabei sind auch die Austragungsformen des Konflikts vielschichtig und komplex, was sich in diplomatischen Bemühungen unterschiedlicher nationaler und internationaler Akteure, aber auch in einem periodisch ausbrechenden Gewaltpotential zeigt (ebd.). Um den Nahostkonflikt in seiner Komplexität greifbar zu machen, ist es wesentlich, die historischen und politischen Hintergründe seiner Entstehungsgeschichte zu verdeutlichen. Deshalb wird im Folgenden ein geschichtlicher Abriss des Konflikts dargestellt, bevor die Rolle des Nahostkonflikts in seiner Wirkung auf die Einstellungen und Meinungen deutscher Befragter skizziert und abschließend die Bedeutung des Nahostkonflikts für die politische Bildung diskutiert wird.

Historische Hintergründe des Nahostkonflikts

Der Nahostkonflikt zeichnet sich trotz der geografischen Ferne des Gebiets des heutigen Israels durch eine enge Verknüpfung der Ereignisse im Konflikt mit Europa und damit auch Deutschland aus. So galt bereits im 11. Jahrhundert die „Befreiung Jerusalems von der muslimischen Fremdherrschaft“ europäischen Herrschern als ein Ziel der Kreuzzüge (Asseburg & Busse, 2018, S. 7). Obwohl bereits seit ca. 3000 Jahren Jüdinnen*Juden (biblisch: Israeliten, Hebräer) im heutigen Gebiet Israels ansässig waren, kam es erst mit dem Nationalsozialismus, dem aufkeimenden Antisemitismus und den Pogromen des 19. Jahrhunderts in Europa und Russland zu einer starken numerischen Zunahme der jüdischen Einwanderungen aus Europa und Russland in das Gebiet (Asseburg & Busse, 2018, S. 14; Johannsen, 2011, S. 14, 2023, S. 9; Krell, 2009, S. 102). Die Geflüchteten gelangten dabei jedoch nicht in eine Region, die unbewohnt war. Das Gebiet, das später das britische Mandatsgebiet Palästina werden sollte, war bereits vor der Immigrationswelle mehrheitlich von muslimischen Araber*innen besiedelt, die zum damaligen Zeitpunkt die Mehrheit in der Region bildeten und den jüdischen Einwanderer*innen aufgrund der Konkurrenz um die begrenzten Ressourcen des Landes, wie Ackerland und Wasser, skeptisch gegenüberstanden (Asseburg & Busse, 2018, S. 16; Johannsen, 2011, S. 67 f.). Die Konkurrenzsituation und die damit verbundenen Konflikte zwischen den Jüdinnen*Juden und den Araber*innen reichten dabei geschichtlich ebenso weit zurück wie die gemeinsame Geschichte in der Region. Dabei spielte nicht zuletzt die dominierende Rolle Großbritanniens im Ersten Weltkrieg, das nach Zerfall des Osmanischen Reichs das Gebiet 1917 besetzte, eine schicksalhafte Rolle (Fröhlich, 2010, S. 82 f.). Zur Absicherung der eigenen strategischen und wirtschaftlichen Interessen hielt Großbritannien noch vor Kriegsende Geheimgespräche mit arabischen und jüdischen Vertreter*innen mit teilweise widersprüchlichen Zusagen über das weitere Schicksal Palästinas und nährte damit sowohl die jüdisch-zionistischen als auch die arabischen Hoffnungen für die Entwicklung des Gebiets. So sprach Großbritannien einerseits dem Scherifen von Mekka, Hussein Ibn Ali, die Unterstützung für ein unabhängiges arabisches Königreich zu, um den arabischen Aufstand gegen die Osmanen zu sichern. Gleichzeitig machte Großbritannien zionistischen Organisationen Hoffnung, indem es 1917 dem Zionisten Walter Rothschild in der Balfour-Deklaration die Zusage für die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk im Gebiet Palästinas gab (Asseburg & Busse, 2018, S. 17; Fröhlich, 2010, S. 82 f.; Johannsen, 2011, S. 16; Kloke, 2010, S. 3). Letzteres diente dem strategischen Ziel Großbritanniens, die Unterstützung britischer Jüdinnen*Juden für die eigene Kriegsführung zu erlangen (Asseburg & Busse, 2018, S. 17; Kloke, 2010, S. 3). Seit 1920 erhielt Großbritannien den Auftrag zur Verwaltung Palästinas, womit aus der Region des heutigen Israels, des Gazastreifens, des Westjordanlandes und Jordaniens das britische Mandatsgebiet Palästina wurde (Asseburg & Busse, 2018, S. 17; Tophoven, 1991, S. 17).

Die Quellen der modernen jüdischen Einwanderung nach Palästina liegen im Nationalsozialismus und im aufkeimenden Antisemitismus (Johannsen, 2023, S. 9). So verdichtete sich die in die Zeit der Antike zurückgehende Ablehnung von Jüdinnen*Juden im 19. Jahrhundert und vollzog den Wandel von einer bisher religiös begründeten Ablehnung der Jüdinnen*Juden zu einem pseudowissenschaftlich und vermeintlich biologistisch argumentierenden Rassen-Antisemitismus und im Kontext der Nationalstaatsbildung zum nationalistisch grundierten Antisemitismus (Benz, 2016, S. 17 ff.). Über Schuldzuweisungen für wirtschaftliche Krisen und vor dem Hintergrund der Niederlage im Ersten Weltkrieg wurde das Feindbild des ‚schuldigen Juden‘ weiter geschürt und führte im europäischen Raum zur systematischen Diskriminierung und Exklusion von Jüdinnen*Juden (Longerich, 2021, S. 184). Als letzte Konsequenz des Antisemitismus im deutschen Herrschaftsraum und in Europa kam es von 1941 bis 1945 zur Schoah, der systematischen Vernichtung des jüdischen Volkes als „Endlösung der Judenfrage“Footnote 3 (Benz, 2016, S. 134 ff.; Zimmermann, 2019, S. 436). Der Auswanderungs- und Verfolgungsdruck des nationalsozialistischen Regimes und die Zeit nach 1945, in der ein jüdisches Leben in Deutschland undenkbar erschien, verliehen dem bereits seit den 1860er-Jahren unter jüdischen Intellektuellen weit verbreiteten ZionismusFootnote 4 – der Vorstellung einer Rückkehr aller Jüdinnen*Juden in ihre historische HeimatFootnote 5, in der sie frei und sicher leben können – Unterstützung (Benz, 2016, S. 143; Johannsen, 2011, S. 14 f., 2023, S. 9 f.; Krell, 2009, S. 102; Zadoff, 2020, S. 11; Zimmermann, 2019, S. 432) und lösten eine Immigrationswelle von Vertriebenen, Verfolgten und nach 1945 überlebenden Jüdinnen*Juden aus (Asseburg & Busse, 2018, S. 14). Dies führte zu einem bedeutenden Einfluss auf die demografische Relation zwischen den in der Region lebenden Araber*innen und Jüdinnen*Juden: Während Ende 1919 die jüdische Population in der Region Palästinas auf 56 000 geschätzt wurde, kamen allein in der Zeit von 1939 bis 1945 rund 70 000 europäische Jüdinnen*Juden aus Polen, Deutschland, Rumänien, Ungarn und der Tschechoslowakei nach Israel, womit der jüdische Bevölkerungsanteil in Palästina bis 1945 auf 30 % anstieg (Y. Cohen, 2002, S. 36 ff.; Johannsen, 2011, S. 19, 2023, S. 18). Diese neue, immense Immigrationswelle in das britische Mandatsgebiet spitzte den Konflikt zwischen der ansässigen Bevölkerung und den Immigrant*innen weiter zu, da beide Parteien weiterhin um die wirtschaftliche Dominanz und damit um die Existenzgrundlage konkurrierten (Asseburg & Busse, 2018, S. 17). In der Folge kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Araber*innen und Jüdinnen*Juden, zunehmend richteten sich die Aufstände aber gegen die britischen Mandatsbehörden und damit gegen die britischen Besatzer*innen (Johannsen, 2023, S. 16 f.). Aus Furcht vor weiteren Eskalationen und unter dem Druck der Ereignisse wurden zur Lösung der Streitigkeiten von einem UN-Sonderausschuss Lösungsvorschläge erarbeitet, die eine Teilung des Mandatsgebiets in einen jüdischen und einen arabischen Staat vorsahen, mit der Ausnahme des Großraums Jerusalem, der einen internationalen Sonderstatus als ‚Corpus Separatum‘ erhalten sollte (Asseburg & Busse, 2018, S. 18 f.). Die Idee eines binationalen Staates war dagegen nicht mehrheitsfähig (Johannsen, 2023, S. 19). Dieser Teilungsplan wurde von der UN-Generalversammlung im November 1947 als Resolution 181 (II) trotz der Gegenstimmen arabischer Mitgliedsländer angenommen (Asseburg & Busse, 2018, S. 19). Am 14. Mai 1948 endete schließlich das britische Mandat über Palästina. Am gleichen Tag wurde von David Ben-Gurion die Unabhängigkeit des Staates Israel proklamiert (Tophoven, 1991, S. 17). Als direkte Reaktion folgte am Tag darauf der erste Nahostkrieg, in dem die angreifenden arabischen Staaten (Ägypten, Syrien, der Libanon, Transjordanien und der Irak) die Unterstützung der Palästinenser*innenFootnote 6 und die Rückgängigmachung der Staatsgründung Israels zum Ziel erklärten (Johannsen, 2023, S. 20 f.). Der Krieg endete mit einem Sieg Israels und der Erweiterung des israelischen Staatsgebiets durch die Eroberung weiterer Zonen des ehemaligen palästinensischen Mandatsgebiets (Johannsen, 2023, S. 21). Zugleich wirkte die arabische Niederlage als ein Katalysator für weitere Auseinandersetzungen und gewalttätige Konflikte in der Region und in Israel sowie in den palästinensisch verwalteten Gebieten (ebd., S. 24). Die Bedeutung des ersten Nahostkriegs für die beiden Kriegsparteien und dessen diametrale Wirkung spiegeln sich auch in der Namensgebung wider: Die Israelis bezeichnen den arabisch-israelischen Krieg von 1948 als Unabhängigkeitskrieg, die arabische Seite spricht von Nakba (‚Katastrophe‘) (Asseburg & Busse, 2018, S. 19; Johannsen, 2023, S. 22; Kloke, 2010, S. 14 f.).

Dem ersten Nahostkrieg nach Gründung des Staates Israel folgten zahlreiche gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den Israelis, den Palästinenser*innen und weiteren arabischen Staaten, die als Höhepunkte des Nahostkonflikts klassifiziert werden können. Als zentrale Konfliktgegenstände, über die im Nahostkonflikt gestritten wird, zählen der Kampf um Staatlichkeit und Autonomie von Israel und Palästina, der Kampf um Territorium und Grenzen, der Kampf um Wasser, die israelische Besatzungs- und Siedlungspolitik, der Kampf um religiöse Stätte in Jerusalem, der Umgang mit palästinensischen Flüchtlingen sowie wirtschaftliche Faktoren, wobei auch etliche religiöse, kulturelle, rassistische, islamfeindliche und (antizionistisch-)antisemitische Motive eine Rolle spielen (Benz, 2016, S. 188 ff.; Girat, 2017; Hagemann, 2017; Johannsen, 2011, S. 59 ff., 2023, S. 69 ff.; Niehoff, 2017, S. 71 ff.). Als zentrale zwischenstaatliche Kriege des Nahostkonflikts werden der Suez-Krieg 1956, der Sechs-Tage-Krieg von 1967, der Jom-Kippur-Krieg von 1973, der Libanonkrieg 1982, die Intifadas von 1987 und 2000 und der zweite Libanonkrieg 2006 (Johannsen, 2011, S. 22 f., 2023, S. 20 ff.; Tophoven, 1991, S. 17) verstanden, wobei es viele weitere bewaffnete Eskalationen zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten sowie arabischen Staaten gab. Zuletzt kam es im Jahr 2021 zu einer großen Eskalation zwischen Israelis und Palästinenser*innen, als die israelischen Behörden zur Zeit des islamischen Fastenmonats Ramadan im April 2021 Sicherheitsschranken im Außenbezirk des Damaskus-Tores anbrachten, das den direkten Zugang zum arabischen Teil der Altstadt gewährt. In Kombination mit zuvor angekündigten Wohnungsräumungen mehrerer israelisch-arabischer Familien im Jerusalemer Viertel Sheich Dscharrah zugunsten von israelischen Siedler*innen kam es erneut zu Ausschreitungen und insbesondere gegenseitigen Angriffen der Palästinenser*innen und der Israelis sowie zu Beschuss Israels aus dem Gazastreifen (Gorawantschy & Burkhardt, 2021, S. 1; RIAS Berlin, 2021, S. 37).

Der Nahostkonflikt als Katalysator für israelbezogene antisemitische Ressentiments in der deutschen Bevölkerung

Der Nahostkonflikt zeichnet sich zudem dadurch aus, dass er auch außerhalb der regionalen Reichweite, also außerhalb der Gebiete im Nahen Osten, ein hohes Mobilisierungspotential aufweist. Offenkundig wird dies durch Befunde aus Meinungsumfragen und der Einstellungsforschung, die darauf verweisen, dass insbesondere durch den Nahostkonflikt auch im deutschen Raum Jüdinnen*Juden von einer pauschalen Verurteilung für die Palästina-Politik Israels betroffen sind und dass in Deutschland deutliche Sympathien und Antipathien für Israelis bzw. die Palästinenser*innen bestehen, wobei der Grad an Sympathie ereignisbezogenen Schwankungen unterliegt und stark durch tagespolitische Ereignisse im Nahostkonflikt geprägt ist (Bergmann & Erb, 1991, S. 181 f.; Hagemann, 2016, S. 29; Hagemann & Nathanson, 2015, S. 37 ff.; Kiess et al., 2020, S. 227, 229). Die Wahrnehmung der beiden Kriegsparteien hängt eng mit der Einschätzung zusammen, wer den Konflikt verursacht hat. So scheint Israel die höchsten Sympathiewerte in Deutschland zur Zeit des Sechs-Tage-Kriegs von 1967 und des Jom-Kippur-Kriegs von 1973 genossen zu haben, in denen Israel in der öffentlichen Wahrnehmung als Opfer der Angriffe galt (Bergmann & Erb, 1991, S. 182; Hagemann, 2016, S. 28 f.; Longerich, 2021, S. 386). So gaben zur Zeit der beiden Kriege 55 % (1967) bzw. 57 % (1973) der deutschen Befragten an, Sympathie mit Israel zu empfinden (Bergmann & Erb, 1991, S. 182). Seit den 1980er-Jahren nimmt die Sympathie für Israel in deutschen Meinungsumfragen dagegen ab, wobei die Sympathien für die arabisch-palästinensische Seite nicht zunehmen, sondern die Tendenz zu einer kritischen Bewertung beider Kriegsparteien besteht. So gab im Nachgang der zweiten Intifada im Jahr 2004 die Mehrheit (43 %) der deutschen Befragten an, dass sie weder für Israel noch für die arabisch-palästinensische Seite Sympathien empfinden (Hagemann, 2016, S. 29). Dieser Trend setzt sich auch heute fort, wobei vor allem die israelische Regierung von deutschen Befragten kritisch betrachtet wird. So gaben 43 % der befragten Deutschen in einer von der Bertelsmann-Stiftung in Auftrag gegebenen Studie im Jahr 2021 an, eine ziemlich schlechte bzw. sehr schlechte Meinung von der israelischen Regierung zu habenFootnote 7 (Hestermann et al., 2022, S. 24). Neben einer legitimen Kritik an den politischen Handlungen der politischen Führung Israels offenbaren Daten von Meinungsumfragen das Problem der Gleichsetzung von Jüdinnen*Juden mit den politischen Handlungen Israels, was in ein israelbezogen-antisemitisches Narrativ übergeht. So zeigt ein Survey des World Jewish Congress (WJC) im Jahr 2019Footnote 8, dass bei 38 % der Befragten die Meinung über Jüdinnen*Juden durch die politischen Handlungen der israelischen Regierung beeinflusst wird.Footnote 9 65 % der Befragten gaben an, ihre Meinung gegenüber Jüdinnen*Juden habe sich durch die Handlungen Israels verschlechtert. 34 % der Befragten äußerten darüber hinaus, dass der Nahostkonflikt eine eher negative Wirkung auf ihre Meinung gegenüber Jüdinnen*Juden hat (World Jewish Congress, 2019). Damit repliziert die Studie einen Befund, der sich bereits aus anderen Meinungsumfragen in Deutschland abzeichnet, wonach die mit dem Nahostkonflikt in Verbindung stehenden antiisraelischen Ressentiments und Einstellungen, die dem israelbezogenen Antisemitismus zuzuordnen sind, in Deutschland gesamtgesellschaftlich einen hohen Grad an Zustimmung erreichen. So stimmten laut einer Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung im Jahr 2016 40 % der Befragten aus Deutschland israelbezogenen antisemitischen Aussagen zu. Damit stellt der israelbezogene Antisemitismus die dominierende Facette von Antisemitismus unter Deutschen dar (Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus, 2017, S. 63). Dabei weisen Forscher*innen auf das Phänomen hin, dass sich israelbezogene Ressentiments nicht als ein gruppenspezifisches Phänomen beschreiben lassen, sondern übergreifend bei den Anhängern unterschiedlicher Parteien, in diversen gesellschaftlichen Gruppierungen und in verschiedenen Religions- und Herkunftsgruppen zu finden sind (Kiess et al., 2020, S. 238; Schwarz-Friesel, 2015, 2019; Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus, 2017, S. 69 ff.).

Nicht zu unterschätzen ist dabei der hohe Grad der Emotionalisierung des Nahostkonflikts auch außerhalb der Grenzen Israels, denn auch in der deutschen Bevölkerung zeigt sich, dass Debatten um den Nahostkonflikt und die beteiligten Kriegsparteien emotional hoch aufgeladen sind (Messerschmidt & Fereidooni, 2019). Insbesondere im Hinblick auf israelbezogene Ressentiments und antisemitische Einstellungen heben Wissenschaftler*innen die Funktion von Emotionen als Katalysator hervor (Follert & Stender, 2010, S. 219; Messerschmidt & Fereidooni, 2019, S. 355 f.; Schwarz-Friesel, 2020, S. 45). So scheinen Hass und der Wunsch nach Schuldabwehr eine bedeutende Rolle in antisemitischen und israelbezogenen Ressentiments einzunehmen (Bernstein, 2022; Schwarz-Friesel, 2020). Auch Jugendliche zeigen sich vom Nahostkonflikt emotional betroffen und von den Krisen in hohem Maße berührt (Fava, 2019b; Follert & Stender, 2010, S. 219; Niehoff, 2016a, S. 13). Dies schlägt sich auch in Meinungsumfragen nieder, in denen die Facette des israelbezogenen Antisemitismus unter Jugendlichen im Vergleich zu anderen Formen des AntisemitismusFootnote 10 dreimal höher liegt (Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus, 2017, S. 68). Gleichzeitig verweisen Studien mit jüdischen Jugendlichen und Schüler*innen darauf, dass Schüler*innen mit jüdischen Biografien häufig mit Anfeindungen und antisemitischen Aussagen konfrontiert werden, weil ihre Mitschüler*innen ihnen auf Grundlage von Geschehnissen im Nahostkonflikt generalisierend die Repräsentant*innenrolle für die politischen Handlungen Israels zuweisen (Bernstein, 2018, 2021, S. 86 f.; Bernstein et al., 2020; Bernstein & Diddens, 2021, S. 162 f.; Zick et al., 2017, S. 63 f.).

Politische Bildung und der Gegenstand Nahostkonflikt

Der Einfluss des Nahostkonflikts ist nicht nur im Nahen Osten allgegenwärtig, sondern ist auch im internationalen Raum und somit ebenfalls in Deutschland spürbar. Die damit einhergehenden israelbezogenen Ressentiments, die in einem korrelativen Zusammenhang mit anderen Formen von Antisemitismus und Judenfeindschaft stehen (Kiess et al., 2022, S. 221, 224 f. siehe auch Abschnitt 2.2.4.1), drücken sich in der Gesellschaft zunehmend in antisemitischen Handlungen und Äußerungen aus (RIAS Berlin, 2021, S. 36). Dies begründet einen Bedarf an pädagogischen und didaktischen Konzepten, die präventiv ebenso wie intervenierend israelbezogenen Ressentiments und dahinter verborgenen antisemitischen Einstellungen entgegenwirken sowie ein angemessenes Bild von der Kontroversität und Komplexität des Nahostkonflikts vermitteln. Auch für die politische Bildung lässt sich ein Spannungsfeld hinsichtlich des Nahostkonflikts identifizieren:

„Denn aufgrund der Bedeutung des Nahostkonflikts und der Relevanz gegenstandsbezogen-problematischer Zugänge und Perspektiven liegt eine Bearbeitung des Themas durch die politische Bildung (…) nahe“ (Niehoff, 2017, S. 14).

Gleichzeitig berichten Forscher*innen von dem Problem, dass viele Akteur*innen in der (schulischen und außerschulischen) politischen Bildungsarbeit im Umgang mit dem komplexen, mehrdimensionalen und emotional besetzten Gegenstand Nahostkonflikt Unsicherheiten verspüren und diesen Gegenstand daher unberührt lassen (Bernstein, 2021, S. 85 ff.; Bernstein & Diddens, 2021, S. 163; Grimm et al., 2022, S. 24 f.; Salzborn & Kurth, 2019, S. 40 f.; Wolf, 2021, S. 93). In seiner Doktorarbeit attestiert Christoph Wolf der schulischen Bearbeitung des Themas Nahostkonflikt im Rahmen des Politikunterrichts sogar eine „curriculare Obdachlosigkeit“ (Wolf, 2021, S. 89). Es stellt sich also die Frage, auf welche Weise gerade Jugendlichen, bei denen die israelbezogenen Ressentiments die dominierende Facette von Antisemitismus darstellen, ein Bild vom Nahostkonflikt vermittelt werden kann, das nicht nur auf das reine Darbieten von Fakten und auf eine möglicherweise zu späte Intervention ausgerichtet ist, sondern den Gegenstand in seiner Komplexität, in seiner Vielschichtigkeit und seiner Ambiguität näherbringt und die Jugendlichen dazu befähigt, eine eigene Meinung und eigene Perspektiven zu entwickeln.

Ein passendes Angebot stellt der begegnungspädagogische Ansatz des deutsch-israelischen Jugendaustausches dar. Erste Studien, die die Wirkung dieses Austausches betrachtet haben, berichten von dessen positiven Effekten auf die Wahrnehmungen und Einstellungen der Jugendlichen in Bezug auf Israel (siehe Kapitel 3). Ob durch den deutsch-israelischen Jugendaustausch tatsächlich Bildungsprozesse in Bezug auf den Nahostkonflikt initiiert werden und ob die Fähigkeit zu einer differenzierten Betrachtung dieses Konflikts unter Einbezug unterschiedlicher Perspektiven gestärkt wird, ist bislang noch nicht geklärt.

2.2 Kognitive und affektive Bildungsprozesse zur Förderung der Einsicht in die Komplexität des Nahostkonflikts

In diesem Kapitel sollen die Bildungsprozesse Beachtung finden, die aus der theoretischen und empirischen Auseinandersetzung als zentrale Dimensionen hervortreten, um eine Wahrnehmung des Nahostkonflikts zu entwickeln, die für dessen Kontroversen und dessen Komplexität sensibilisiert ist. Unter der Vorannahme, dass die Teilnehmer*innen des deutsch-israelischen Jugendaustauschs bereits vor Antritt über Vorstellungen und Konzepte zum Nahostkonflikt verfügen (Heil, 2011, S. 300), werden in Abschnitt 2.2.1 (Prä-)Konzepte und ihre Funktion, ihre Definition und zentrale Einflussfaktoren für den Conceptual Change betrachtet. Daran anschließend erfolgt eine Betrachtung der Funktion und Definition der Perspektivübernahme als zentraler Kompetenz für die Bewertung des Nahostkonflikts (Abschnitt 2.2.2). Hierbei finden auch die Erkenntnisse der transformativen Lerntheorie (Mezirow, 2000) zur (Weiter-)Entwicklung der Perspektivübernahme Beachtung.

Durch den starken Zusammenhang von Emotionen und der Wahrnehmung des Nahostkonflikts (Hagemann, 2016, S. 29) widmet sich Abschnitt 2.2.3 einer Betrachtung von Emotionen in Bildungs- und Handlungsprozessen und den zentralen Ergebnissen der Vorurteilsforschung für den Abbau negativer und den Aufbau positiver Emotionen. Als weitere Dimensionen politischer Bildungsprozesse werden israelbezogene antisemitische Ressentiments (Abschnitt 2.2.4.1) und die außercurriculare Beschäftigung mit dem Themenfeld Nahost (Abschnitt 2.2.4.2) in ihrer Bedeutung für die vorliegende Studie betrachtet. Das Theoriekapitel schließt mit einer Zusammenfassung und Synthese der generierten Erkenntnisse hinsichtlich der Relevanz der Bildungsprozesse für eine komplexe Wahrnehmung des Nahostkonflikts und einer abschließenden Reflexion hinsichtlich der prognostizierten Potentiale des deutsch-israelischen Jugendaustauschs zur Förderung der genannten Bildungsprozesse (Abschnitt 2.3).

2.2.1 (Prä-)Konzepte und Conceptual Change

In Diskussionen zum Nahostkonflikt zeigen sich häufig Unsicherheiten in Bezug auf den historischen und politischen Kontext (Bernstein, 2018). Diese Unsicherheiten sind in Teilen der Komplexität des Konflikts geschuldet. Häufig jedoch sind sie auch mit der unbewussten Verbreitung tradierter antisemitischer Thesen und Aussagen verbunden (Benz, 2016; Hagemann, 2016; Salzborn, 2018). Es lässt sich daher der Auftrag für die politische Bildung ableiten, eine Wissensgrundlage und Hilfestellung zur Urteilsbildung zum Gegenstand Nahostkonflikt zu vermitteln (Hasgall, 2010, S. 5). Die an einem Austausch beteiligten Jugendlichen reisen nicht ohne bereits vorhandene Konzepte und Vorstellungen zum Nahostkonflikt an, sondern bringen ihre eigenen Ansichten und Erfahrungen mit (Cares, 2018, S. 46; Heil, 2011, S. 300). Es ist daher von Bedeutung, sich mit der Frage nach ihren Präkonzepten auseinanderzusetzen und zu betrachten, welche Konzepte hinsichtlich des Nahostkonflikts bereits vor dem Austausch und welche nach dem Austausch bei den Jugendlichen vorherrschen. Gleichzeitig stellt sich die Frage, auf welche Weise ihre Konzepte erweitert werden. Im Folgenden sollen daher zunächst die theoretischen Auseinandersetzungen in der politischen Bildung zur Anreicherung vorherrschender Konzepte beschrieben werden, bevor in der Theorie und Forschung etablierte Theorien zur Erschließung von Vorwissen und Konzepten Jugendlicher präsentiert werden. Hierbei wird vorrangig auf die Erkenntnisse der Conceptual-Change-Forschung fokussiert.

2.2.1.1 (Prä-)Konzepte als Teil der politischen Bildung

Trotz des identifizierten Bedarfs einer Vermittlung von Inhalten, die den Jugendlichen helfen, den Nahostkonflikt in seiner Komplexität zu begreifen, muss zunächst diskutiert werden, welche Inhalte die Vermittlung umfassen muss und welche kognitiven Prozesse angesprochen werden müssen. Denn in der Politikdidaktik ist die Frage, was politische Bildung im Detail vermitteln soll, umstritten. Es gibt zwar einen Konsens darüber, dass ohne „verallgemeinernde Fachbegriffe, die als Denkweise dienen“ (siehe Sander et al., 2017, S. 94) ein Wissenserwerb nicht effektiv ablaufen kann, doch welche genauen Kenntnisse (Sachbegriffe oder tiefgreifende Zusammenhänge) der Wissenserwerbsprozess einschließen sollte, wird in der fachdidaktischen Auseinandersetzung weiterhin verhandelt (ebd. 97 ff.).

Die Zielvorstellung der Politikdidaktik folgt dabei dem an Immanuel Kants Aufklärungspostulat orientierten Leitbild der mündigen Bürger*innen (Detjen, 2010, S. 9, 101, 111; GPJE, 2004, S. 9; Hahn-Laudenberg, 2017, S. 35; Hufer, 2013, S. 23; Sander et al., 2017, S. 13 f.; Weißeno et al., 2018, S. 25). Nach Kant wird Aufklärung als die Befreiung des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit begriffen (Kant, 1784, S. 481). Dieser Befreiungsgedanke schlägt sich im Konzept der politischen Mündigkeit nieder. Mündigkeit wird als Bedingung für die erfolgreiche Partizipation am öffentlichen Leben gesehen. Ebenso wird Mündigkeit für den Erhalt einer demokratischen politischen Kultur und eines demokratischen Systems von den Schüler*innen und Bürger*innen erwartet (GPJE, 2004, S. 9). Lernende tragen bereits Vorstellungen in ihre Bildungserfahrung hinein und sind in diesem Sinne kein unbeschriebenes Blatt. Mündigkeit ist dabei keine domänen- oder lernfeldspezifische Kompetenz, sondern wird auch abseits eines Lernsettings benötigt. Dirk Lange formuliert hinsichtlich der politischen Mündigkeit die Forderung, dass diese „ihre Plausibilität in alltäglichen Kontexten entfalten muss“ (D. Lange, 2008, S. 433). Abgesehen von der unbestrittenen Sichtweise, dass die politische Bildung einen Beitrag zur politischen Mündigkeit leisten soll, bestehen differierende Vorstellungen hinsichtlich der konkreten Wege, diese normative Zielvorstellung der Mündigkeit zu erreichen.

In den Anforderungen der ‚Nationalen Bildungsstandards für den Fachunterricht in der Politischen Bildung an Schulen‘, die von der Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung (GPJE) veröffentlicht wurden (GPJE, 2004), werden vier Kompetenzentwicklungsbereiche präsentiert, in denen der Politikunterricht eine Wirkung erzielen soll. Es wird davon ausgegangen, dass der schulische Politikunterricht nie an einem „Nullpunkt“ (siehe GPJE, 2004, S. 13) ansetzt, sondern an vorhandene Strukturen der Schüler*innen anknüpft. Durch den Unterricht sollen die vorhandenen Konzepte erweitert und weiterentwickelt werden.

Dabei stehen drei Kompetenzbereiche im Zentrum: die politische Urteilsfähigkeit, die die analytische und reflexive Beurteilung politischer Gegenstände umfasst, die politische Handlungsfähigkeit, die auf eine Verbalisierung und Diskussion von politischen Gegenständen abzielt, sowie methodische Fähigkeiten, die die eigenständige Auseinandersetzung mit dem Thema über den Unterricht hinaus umfassen. Kompetenzübergreifen ist die Fähigkeit des konzeptionellen Deutungswissens zu verorten. Auch beim konzeptionellen Deutungswissen wird davon ausgegangen, dass vorhandenes Wissen durch den Unterricht vertieft und erweitert wird. Wissensgenerierung entspricht demnach der Anreicherung von Deutungswissen, wobei es weniger relevant ist, z. B. die genaue Anzahl der Mitglieder des Bundestags zu kennen, als die Funktion des Parlaments in der repräsentativen Demokratie zu verstehen (GPJE, 2004, S. 14). Dabei wird davon ausgegangen, dass der*die Schüler*in bereits ein mehr oder weniger umfassendes Vorwissen mitbringt. So

„[muss] [n]eues Wissen […] deshalb in eine Beziehung zu den Vorverständnissen gesetzt werden, die Schülerinnen und Schüler von den Gegenständen des Faches bereits mitbringen“ (ebd.).

Auf den Jugendaustausch übertragen bedeutet dies, dass die Jugendlichen mit Vorwissen zum Nahostkonflikt nach Israel reisen. Dieser Gedanke wird durch bereits durchgeführte Studien bestätigt. So deuten die Ergebnisse der Studien von Heil (Heil, 2011) sowie des Bayerischen Jugendrings (Sailer & Schulz, 2012) darauf hin, dass Jugendliche bereits vor dem Jugendaustausch über konzeptuelle Vorstellungen zum Nahostkonflikt verfügen. Wie beschrieben wird Deutungswissen im Verständnis der GPJE dabei weniger als ein Wissen verstanden, das auf der Wiedergabe von Fakten, Daten und Zahlen beruht, sondern als das Vorhandensein von Konzepten zu einem politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen oder rechtlichen Gegenstand (ebd.). Die Aufgabe politischer Bildung besteht demnach nicht so sehr darin, Kenntnisse zu konkreten Einzelaspekten des „politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens“ (GPJE, 2004, S. 14) zu vermitteln, sondern zielt darauf ab, dass Schüler*innen den Sinnzusammenhang, den „Sinngehalt“ (ebd.), erschließen können.

Diese vorrangig für die schulische politische Bildung formulierten Erkenntnisse lassen sich auch auf die außerschulische politische Bildung übertragen – und damit auch auf die Jugendlichen als Zielstichprobe des deutsch-israelischen Jugendaustauschs. In Bezug auf den Erwerb von konzeptuellen Vorstellungen zum Nahostkonflikt im Jugendaustausch wird in der vorliegenden Arbeit einerseits der Wissenserwerb in Bezug auf die grundlegenden Fachbegriffe (bspw. Nahostkonflikt, Westbank, Zionismus) und andererseits der erschlossene Sinnzusammenhang der relevantesten historischen und aktuell-politischen Kontroversen durch die Jugendlichen betrachtet. Für das vorliegende Beispiel entspricht das etwa der Kenntnis zentraler historischer Hintergründe der Migration von Jüdinnen*Juden nach Palästina nach 1945 und aktueller zentraler Problempunkte im Nahostkonflikt wie der ständigen Bedrohung der Konfliktparteien im Nahostkonflikt: der Israelis durch die Palästinenser*innen und vice versa.

2.2.1.2 Zugänge zum Erschließen von Vorwissen und Konzepten bei Jugendlichen über Conceptual-Change-Ansätze

Zur Erschließung der kognitiven Verarbeitungsprozesse von Schüler*innen und Jugendlichen hinsichtlich politischer Informationen sowie zu kognitionspsychologischen Konzeptionen von Schüler*innen und Jugendlichen zu politischen Gegenständen existieren in der Forschung bereits zahlreiche domänenspezifische Ansätze und Forschungsvorhaben. Bezüglich der theoretischen Zugänge und der Operationalisierung unterschiedlicher Konzepte gibt es dabei erkennbare Trennlinien: Während in der qualitativen politikdidaktischen Forschung die Vorstellungsforschung im Vordergrund steht, geht die quantitative Forschung stärker in den Bereich der (Vor-)Wissensforschung sowie in den Bereich der Überzeugungen und Einstellungen (Hahn-Laudenberg, 2017; Oberle, 2012; Weißeno et al., 2015). Quantitative Studien zu Wissen sind zudem vorrangig als Wirkungsstudien gestaltet und gehen von einem objektivierbaren Verständnis von Wissen aus (Vajen & Firsova, 2022, S. 47).

Ein Ansatz, der sich mit der Änderung von vorhandenen Konzepten durch Lernprozesse befasst, ist der Conceptual-ChangeFootnote 11-Ansatz, der sich an Piagets Annahme orientiert, dass Lernen ein aktives Umstrukturieren und Verändern bereits vorhandener Konzepte und Annahmen ist (Piaget, 1963). Neue Konzepte (Concepts (siehe Piaget, 1963, S. 7)) im Lernprozess schließen stets an vorhandene Vorstellungen oder Präkonzepte an. Piaget verdeutlicht dies mit seinem Modell zu Assimilation, Akkommodation und Äquilibrium. Wissen ist das übergreifende Konzept aller dem Individuum innewohnender Schemata (der Organisationsstrukturen von Wissen). Die Anwendung vorhandener bzw. erworbener Schemata, bei der neue Informationen lediglich vorhandenen Schemata untergeordnet werden, bezeichnet Piaget als Assimilation. Genügen die vorhandenen Assimilationsschemata nicht mehr, da das Individuum mit einer Information konfrontiert ist, die nicht zu den vorhandenen Schemata passt, so treten Akkommodationsprozesse auf, im Zuge derer eine Umänderung und Umstrukturierung vorhandener Schemata geschieht, die an die neue Information angepasst werden. Unter dem Begriff des Äquilibriums versteht Piaget ein Gleichgewicht der beiden Assimilations- und Akkomodationsprozesse, die beim Individuum bei der Informationsverarbeitung auftreten (Hascher & Brandenberger, 2018, S. 290; Schröder, 2020, S. 117; von Scheve, 2011, S. 210) („intellectual adaptation“) (Piaget, 1963, S. 5 ff.):

„In short, intellectual adaptation, like every other kind, consists of putting an assimilatory mechanism and a complementary accommodation into progressive equilibrium. The mind can only be adapted to a reality if perfect accommodation exists, that is to say, if nothing, in that reality, intervenes to modify the subject’s schemata“ (Piaget, 1963, S. 7).

Dirk Lange stützt seine Überlegungen zur Politikbewusstseinsbildung auf die Überlegungen Piagets zum Assimilations- und Akkommodationsprozess und weist darauf hin, dass diese Konstruktivität von Schemata das „[Politik-]Bewusstsein lerntheoretisch relevant“ (D. Lange, 2007, S. 211) macht. Ferner führt Lange aus, dass politisches Lernen als ein lebenslanger Prozess der Erweiterung und Erneuerung des Politikbewusstseins verstanden werden kann (ebd.). Die Erweiterungs- und Erneuerungsprozesse werden dabei von der Interaktion mit der Umwelt initiiert, wobei das Politikbewusstsein ein Äquilibrium zwischen möglichen Diskrepanzen im Umwelterleben und den vorhandenen mentalen Strukturen anstrebt. Nach Lange ist das

„subjektive Gleichgewichtserleben zwischen Politikbewusstsein und sozialer Umwelt eine Momentaufnahme. […] Denn Erfahrungen und Probleme lösen fortwährend Divergenzen aus und motivieren so zum Lernen“ (ebd.).

Das politische Lernen ist dabei als eine aktive Verarbeitung von Erfahrungen im Kontext des Politikbewusstseins zu verstehen und geht damit klar über die Kumulation von Wissen zu politischen Gegenständen hinaus (ebd.). Damit treten die (Prä-)Konzepte immer wieder in den Vordergrund der politischen Informationsverarbeitung, da ihnen bei der Wahrnehmung, der Verarbeitung sowie dem Verstehen und Problemlösen im Rahmen der Lernprozesse eine bedeutende Rolle zukommt.

Piagets Ansatz und die Auseinandersetzung mit den (Prä-)Konzepten eines*einer Lerner*in finden sich im Conceptual-Change-Ansatz wieder. Eine theoretische Rahmung, die sich stark an Piagets Vorarbeiten orientiert und seine Überlegungen zu Assimilations- und Akkommodationsprozessen von Lernenden einschließt, liegt mit der Arbeit von Posner, Strike, Hewson und Gertzog (1982) vor. Dort wird als Bedingung formuliert, dass für die Transformation zu einem neuen Konzept eine Unzufriedenheit (dissatisfaction) mit dem bereits vorhandenen Konzept gegeben ist. Das neue oder überarbeitete Konzept, das vom ursprünglichen abweicht, sollte für das Individuum verständlich und intuitiv plausibel sein sowie Potential für Anknüpfungspunkte neuer Konzepte bieten (Posner et al., 1982, S. 214). Die Autor*innen resümieren, dass für die Initiierung eines Conceptual Change ein cognitive conflict vorliegen muss, der Akkommodationsprozesse auslöst. Sie betonen, dass dabei der cognitive conflict den Weg zur Unzufriedenheit mit dem eigenen Konzept und damit zum Auslösen von Akkommodationsprozessen bereitet. Je häufiger Lernende mit dem cognitive conflict konfrontiert sind, desto unzufriedener werden sie mit dem aktuellen Konzept und erhöhen die Bereitschaft, neue Konzepte zu akkommodieren (ebd., S. 224).

Michelene T. H. Chi definiert Conceptual Change als Zuweisung von Konzepten zu ontologischen Kategorien (ontological categories) und als Überwindung von Kategorisierungsfehlern durch Conceptual Change (Chi, 2008, S. 63). Dabei geht sie davon aus, dass Lernende Konzepte immer in die Kategorien der Sachbeschreibungen (matter), Prozesse (processes) und mentalen Zustände (mental states) aufnehmen (Chi, 2008, S. 64; Chi et al., 1994, S. 29): „Categorizing is the process of identifying or assigning a concept to a category to which it belongs“ (Chi, 2008, S. 62). Zusätzlich erfolgt eine Ausdifferenzierung dieser übergeordneten Kategorien in weitere Subkategorien auf verschiedenen Hierarchiestufen (Stark, 2003, S. 135). Damit unterteilt Chi die Lernprozesse in unterschiedliche Subkategorien des Lernens. Conceptual Change liegt damit dann vor, wenn ein Concept, das zunächst einer ontologischen Kategorie zugeordnet war, in eine andere ontologische Kategorie verschoben wird (Chi, 2008, S. 62). Dieser Ansatz vermittelt den Eindruck, es handle sich bei einem Lernprozess stets um einen starren und mechanischen ‚Zuordnungsprozess‘ von neuen Erfahrungen in bereits vorhandene Kategorien. Gropengießer und Marohn (2018) kritisieren diese Klassifizierung des Conceptual Change als nicht hinreichend und heben dabei zwei zentrale Punkte heraus. Zum einen scheint die Zuordnung zu ontologischen Kategorie ohne starken Widerstand durch die lernende Person abzulaufen, d. h., der cognitive conflict scheint hier keine Rolle zu spielen. Außerdem schließt diese Klassifizierung den Gedanken aus, dass Lernende unterbewusst neue Konzepte zuordnen, sondern geht vielmehr von der Bewusstheit der „Existenz dieser Kategorie sowie der eigenen Zuordnung“ (Gropengießer & Marohn, 2018, S. 58) aus. Stella Vosniadou und Irini Skopeliti sehen die Schwäche im Ansatz von Chi darin, dass die Beschreibung dieser starren Zuordnungsprozesse in erster Linie auf die Problematik unzureichender Konzepte aus Sicht der Lernenden abstellt, aber keinen Erklärungsansatz für zugrunde liegende Konzeptualisierungsprozesse liefert: „In other words, Chi (…) offers a description of the problem and not an explanation of the problem“ (Vosniadou & Skopeliti, 2014, S. 1431).

Den Gedanken, dass Konzepte in theorieähnliche Strukturen eingebettet werden und durch Conceptual-Change-Prozesse über die Neuinterpretation von Alltagswissen und die Integration von neuen Wissensbeständen weiterentwickelt werden, greift die framework theory auf (Vosniadou, 1994, S. 46). Stella Vosniadou beforscht die Konzepte von Kindern und Jugendlichen zu Gegenständen aus dem Bereich der Astronomie und geht davon aus, dass Konzepte in umfassenden theoretischen Strukturen eingebettet werden, die die constraints (Bedingungen) für die Konzeptbildung beinhalten (Vosniadou, 1994; Vosniadou & Brewer, 1992). Sie unterscheidet zwischen der framework theory (domänenspezifische Rahmentheorie) und den specific theories (spezifische Theorien) (Stark, 2003). Abbildung 2.1 zeigt den Prozess von Konzeptualisierungen nach Vosniadous framework theory. Die framework theory setzt sich dabei aus „bestimmten fundamentalen“ (Vosniadou, 1994, S. 46, eigene Übersetzung) ontologischen Überzeugungen (Überzeugungen bezüglich der Struktur und der Eigenschaften eines Gegenstands) sowie epistemologischen Überzeugungen (Überzeugungen bezüglich der Natur von Wissen und des Wissenserwerbs) zusammen (ebd.). Vosniadou geht davon aus, dass die ontologischen und epistemologischen Überzeugungen ein relativ kohärentes Erklärungssystem darstellen, auf Alltagserfahrungen beruhen und sich in der frühen Kindheit entwickeln (Stark, 2003, S. 134; Vosniadou, 1994, S. 46 f.; Vosniadou & Skopeliti, 2014, S. 1428). Die von einem Individuum gemachten Beobachtungen werden dabei durch kulturell vermittelte Informationen interpretiert (Stark, 2003, S. 134; Vosniadou et al., 2008, S. 8). Eine specific theory beschreibt wiederum die interne, inhaltsspezifische Struktur, in der Konzepte zu einem spezifischen Gegenstand verortet werden (siehe Abb. 2.1). Sie werden durch Beobachtung und durch Informationen aus der framework theory generiert (ebd. S. 47 f.). Die Überzeugungen, die durch die specific theory konstruiert werden, können dabei als Prozesse auf der zweiten Ebene beschrieben werden, die aus der Struktur des erworbenen Wissens in der framework theory hervorgehen (ebd. S. 48). In den specific theories ist ebenfalls ein Set an Beobachtungen, kulturell vermittelten Informationen, Beliefs und mentalen Modellen der Lernenden verortet, die jedoch nicht dieselbe Stabilität aufweisen wie die ontologischen und epistemologischen Überzeugungen in der framework theory.

Abb. 2.1
figure 1

(Eigene Darstellung nach Vosniadou et al., 2008, S. 8)

Konzeptuelle Strukturen.

In Anlehnung an Piagets Theorie zu Assimilation und Äquilibrium ist auch nach Vasniadou, Vamvakoussi und Skopliti die kognitive Entwicklung eines Individuums durch Conceptual Change charakterisiert (Vosniadou et al., 2008, S. 17). Die Konzeptentwicklung erfolgt nach Vosniadou entweder über die Anreicherung (enrichment) (Vosniadou, 1994, S. 46; Vosniadou et al., 2008, S. 18; Übersetzung nach: Gropengießer & Marohn, 2018, S. 57) der konzeptuellen Strukturen durch das Hinzufügen neuer Information oder über die (graduelle) Revision der eigenen Überzeugungen und Vorannahmen oder der relationalen Strukturen einer Theorie (ebd. S. 46 f.).

Pintrich, Marx und Boyle gehen im Hinblick auf Revisionsprozesse von Lernenden mit wenig Vorwissen zu einem Gegenstand davon aus, dass neue Inhalte schneller gelernt werden, da geringere Barrieren vorhanden sind als bei Lernenden, die bereits über ein ausgebautes Wissenssystem verfügen (Pintrich et al., 1993, S. 171). Gleichzeitig weisen sie auf die paradoxe Rolle von Vorwissen innerhalb des Conceptual Change hin, da positive Effekte von Vorwissen für das Lernen neuer Inhalte mehrfach repliziert wurden (ebd.). Sie sind der Auffassung, dass Vorwissen beim Lernen eine essentielle Rolle spielt, da es zur Beurteilung der Gültigkeit von neu gelernten Inhalten eine relevante Grundlage darstellen kann. Allerdings stellen sie die Bedingung auf, dass das Vorwissen so organisiert sein muss, dass die Konzepte, die mit dem neuen Konzept verbunden werden, nicht in direkter Konkurrenz zu bereits vorhandenen Konzepten stehen und nicht Teil eines stark vertretenen Glaubenssatzes sein dürfen (Pintrich et al., 1993, S. 191). Diese Ergebnisse sprechen dafür, dass insbesondere Interventionen bei Kindern und Jugendlichen als Zielgruppe erfolgversprechend sind, da die meisten Präkonzepte bei dieser Gruppe noch unverfestigte und zum großen Teil lose Verbindungen aufweisen, was Revisions- und Anreicherungsprozesse erleichtert (Vosniadou, 1994, S. 61). Dies sollte dabei insbesondere im Kontext von Alltagserfahrungen von Kindern und Jugendlichen greifen (Vosniadou, 2002, S. 62).

Relevant für das vorliegende Vorhaben ist die von Posner, Strike, Hewson und Gertzog aufgestellte Bedingung für AkkomodationsprozesseFootnote 12, dass Revisions- und Anreicherungsprozesse nur dann ablaufen können, wenn die präsentierten Konzepte für die Lernenden verständlich und plausibel sind (Posner et al., 1982, S. 214; siehe auch bei: Pintrich et al., 1993, S. 172).

Vasniadou, Vamvakoussi und Skopleiti (Vosniadou et al., 2008, S. 18) gehen davon aus, dass ein Conceptual Change sowohl durch Bottom-up-Mechanismen – also implizite und additive Mechanismen – als auch durch Top-down-Mechanismen – absichtsvolle und intentionale Lernmechanismen – geschehen kann. Bottom-up-Mechanismen sind dabei stark an den Theorien von Piaget hinsichtlich der Assimilations- und Akkomodationsprozesse orientiert, wogegen Top-down-Mechanismen eher auf den bewussten Gebrauch von Analogien und Modellen zurückgehen, die für domänenübergreifendes Lernen essentiell sind (ebd.).

Vosniadiou und Skopeliti verorten die Rahmentheorie im Bereich des Konstruktivismus, denn über eine prozesshafte Revision von Vorwissen werde ein Conceptual Change hervorgerufen:

„The framework theory approach is a constructivist approach which claims that constructive types of mechanisms can bring about the gradual revision of prior knowledge leading towards conceptual change“ (Vosniadou & Skopeliti, 2014, S. 1439).

Die Revision kann dabei sowohl in den allgemeinen framework theories als auch in den specific theories vorgenommen werden. Die Modifikation der specific theories ist nach Vosniadou und Brewer (Vosniadou & Brewer, 1992) einfacher als die Revision der allgemeinen framework theory, also der ontologischen und epistemologischen Überzeugungen (Vosniadou & Brewer, 1992; Vosniadou & Skopeliti, 2014). Conceptual Change in der framework theory wird als besonders schwierig erachtet, da ontologische und epistemologische Überzeugungen eines Individuums sich als eine Wissensbasis im bisherigen Leben bewährt haben und eine Grundlage für das Denken und Handeln des Individuums bilden. Ihre Revision ist demnach mit „dramatische[n] Konsequenzen für eine Vielzahl anderer, darauf aufbauender Annahmen [verbunden]“ (Stark, 2003, S. 134). Daher wird auch die starke Kontinuität dieser Rahmentheorien betont (Stark, 2003, S. 134; Vosniadou & Skopeliti, 2014, S. 1439).

Nicht trivial ist an dieser Stelle ferner die Frage, was genau als ein Konzept verstanden wird. In der Conceptual-Change-Forschung wird das concept als eine Verständnisstruktur und nicht als eine neurologische Prädisposition verstanden: „conceptual change is primarily and substantially about minds, not brains“ (Taber, 2011, S. 569). Beim Untersuchungsgegenstand des Conceptual Change werden also nicht neuronale Strukturen und Synapsen, sondern kognitive Theorien, mentale Modelle oder alternative Vorstellungen betrachtet (ebd.).

2.2.1.3 Exkurs: Fehl- und Falschvorstellungen

Im Zuge der auf Basis der theoretischen Vorüberlegungen zum Conceptual Change durchgeführten empirischen ForschungFootnote 13 wurden diejenigen concepts, die von den akzeptierten wissenschaftlichen Erklärungen abweichen, als Fehl- oder Falschvorstellungen (misconceptions) beschrieben (siehe u. a. Chi et al., 1994, S. 32 f.; Gropengießer & Marohn, 2018, S. 52; Posner et al., 1982, S. 211; Vosniadou & Brewer, 1992, S. 536). Hierbei nimmt z. B. Chi einen kritischen Blick gegenüber den Schüler*innen ein und definiert Conceptual Change auch als einen Prozess, bei dem Fehlvorstellungen durch korrekte Vorstellungen ersetzt werden, indem die Fehlvorstellungen eine Eliminierung erfahren (Chi, 2008, S. 66 f., 2013, S. 51). Dieser negativ konnotierte Blick auf die Konzepte von Schüler*innen ist wiederholt kritisiert worden, da diese Präkonzepte eine bedeutende Rolle in der erfahrungsbasierten Erklärungsstruktur von Individuen einnehmen und in alltäglichen und lebensweltlichen Kontexten angemessen sein können: „Was für den Konzepterwerb und die Anwendung von Konzepten in der Wissenschaft von Schaden ist, muss für die Alltagsbewältigung noch lange nicht nachteilig sein“ (Stark, 2003, S. 136). Gropengießer und Maron verdeutlichen diesen Alltagsbezug anhand der Aussage „Die Sonne geht auf“ (siehe Gropengießer & Marohn, 2018, S. 52), die im Alltag durchaus angemessener erscheint als die in der Wissenschaft akkurate Aussage „Die Erde dreht sich aus ihrem Eigenschatten heraus“ (ebd.).

Eine analoge Debatten ist in Kontroversen zwischen unterschiedlichen Fachdidaktiker*innen wiederzufinden. In der Veröffentlichung der Basis- und Fachkonzepte durch die Fachdidaktiker*innen Weißeno, Detjen, Juchler, Massing und Richter (Weißeno et al., 2010) werden Fehlkonzepte als Abweichungen von Fachkonzepten begriffen und daher die Elimination des Fehlkonzepts und der Konzeptwechsel als die passenden Interventionsstrategien angesehen (Schnotz, 2001; zitiert nach: Weißeno et al., 2010, S. 50). Dieser eher defizitorientierte Blick auf Fehlkonzepte rief eine Gegenreaktion durch die Autorengruppe Fachdidaktik hervor, die in einer Streitschrift den starren kognitiven Fokus kritisiert (Autorengruppe Fachdidaktik, 2011). Ein Alternativvorschlag zur Definition und Operationalisierung von Konzepten, die nicht der fachlichen Richtigkeit entsprechen, bleibt jedoch aus. Hahn-Laudenberg merkt zu dieser Debatte an, dass sich die Didaktik dennoch mit den strukturellen Verständnisproblemen von Lernenden aus theoretischer und empirischer Perspektive beschäftigen muss, da ansonsten die Möglichkeit verwirkt wird, eine auf diese Präkonzepte bezogene, kompetenzorientierte Hilfestellung zu entwickeln (Hahn-Laudenberg, 2017, S. 68).

Vosniadou und Skopeliti (Vosniadou & Skopeliti, 2014) formulieren einen Vorschlag für ein breiteres Verständnis von Fehlkonzepten, der sich auf die Auseinandersetzung mit Fehlkonzepten in der Politikdidaktik übertragen lässt. Sie argumentieren, dass fehlerhafte Präkonzepte zunächst gerechtfertigt sind, wenn man bedenkt, dass sie auf eigenen Erfahrungen beruhen und durch diese kontinuierlich bestätigt werden. In Teilen werden Fehlkonzepte auch von einer Laienkultur unterstützt und verfestigt. Dies zeigt sich insbesondere im Beispiel zur Sonnenrotation von Gropengießer und Maron (siehe oben). Ontologische Verschiebungen, wie sie beim Erlernen neuer komplexer Sachverhalte erforderlich sind, stellen eine Schwierigkeit dar, weil diese frühen ontologischen Kategorien keine isolierten „Wissensbruchstücke“ (knowledge pieces, Vosniadou & Skopeliti, 2014, S. 1432) sind, sondern aus großen und systematischen Netzwerken von Konzepten bestehen. Mit anderen Worten bilden auch die Fehlkonzepte eine framework theory. Das ist der Grund, warum Conceptual Change einerseits erforderlich ist, sich aber andererseits als komplex und schwierig erweist (ebd.).

2.2.1.4 Einflussfaktoren und Conceptual-Change-Forschung

Trotz der primär kognitiven Veranlagung des Conceptual-Change-Ansatzes wurde in den letzten Jahrzehnten die Sichtweise, dass Conceptual Change nur kognitiven Einflussfaktoren unterliegt, stark kritisiert. Pintrich et al. werten die Cognition-only-Perspektive als nicht ausreichend, um Lernprozesse von Lernenden zu beschreiben: „learning as cold and isolated cognition (…) may not adequately describe learning in the classroom context“ (Pintrich et al., 1993, S. 167). Dabei verweisen sie auf affektive Einflussfaktoren im Conceptual-Change-Prozess, insbesondere auf den Einfluss des persönlichen Interesses, der Selbstwirksamkeitserwartung und der intrinsischen Motivation (ebd., S. 175; S. 182), die durch Studien zu Lernprozessen bereits als relevante Einflussfaktoren etabliert sind (siehe u. a. Rheinberg et al., 2001; Schumacher, 2006; Winther, 2006a, 2006b). Basierend auf den Erkenntnissen der Conceptual-Change-Theorie ist eine kognitive Dissonanz (cognitive conflict, siehe Abschnitt 2.2.1.2) ein wesentlicher Faktor für den Anstoß für Conceptual Change. Ein cognitive conflict kann durch disequilibria, also kognitive Ungleichgewichte, hervorgerufen werden, die, angelehnt an Piagets Überlegungen, durch das Scheitern der Anwendung von bestehenden Schemata auf neue Situationen hervorgerufen werden (ebd.; Abschnitt 2.2.1.2). Die Forscher*innengruppe Lin et. al (Lin et al., 2016) hat in ihrer Analyse von 116 Studien der Conceptual-Change-Forschung in den Jahren 1982 bis 2011 Faktoren abgeleitet, die zentrale Strategien für die Initiierung von Conceptual-Change-Prozessen darstellen (Gropengießer & Marohn, 2018, S. 60). Die drei wesentlichen Faktoren, die Conceptual Change begünstigen, sind die Lehrer*innen-Schüler*innen-Interaktion, der conceptual conflict und die Methode des kooperativen Lernens (Lin et al., 2016, S. 2634). Diese Ergebnisse schließen an die Überlegungen von Chan (Chan, 2001) an, die den Ansatz des kognitiven Konflikts um die soziokognitive Konfliktperspektive erweiterte, wobei sie den Einfluss von Peerkonflikten (in ihrer Studie gegensätzliche Standpunkte von Mitschüler*innen) einbezieht. In ihrer Studie zieht sie sogar das Fazit, dass es nicht ausreichend war, externe Konflikte zu präsentieren, sondern dass die Schüler*innen selbst sinnvolle Konflikte beim kollaborativen Lernen mit anderen erleben müssen (Chan, 2001, S. 467). Ergebnisse von Studien, in denen neben Faktoren des Classroom-Managements auch die Anschlussfähigkeit von Lernprozessen an das Alltagserleben von Schüler*innen berücksichtigt wurde, legen einen positiven Effekt nahe, wenn Lernprozesse möglichst alltagsnah initiiert werden. Dies geschieht z. B. in erlebnispädagogischen Settings oder über experimentelles Lernen (Schnittka & Bell, 2011; Vosniadou et al., 2001), was auch das Konzept des deutsch-israelischen Jugendaustauschs erfolgversprechend erscheinen lässt.

2.2.2 Die Perspektivübernahme

Der 2016 von Mirko Niehoff herausgegebene Sammelband „Der Nahostkonflikt Kontrovers – Perspektiven für die politische Bildung“ verdeutlicht anhand von Beiträgen unterschiedlicher Forscher*innen, dass der Nahostkonflikt wie kaum ein anderer Konflikt nahezu idealtypisch von zwei Narrativen geprägt ist (Niehoff, 2016b). Die vordergründig vernehmbaren Narrative sind dabei häufig von Sympathie entweder mit den Palästinenser*innen oder den Israelis geprägt und weisen eine Perspektivendualität auf. Diese Perspektiven bergen die Gefahr, bei der Frage nach den Lösungsmöglichkeiten des Nahostkonflikts zu diametral unterschiedlichen Schlussfolgerungen zu führen (ebd.). Beispielhaft lässt sich dies an der Frage ‚Wem gehört das Land?‘ verdeutlichen. Diese Frage wird, wenn man den medialen Diskurs betrachtet, von vielen Diskursteilnehmer*innen je nach Sichtweise entweder durch die Reklamation des Herrschaftsanspruchs für die Israelis oder für die Palästinenser*innen eindeutig beantwortet (Richter, 2016, S. 43). Die diametrale Beurteilung erschwert eine rationale Auseinandersetzung mit dem Konflikt im Sinne der Mündigkeit, da sich die Jugendlichen beider Perspektiven bewusst sein müssen, um diese reflektiert bewerten zu können (Niehoff, 2016b, S. 11). Im Folgenden werden die theoretischen Auseinandersetzungen zur Perspektivübernahme und zu deren Förderung präsentiert, um auf dieser Grundlage Erkenntnisse im Hinblick auf die Fragestellung generieren zu können, welche Potentiale der deutsch-israelische Jugendaustausch zur Förderung der Kompetenz aufweist.

2.2.2.1 Die Perspektivübernahme aus sozialpsychologischer Sicht

Die Forschung zum Gegenstand der Perspektivübernahme haben maßgeblich die Arbeiten von George Herbert Mead, Jean Piaget, John H. Flavell und Lawrence Kohlberg beeinflusst.Footnote 14 Auch wenn sie sich vorrangig auf entwicklungspsychologischer Ebene mit der Wahrnehmung von Kindern beschäftigen, sind ihre Überlegungen auch in die Definitionsansätze der Perspektivübernahme von (jungen) Erwachsenen in der Sozialpsychologie eingegangen. Im Folgenden werden zunächst die einschlägigen klassischen Positionen von Mead, Piaget und Flavell skizziert, bevor das der Arbeit zugrunde liegende Verständnis der Perspektivübernahme erläutert wird.

Mead liefert mit seiner Auffassung zu signifikanten Symbolen eine Definition für die absichtsvolle Kommunikation von Menschen, die die gegenseitige Übernahme der RolleFootnote 15 der anderen Person einschließt (Flavell et al., 1975, S. 52). Rufen in der kommunikativen Interaktion die Gesten eines Individuums bei anderen Individuen die gleichen Reaktionen hervor und werden sie als Ausdruck einer gemeinsamen Idee interpretiert, spricht Mead von einem „signifikanten Symbol“ (Mead, 1934, S. 85, 1947, S. 186). Für die signifikante Symbolik muss also ein Stimulus (z. B. das Gesagte oder eine symbolische Geste) beim Rezipienten die gleiche Vorstellung über dessen Bedeutung hervorrufen wie beim Erzeuger und somit die gleiche Reaktion auslösen (Mead, 1934, S. 188 f.). Mead sieht im Vorgang der Bildung der signifikanten Symbolik das Fundament der menschlichen Verhaltensweisen (die den Menschen vom Tier, das instinktiven Reaktionen nachgibt, unterscheidet) und erachtet die Rollenübernahme als charakteristisch für die Kommunikation von Menschen; so gebe es ohne Rollenübernahme kein Selbst:

„Nur durch Gesten qua signifikanter Symbole wird Geist oder Intelligenz möglich, denn nur durch Gesten, die signifikante Symbole sind, kann Denken stattfinden“(Abels, 2020, S. 73; Mead, 1947, S. 186).Footnote 16

In Meads Betrachtungen bleibt die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Perspektivübernahme und der Wahrnehmung anderer Personen offen (Kenngott, 2012, S. 77).

Die Gegenseitigkeitsbeziehung von Menschen tritt in den Betrachtungen von Piaget in den Vordergrund (Piaget, 1995; Piaget & Inhelder, 1971). Dabei ist die Fähigkeit, sich in die Sichtweise des Gegenübers zu versetzen, charakteristisch für Piagets Definition der Gegenseitigkeit:

„Die Perspektive setzt die Herstellung einer Beziehung zwischen dem Gegenstand und dem Blickwinkel der Person, die sich dieses Blickwinkels bewußt [sic!] geworden ist, voraus, und hier wie anderswo besteht das Erkennen des eigenen Blickwinkels im Differenzieren desselben von den übrigen und folglich in seiner Koordinierung mit ihnen.“ (Piaget & Inhelder, 1971, S. 250)

John H. Flavell beschäftigte sich anknüpfend an die geschilderten ÜberlegungenFootnote 17 mit der Wahrnehmung der anderen Person. Bei seinen experimentellen Versuchsreihen rekonstruierte er kognitive Denkstrukturen, wobei er immer neue Ebenen des Denkens über das Denken (des Gegenübers) nachkonzipierte (Flavell et al., 1975; Kenngott, 2012, S. 104). Flavells vierstufiges Modell sieht das höchste Anspruchsniveau von Interaktionen in einer Denkform, die der folgenden Logik folgt: „Ich denke, dass du (das Gegenüber) denkst, dass ich denke …“ (Kenngott, 2012, S. 104 f.). Dieser elaborierte Schritt in die Perspektivübernahme beinhaltet nach Flavell (Flavell et al., 1975, S. 94) mindestens eine rekursive Schleife und somit die Fähigkeit einer Dezentralisierung der Sichtweise von der eigenen Person. Nach Flavell ist diese Fähigkeit die Grundkompetenz für ein soziales Miteinander:

„D. h. der Erwerb gewisser Fähigkeiten der Rollenübernahme ermöglicht und fördert soziale Handlungen, die vor diesem Erwerb [der Rollenübernahme] nur schwer oder gar nicht ausgeführt werden konnten.“ (Flavell et al., 1975, S. 94)

Lawrence Kohlberg knüpft an die Gedanken von Piaget zur geistigen Entwicklung bei Kindern an und überträgt diese auf die moralische Entwicklung. Kohlberg definiert sechs Stufen der moralischen Entwicklung, die sich in drei Ebenen (präkonventionelle, konventionelle und postkonventionelle Ebene) gliedern und in Wechselwirkung mit der sozialen Perspektive stehen (Brown & Herrnstein, 1984, S. 374; Garz, 2006, S. 102 f.; Kohlberg & Coby, 1986, S. 142 ff.). Kohlberg betont die Konnektivität zwischen der Fähigkeit des moralischen Urteilens und der Fähigkeit zur Perspektivübernahme. Die Entwicklungsebenen sind auf der Ebene der präkonventionellen Ebene noch stark durch die Vorgaben einer Autorität geprägt und mit der Idee verbunden, dass das, was die Autorität sagt, richtig ist. Das Individuum ist in den ersten Stufen der präkonventionellen Phase nicht fähig, über eine egozentrische Perspektive hinauszuschauen, und folgt im Wesentlichen einem Gut-Böse-Narrativ. Bereits ab der zweiten Stufe beginnen Individuen, die Perspektiven anderer Personen mitzudenken:

“moral judgments at this level are based on role-taking, on taking the perspective of the other person with legitimate expectations in the situation, as these expectations form part of a moral order.” (Kohlberg, 1963, S. 26 f.)

Das Individuum kann bereits die Interessen einer anderen Person erkennen und abwägen, welche der Interessen möglicherweise mit den eigenen Interessen in Konflikt stehen (Kohlberg & Coby, 1986, S. 146). In der dritten und vierten Entwicklungsstufe (konventionelle Ebene) orientiert sich das Individuum stark an den Erwartungen des sozialen Systems, an Ordnung und Konformitäten sowie an institutionell vorgegebenen Regeln (ebd., S. 147). Die postkonventionelle Ebene (Stufen 5 und 6) integriert die gesellschaftlich reflektierende Ebene, die in der sechsten Stufe die Orientierung an universellen moralischen Prinzipien einschließt, in denen das Individuum moralische und legale Gesichtspunkte sowie ihre mögliche Konflikthaftigkeit erkennt. Gleichzeitig ist das Individuum auf dieser Ebene in der Lage, unterschiedliche Perspektiven aller im Szenario Beteiligten zu erkennen und ein eigenes Urteil auf Grundlage einer systemkonformen Lösung zu fällen (Kohlberg, 1963, S. 29).

Alle Stufen bauen aufeinander auf, was bedeutet, dass das Individuum zunächst die früheren Stadien durchlaufen haben muss, um auf die nächsthöhere Stufe zu gelangen. Kohlberg benennt als die Stufe mit dem höchsten Anspruch das Verfahren der „idealen Rollenübernahme“ (Kohlberg, 1973, S. 643, eigene Übersetzung), die sich in der Fähigkeit zu Denkprozessen mit folgenden Eigenschaften äußert:

  1. 1.

    Das gezielte Hineinversetzen in die Position aller an der Handlung beteiligten Personen (einschließlich der eigenen Position) und die Berücksichtigung aller Ansprüche, die die Personen stellen könnten (oder die das Selbst in seiner Position stellen könnte).

  2. 2.

    Sich vorzustellen, dass das Individuum nicht weiß, welche Person es in der Situation ist, und zu fragen, ob es diese Behauptung immer noch aufrechterhalten würde.

  3. 3.

    In Übereinstimmung mit diesen reversiblen Ansprüchen in der Situation zu handeln.Footnote 18 (Kohlberg, 1973, S. 643)

Demnach bestimmt die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, gleichzeitig die Tiefe des moralischen Urteils. Je differenzierter die Perspektivübernahme ausgeprägt ist, desto durchdachter fallen die moralischen Urteile und Handlungen aus (Kohlberg, 1963, S. 27). Die Perspektivübernahme ist demnach eng mit den Stadien der moralischen Entwicklung verbunden, wobei Kohlberg und Coby die Funktion der Perspektivübernahme allgemeiner definieren, da Perspektivübernahme noch keine unparteiliche Funktion erfüllt und damit das höchste Niveau der moralischen Urteilsbildung einschließt, sondern lediglich die multiperspektivische Beurteilung eines Problems beschreibt. Denn „[e]s ist leichter, auf einem bestimmten Niveau eine Welt zu betrachten, als auf demselben Niveau ein unparteiliches Urteil zu fällen“ (Kohlberg & Coby, 1986, S. 143).

Im Gegensatz zu Piaget macht Kohlberg für die Moralentwicklung keine Altersangaben, sondern verweist darauf, dass ein fortgeschrittenes logisches Denken nicht als Garantie für ein höheres moralisches Stadium gilt (Kohlberg & Coby, 1986, S. 142). Kohlberg und Coby bezeichnen das logische Denken als eine „notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Entwicklung der Moralität“ (Kohlberg & Coby, 1986, S. 146). Das höchste Niveau der Moralität werden demnach dennoch nur wenige Heranwachsende und Erwachsene erreichen (ebd.). So zeigen die empirischen Befunde Kohlbergs mit Kindern und Jugendlichen in einer Altersspanne von 7 bis 16 Jahren, dass eine Entwicklung des moralischen Urteils altersgebunden abläuft, jedoch auch in der ältesten Alterskohorte nur ein Bruchteil der Jugendlichen die höchste moralische Urteilsstufe erreicht (siehe Kohlberg, 1963, S. 15 f.; Kohlberg & Gilligan, 1971, S. 1070). Im Kindes- und Jugendalter scheinen dabei überwiegend die konventionellen Stufen 3 und 4 besonders ausgeprägt (ebd.). Ein ähnliches Bild entsteht, wenn die empirischen Forschungsergebnisse zur moralischen Entwicklung bei Erwachsenen betrachtet werden. So hat die Längsschnittstudie Kohlbergs im Jahr 1983 auch für ältere Alterskohorten (bis einschließlich des 36. Lebensjahrs) gezeigt, dass die meisten Erwachsenen Urteile auf der dritten und vierten Stufe des moralischen Urteils fällen. Darüber hinaus wird aus den Ergebnissen deutlich, dass Stufe 5 der postkonventionelle Ebene nur von einem geringen Anteil der Proband*innen erreicht wird und Stufe 6 statistisch ohne Bedeutung ist (Colby et al., 1983, S. 46).

Das heutige disziplinübergreifende Verständnis der Perspektivübernahme baut auf den Erkenntnissen von Piaget, Flavell und Kohlberg auf und wird als die Fähigkeit verstanden, die Sichtweisen anderer zu erkennen und sich in diese hineinzuversetzen (siehe u. a. Davis, 1996, S. 713; Decety & Cowell, 2015, S. 7; Galinsky et al., 2008, S. 378; Galinsky & Mussweiler, 2001, S. 659; Healey & Grossman, 2018, S. 1; Kavanagh et al., 2019, S. 1).

In der theoretischen Betrachtung der Perspektivübernahme wird darauf verwiesen, dass die Fähigkeit, Perspektiven zu übernehmen, ein aktiver Prozess ist, der dem Individuum sowohl kognitive Anstrengung abverlangt als auch eine Abkopplung von der individuellen, egozentrischen Sicht erfordert:

“The most advanced process, however, is what has been termed role taking or perspective taking: the attempts by one individual to understand another by imagining the other’s perspective, it is typically an effortful process, involving both the suppression of one’s own egocentric perspective on events and the active entertaining of someone else’s” (Davis, 1996, S. 17).

In der Psychologie gilt es als unstrittig, dass der Prozess, sich in die „Haut von jemand hineinzuversetzen“ (Decety & Cowell, 2015, S. 7, eigene Übersetzung), eine affektive und eine kognitive Komponente beinhaltet, wobei die beiden Ebenen nicht trennscharf voneinander abzugrenzen sind (Batson et al., 1997, S. 751 f.; Healey & Grossman, 2018, S. 2).

Im Hinblick auf die empirische Operationalisierung des Konstrukts zeigt sich, wie komplex die genaue Definition der Perspektivübernahme ist. So reichen die empirischen Operationalisierungsversuche von der Beschreibung der Perspektivübernahme als eindimensionaler kognitiver Prozess (Verstehen der Umstände oder Emotionen einer anderen Person) bis hin zu einem komplexeren und umfassenderen Konstrukt, das mehrstufige kognitive Prozesse beim Verstehen der Gefühle und des inneren Zustands einer anderen Person beinhaltet (Hall et al., 2021, S. 4).

Healey und Grossman (2018) sehen die Fähigkeit, auf Denkweisen oder BeliefsFootnote 19 von anderen zu schließen, als Teil der kognitiven Perspektivübernahme, wogegen die emotionale Perspektivübernahme das Mitfühlen der Emotionen anderer einschließe:

„Cognitive perspective-taking may be defined as the ability to infer the thoughts or beliefs of another agent, while affective perspective-taking may be defined as the ability to infer the emotions or feelings of another agent“ (Healey & Grossman, 2018, S. 2).

Diese Vernetzung von Empathie und kognitiver Ebene betonen auch Batson, Early und Salvarani (1997). In Anlehnung an die Versuchsreihe von Ezra Stotland (Stotland, 1969), der in der „Imagine-Self Study“ erfolgreich Empathie mit sogenannten perspektivischen Anweisungen gefördert hat (siehe dazu Stotland, 1969, S. 288 ff.), unterscheiden Batson et al. (1997) die Perspektivübernahme in zwei Ausprägungen: das Hineinversetzen in eine Situation aus der Perspektive einer anderen Person (imagine other) und das Nachfühlen, wie man sich selbst in der Position einer anderen Person fühlen würde (imagine self) (Batson, Early, et al., 1997, S. 751). In ihrem Experiment wiesen sie nach, dass beide Perspektiven stark mit Emotionen verknüpft sind, jedoch mit unterschiedlichen motivationalen Faktoren einhergehen: Während die imagine other-Perspektive positiv auf Empathie mit altruistischen motivationalen Faktoren gewirkt habe, habe die imagine self-Perspektive vorrangig egozentrierte Reaktionen ausgelöst.

In Übereinstimmung mit dieser Untersuchung fand die Forscher*innengruppe Mayers, Laurent und Hodges (Myers et al., 2014, S. 233) heraus, dass die Perspektivübernahme, unabhängig davon, ob die imagine self- oder imagine other-Perspektive dominiert, zu erhöhten Gefühlen der empathischen Anteilnahme führt und die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die Proband*innen einer Person in einer schwierigen Situation Hilfe anbieten.

Maßgeblich geprägt werde die Perspektivübernahme im Pubertätsalter, wobei nach Flavell das elaborierte Verständnis bei Kindern sogar ab einer Altersstufe von neun bis zehn Jahren einsetzt (Flavell et al., 1975, S. 105 f.). Die Längsschnitt-Metastudie von Hall, Millear, Summers und Isbel zur Perspektivübernahme in der Adoleszenz (Hall et al., 2021), die Studien aus den USA, Belgien, Spanien, Schweden und den Niederlanden vergleicht, impliziert, dass die Fähigkeit, Perspektiven anderer zu übernehmen, erst im Alter von 13 bis 18 Jahren stetig zunimmt und bei den meisten Jugendlichen erst mit 14 bis 15 Jahren gut ausgeprägt ist; dabei ist die Perspektivübernahme eine Fähigkeit, die bei Frauen stabil höher ausgeprägt ist als bei Männern (Hall et al., 2021, S. 5).

Zur Frage nach dem Einfluss der Perspektivübernahme auf kognitive und emotionale Prozesse gibt es eine Reihe sozialpsychologischer Untersuchungen. Im Folgenden wird nur auf diejenigen Prozesse Bezug genommen, die einen positiven Einfluss auf die Abnahme von Vorurteilen in Intergruppenbeziehungen haben, da dieser Aspekt ein Betrachtungsschwerpunkt der vorliegenden Arbeit ist.

Aus der Forschung zur Perspektivübernahme in einschlägigen Bereichen (vorrangig aus dem angloamerikanischen Forschungsraum) lassen sich Potentiale der Perspektivübernahme für den Abbau von Vorurteilen und von feindseligem Verhalten gegenüber Mitgliedern der Fremdgruppe ableiten. Eine Reihe von Studien zur Perspektivübernahme konnte nachweisen, dass das aktive Einnehmen anderer Positionen feindseliges Verhalten und die Bereitschaft zu physischer und verbaler Gewalt reduziert (siehe dazu Davis, 2004, S. 32 f.). Ebenfalls scheint die Fähigkeit zur Perspektivübernahme mit der Entkräftung stereotyper Wahrnehmungen einer Fremdgruppe und mit positiveren Bewertungen der Gruppe als Ganzes einherzugehen (Galinsky & Moskowitz, 2000; Shih et al., 2009; Todd et al., 2012; Vorauer et al., 2009). Den positiven Einfluss der Perspektivübernahme auf die Überzeugungen gegenüber anderen Gruppen leiten auch Hall et al. (2021) in ihrer Metastudie ab und betonen die Bedeutsamkeit der Fähigkeit zur Perspektivübernahme für eine differenzierte Sicht auf andere Gruppen.

Aberson und Haag weisen ebenfalls auf einen indirekten Einfluss der Perspektivübernahme auf Stereotypisierung und positive Einstellungen hin, die über die Reduktion der Intergruppenangst vermittelt werden (Aberson & Haag, 2007).

Eine Reihe weiterer Studien betont zudem den positiven Einfluss der Perspektivübernahme auf der Handlungsebene, da Personen, die fähig sind die Perspektive anderer nachzuvollziehen, bereitwilliger Hilfestellungen für hilfsbedürftige Mitglieder der Fremdgruppe leisten und Empathie und Sorge für diese empfinden (Batson et al., 2002; Batson et al., 1997; Mashuri et al., 2017). Ebenso würden sie in Problemsituationen gruppenorientierte, produktive Lösungen den unproduktiven Beschuldigungen von Individualpersonen vorziehen (Sessa, 1996). Andere Studien implizieren, dass die Perspektivübernahme eine signifikante Rolle bei der psychologischen Bindung zwischen dem Selbst und dem Anderen spielt. So scheint es, dass die Perspektivübernahme ein Prozess ist, der eine Brücke zwischen dem eigenen Selbst – der egozentrischen Sicht – und der kognitiven Repräsentation einer anderen Person – ihrer Perspektive – schlägt (Davis et al., 1996; Davis, 2004; Myers et al., 2014).

2.2.2.2 Zur Rolle der Perspektivübernahme in der politischen Bildung

Ähnlich zu Meads Aussage, domänenunspezifische Perspektivübernahme sei Voraussetzung für menschliche Interaktion (Mead, 1947, S. 186), definiert auch die Politikdidaktikerin Sybille Reinhardt (2018) die Perspektivübernahme als elementare Fähigkeit für gesellschaftliche und politische Interaktion. Sie attestiert der Fähigkeit zur Perspektivübernahme eine relevante Funktion bei der intersubjektiven Aushandlung politischer Entscheidungen. So sei die kognitive Repräsentanz der Standpunkte anderer Diskursteilnehmer*innen auf der Intersubjektebene elementar für das Aushandeln gemeinwohlorientierter politischer Entscheidungen (ebd., S. 22).

In der Debatte um domänenspezifische Kompetenzbereiche für die politische Bildung ist das Modell der GPJE eine nennenswerte Bezugsinstanz. Die GPJE (GPJE, 2004, S. 13) konzeptualisiert in ihrem Modell „Kompetenzbereiche der Politischen Bildung“ die politischen Urteilsbildung neben der politischen Handlungsfähigkeit und der methodischen Fähigkeit als einen der zentralen Kompetenzbereiche, die im Politikunterricht gefördert werden sollen (siehe Abb. 2.2). Während den beiden Kompetenzbereichen der Urteils- und Handlungsfähigkeit eine starke domänenspezifische Verortung zukommt, ist die methodische Fähigkeit nicht ausschließlich fachbezogen und kann daher als fächerübergreifende Schlüsselkompetenz erachtet werden (Detjen, 2010, S. 131 f.). Die GPJE betont, dass die drei Kompetenzbereiche in einem wechselseitigen Zusammenhang stehen und nicht „unvermittelt nebeneinander“ (GPJE, 2004, S. 13). Die genannten Kompetenzen hängen darüber hinaus wesentlich mit dem konzeptuellen Deutungswissen zusammen (siehe Abschnitt 2.2.1.1).

Abb. 2.2
figure 2

(Eigene Darstellung nach GPJE, 2004, S. 13)

GPJE-Kompetenzmodell.

Die Perspektivübernahme als eine Kompetenz der politischen Bildung steht insbesondere als Teilaspekt bei der Urteilsbildung im Vordergrund (Füchter, 2015, S. 4; GPJE, 2004, S. 14 f.; Kammertöns, 2011, S. 168; Reinhardt, 2004; Weißeno et al., 2013). In dieser Hinsicht verortet auch die GPJE die Fähigkeit zur Perspektivübernahme als eine bedeutende Komponente der Urteilsfähigkeit (siehe Abb. 2.2). Dabei ist die grundlegende Annahme, dass Schüler*innen bereits eigene politische Urteile in den Unterricht mitbringen, die jedoch undifferenzierter Natur sind (GPJE, 2004, S. 16). Der Unterricht habe demnach die Aufgabe, diese Urteile durch eine

„Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Perspektiven (z. B. von verschiedenen Akteuren und von Politik Betroffenen), durch die Konfrontation mit anderen Sichtweisen (…) zu erweitern“ (ebd.).

Auch wenn die Fähigkeit zur Perspektivübernahme im GPJE-Modell in einer eher untergeordneten Position erscheint, so findet sie in politikdidaktischen Auseinandersetzungen dennoch Berücksichtigung als zentrale Kompetenz für die Auseinandersetzung mit politischen und gesellschaftlichen Fragestellungen (Behrmann et al., 2004, S. 337 f.).

Aufbauend auf den Überlegungen des Politikdidaktikers Wolfgang Hilligen zum Nutzen von Diskussion und Meinungspluralität im Unterricht (Hilligen, 1995, S. 134) betont Ingo Juchler, dass kontroverse Fragestellungen und unterschiedliche Perspektiven im Bereich des Politischen ein Kernelement politischer Urteilsbildung sind (Juchler, 2005, S. 66):

„[Es] müssen in das politische Urteil neben dem kalkulierenden Eigeninteresse des Individuums auch die möglichen Interessen anderer sowie ein dem pluralistischen Gemeinwesen adäquater Wertgehalt einbezogen werden. Eine normative Bestimmung politischer Urteilskraft sollte deshalb das letztlich durch zweckrationales Denken gekennzeichnete Urteilen überwinden und dem Geltungsanspruch gerecht werden, wonach das politische Urteil eines Individuums von allen Mitgliedern des pluralistischen Gemeinwesens als grundsätzlich anerkennungswürdig erachtet und somit diesen angesonnen werden kann“ (Juchler, 2005, S. 66).

„Politisch denken“ (Heinrich, 2017, S. 265) würde demnach heißen, politische und gesellschaftliche Fragen multiperspektivisch reflektieren zu können.

Bei der Operationalisierung der Perspektivübernahme als Teil politischer Kompetenz zeigt sich ein starker Einfluss von Kohlbergs Stufenmodell zur moralischen Entwicklung, der in die Politikdidaktik hineinreicht. Die Autorengruppe Fachdidaktik (Sander et al., 2017, S. 186) verortet die Perspektivübernahme auf der Mesoebene der Entwicklung politischer Kompetenz, diese Ebene wird als

„das Einstiegsniveau in Denkweisen, die den Übergang vom egozentrischen Gruppen- zum vorinstitutionellen pluralistischen Gesellschaftsdenken markieren“ (Sander et al., 2017, S. 185).

betrachtet. In dieser Stufe erreichen die Lernenden die Fähigkeit, Interessenvielfalt und die gesellschaftliche Kontroversität anzuerkennen, was als eine Voraussetzung zur tiefergehenden Auseinandersetzung und zur Reflexion über mögliche Lösungswege eines kontroversen politischen Sachverhaltes gilt (ebd., 2017).

Auch Petrik (2010, S. 144) versteht die Perspektivübernahme als initiale Kompetenz, die Lernende dazu befähigt, aus der egozentrischen Sichtweise hinauszutreten und politisch denken und handeln zu können. Damit ist diese Kompetenz als Voraussetzung für das politische Lernen von fundamentaler Bedeutung (Partetzke, 2016, S. 207). Lernende sollen dabei dazu befähigt werden, sich selbst und die eigene, egozentrische Perspektive in den Hintergrund einer Betrachtung zu stellen, fremde Perspektiven in „problemhaltigen Situationen“ (Petrik, 2010, S. 145) zu erkennen und die gesellschaftlichen Positionen, aus denen unterschiedliche Perspektiven erwachsen, „wahrzunehmen, zu verstehen, auseinanderzuhalten, probeweise einzunehmen“ (ebd.: 145), und anschließend vom Einzelfall auf das große Ganze zu abstrahieren, also einen allgemeinen politischen Sachverhalt zu erschließen. So soll final ein eigenständiges politisches Urteil unter Abwägung unterschiedlicher Perspektiven formuliert werden. Es zeigt sich – analog zur Auseinandersetzung in der Sozialpsychologie (siehe Abschnitt 2.2.2.1) – auch in der politikdidaktischen Auseinandersetzung mit der Perspektivübernahme eine enge Verbindung zu Emotionen. Eine Definition, die die Perspektivübernahme ausschließlich als einen kognitiven Prozess begreift, wäre nicht hinreichend. Denn durch die bei der Perspektivübernahme stattfindenden Prozesse bleiben die involvierten Akteur*innen

„kognitiv und emotional nicht unbeteiligt und damit politisch passiv (…), sondern [durchleben] die Auswirkungen von Politik auf die Alltagswelt von Menschen gleichsam selbst (…), wodurch Politik auch für sie konkret erfahrbar werden soll“ (Partetzke, 2016, S. 208).

Die Politikdidaktiker Ackermann et al. verweisen darauf, dass das Ziel politischer Bildung jedoch nicht darin besteht, Schüler*innen normativ geprägte, politische Perspektiven zu vermitteln, sondern dass politische Bildung zur „Überprüfung und gegebenenfalls Revision der eigenen Urteilsgrundlagen bzw. der Urteilsgrundlagen anderer anleiten und befähigen muss“ (Ackermann et al., 2015, S. 68 f.). So wird hier die Qualität des politischen Bildungsprozesses nicht an der Qualität des Urteils gemessen, sondern vielmehr an der formalen Beurteilung eines Gegenstands sowie am erfolgreichen Fällen eines eigenen Urteils (ebd. S. 69). Übertragen auf politische Bildungsprozesse im deutsch-israelischen Jugendaustausch bedeutet dies, dass die Jugendlichen durch das Kennenlernen der unterschiedlich Perspektiven befähigt werden, ein Urteil bilden zu können – ungeachtet der politischen Ausrichtung des Urteils.

Reinhardt (2004) beschreibt sogar, dass in einer Gesellschaft Konflikte der Urteilsbildung zwischen unterschiedlichen Gesellschaftsmitgliedern unerlässlich sind und somit Meinungsunterschiede und damit auch das Entwickeln unterschiedlicher Perspektiven im kontroversen Meinungsspektrum – innerhalb eines demokratischen Rahmens – erwünscht sind. Es zeigt sich also, dass in der politikdidaktischen Debatte der Perspektivübernahme eine zentrale Rolle in Bezug auf Urteilsbildungsprozesse beigemessen wird. Mehr noch stellt sie eine Grundfähigkeit zur tiefgehenden Auseinandersetzung mit gesellschaftlich kontroversen politischen Sachverhalten dar (Reinhardt, 2004, S. 2; S. 4; Sander et al., 2017, S. 155).

Bei der Entwicklung der Perspektivübernahme wird die Bedeutung von Konflikten in Lernsettings betont. Gudrun Heinrich sieht insbesondere Situationen, die Lernende stimulieren, ihre bisherige Position zu hinterfragen, als förderlich für die Entwicklung der Perspektivübernahme an (Heinrich, 2017, S. 265). Potential zur Förderung der Perspektivübernahme wird in der Politikdidaktik konkret bei Lernsettings verortet, die Konfrontation und Irritationen bei den Lernenden auslösen (ebd.). Michael May benennt diese Lernanlässe für den politisch-sozialwissenschaftlichen Bereich als „Anforderungssituationen“ (May, 2011). Die Anforderungssituationen selbst fordern von den Lernenden Perspektiven zu hinterfragen, lösen Dissonanzen aus und regen die Reflexion der eigenen Einstellungs- und Handlungsmuster an (Heinrich, 2017, S. 265; May, 2011, S. 128). Entsprechend dieser Beschreibung ist eine Anforderungssituation auch für den deutsch-israelischen Jugendaustausch charakteristisch, denn hier kommen Jugendliche unterschiedlicher Nationen zusammen und werden unweigerlich mit den Perspektiven der jeweils anderen konfrontiert. Im folgenden Abschnitt soll daher auf das Potential des Austauschs für die Initiierung von Lernprozessen, die die Perspektivübernahme fördern, eingegangen werden; explizit geht es um die Potentiale der Transformationsprozesse.

2.2.2.3 Initiierung der Perspektivübernahme über Transformationsprozesse

Eine Lerntheorie, die im Kern auf der Annahme beruht, dass Erfahrungen, die neu, unerwartet oder anders als erwartet sind, Transformationsprozesse anstoßen und zu einer Änderung der Interpretation von Sachverhalten sowie einer Änderung von Handlungstendenzen führen, ist die Transformative Lerntheorie, die durch den amerikanischen Soziologen und Theoretiker der Erwachsenenbildung Jack Mezirow (Mezirow, 1997a, 1997b, 2000, 2003, 2006) begründet und geprägt wurde. Ausgangspunkt seiner Überlegungen war seine Untersuchungsreihe mit Frauen, die nach jahrelanger schulischer Pause einen Wiedereinstieg in Bildungsmaßnahmen wagten. Bei der wissenschaftlicher Begleitung identifizierte Mezirow eine tiefgreifende Veränderung der Teilnehmerinnen der Studie in ihrer individuellen Selbst- und Umweltwahrnehmung, welche er auf die neue Erfahrung zurückführte (Mezirow, 1978, S. 50 ff.).

Laut Mezirow nimmt das Individuum seine Umwelt gemäß den im Laufe der Sozialisation erworbenen Referenzrahmen (frame of reference) wahr. Diese Bedeutungsstrukturen werden nach Mezirow als Referenzrahmen genutzt, der dem Individuum zur Orientierung und zur Definition der eigenen Lebenswelt dient (Mezirow, 1997b, S. 5 f.). Mezirow beschreibt das transformative Lernen als einen Prozess, bei dem bestehende individuelle Referenzrahmen und damit zusammenhängende Denkstrukturen sowie Perspektiven transformiert und erweitert werden, um diese umfassender, differenzierter, offener, reflektierender und emotional veränderungsfähiger zu machen:

“Transformative learning is learning that transforms problematic frames of reference – sets of fixed assumptions and expectations (habits of mind, meaning perspectives, mindsets) – to make them more inclusive, discriminating, open, reflective, and emotionally able to change” (Mezirow, 2003, S. 58).

Das Ziel des transformativen Lernens sieht er demnach nicht in der bloßen Vermittlung und Weitergabe von Inhalten, Wissen oder Handlungsweisen, sondern in der Initiation von individuellen und personalen Veränderungsprozessen durch eine kritisch-reflexiveFootnote 20 Auseinandersetzung mit Gegenständen (Wiesner & Prieler, 2020, S. 3). Demnach handelt es sich bei der transformativen Lerntheorie um eine Perspektiventransformation, die über Erfahrungen angestoßen wird, die bereits Bekanntes und vorherige Annahmen übersteigen oder revidieren und sich nicht in den bisherigen frame of reference einordnen lassen (Mezirow, 1997a, S. 121, 2000, S. 19 ff., 2006, S. 28).

In Abbildung 2.3 ist der Ablauf der Perspektiventransformation dargestellt, deren Schritte im Folgenden beschrieben werden.

Dem Lernprozess übergeordnet sind die bereits oben beschriebenen Referenzrahmen (frame of reference). Ein Referenzrahmen umfasst laut Mezirow kognitive, konative und affektive Komponenten, durch die Menschen ihre Erfahrungen verstehen (Mezirow, 1997b, S. 5, 2000, S. 16, 2006, S. 26) und die damit die „Weltanschauung“ und Wahrnehmung eines Individuums bestimmen (Wiesner & Prieler, 2020, S. 6). Sie sind in erster Linie das Ergebnis kultureller Assimilation und der idiosynkratischen Einflüsse der primären Bezugspersonen (Mezirow, 1997b, S. 6). Für den Lernprozess sind sie von zentraler Bedeutung, da sie einen formenden und begrenzenden Einfluss auf Erwartungen, Wahrnehmungen, Kognition und Gefühle haben (ebd.). Laut Mezirow (1997, S. 5) legen sie den personalen Aktionsradius fest. Mezirow geht davon aus, dass das Individuum automatisch zu bestimmten Denk- oder Handlungsweisen tendiert, wenn der Aktionsradius einmal festgelegt ist (Mezirow, 1997b, S. 5).

Abb 2.3
figure 3

(Eigene Darstellung in Anlehnung an Mezirow, 1997a, 2000, 2003, 2006, Kitchenham, 2008, S. 119 und Wiesner & Prieler, 2020, S. 7)

Strukturen des transformativen Lernens.

Die Referenzrahmen sind aus zwei verhaltens- und handlungsleitenden Dimensionen zusammengesetzt: der BedeutungsperspektiveFootnote 21 (habit of mind) und einer Vielzahl untergeordneter Bedeutungsschemata (points of view) (Mezirow, 1997b, S. 5, 2000, S. 17 f., 2006, S. 26).

Als Bedeutungsperspektive beschreibt Mezirow generalisierende, abstrakte, Orientierung gebende und habituelle Gewohnheiten des Denkens, Fühlens und Handelns, die selektiv regeln, was und wie eine Person lernt und wie sie Erfahrungen interpretiert (Mezirow, 1997a, S. 36, 2006, S. 26).

„Die habits of mind sind als paradigmatische Orientierungen zu verstehen, welche für die gegenwärtige als auch vergangene Erfahrung bestimmte Verstehens-, Interpretations-, Deutungs-, Narrations- und Erklärungsmodi bereitstellen“ (Wiesner & Prieler, 2020, S. 6).

Bedeutungsperspektiven können kultureller, sozialer, politischer, psychologischer, religiöser und anderer Natur sein und tragen durch Überzeugungen, Einstellungen, Urteile und Gefühle zur Interpretation von Gegenständen bei (Mezirow, 2006, S. 26). Als ein Beispiel für Bedeutungsperspektive nennt Mezirow Ethnozentrismus, die Prädisposition eines Misstrauens gegenüber denen, die anders sind als man selbst oder die eigene Gruppe (ebd.). Die Bedeutungsschemata wiederum beschreibt Mezirow als einen Komplex spezifischer Gefühle, Überzeugungen, (Wert-)Urteile und Einstellungen, die ihren Ausdruck in einer Interpretation eines Sachverhalts (z. B. in rassistischen oder sexistischen Klischees) gegenüber spezifischen Individuen oder Gruppen finden (Mezirow, 1997a, S. 36, 2006, S. 26 f.). Seiner Annahme nach kann eine positive Erfahrung mit der Gruppe die ethnozentristischen Bedeutungsschemata im Hinblick auf die spezifische Gruppe verändern, muss aber nicht zwingend eine Veränderung im Hinblick auf die ethnozentristische Bedeutungsperspektive gegenüber anderen Gruppenmitgliedern herbeiführen (Mezirow, 2006, S. 27).

Bedeutungsperspektiven sind demnach beständiger als Bedeutungsschemata und die Wahrscheinlichkeit, dass Bedeutungsschemata durch Reflexion transformiert werden, ist größer als eine Revision von Bedeutungsperspektiven (Mezirow, 1997a, S. 36). Die Bedeutungsschemata sind in ihrer jeweiligen Ausprägung von der bisherigen Erfahrung und der neuen Erfahrung abhängig und sind demnach einem beständigen Wandel unterworfen, da Individuen immer wieder neue Erfahrungen machen und mit Erfahrungen konfrontiert werden, die nicht wie erwartet ausfallen (Mezirow, 1997b, S. 6).

Transformatives Lernen als eine Transformation von „Sinn- und Bedeutungsstrukturen“ (Mezirow, 1997b, S. 7; übersetzt nach: Wiesner & Prieler, 2020, S. 7) meint jedoch nicht die bloße Korrektur einer bisherigen Vorstellung, die zu einem Gegenstand vorhanden ist, sondern den Wandel einer Einstellung und damit des „ganzen Horizonts der Erfahrung“ (Buck, 2019, S. 43): „Wer umlernt, wird mit sich selbst konfrontiert; er kommt zur Besinnung. Nicht nur gewisse Vorstellungen wandeln sich hier, sondern der Lernende selbst wandelt sich“ (ebd.).

Als relevante Prädisposition, die vorteilhaft für die kritische Selbstreflexion ist und „Aufgeschlossenheit, einfühlsames Zuhören, vorzeitiges Urteilen und die Suche nach einer gemeinsamen Basis“ (Mezirow, 2003, S. 60) signifikant beeinflusst, benennt Mezirow unter anderem die Empathie (ebd.) (zu Empathie siehe Abschnitt 2.2.3.2). Empathie wurde auch in weiterführenden theoretischen Auseinandersetzungen mit der transformativen Lerntheorie und bei der Suche nach relevanten Prädispositionen für eine positive Wechselwirkung mit der Theorie von anderen Autor*innen aufgegriffen (Cranton & Taylor, 2013, S. 37 f.; Stevens-Long et al., 2012, S. 182).

Besonders Erfahrungen, die die bisherigen Bedeutungsschemata verunsichern oder erschüttern und eine Abfolge von Überprüfungen und Änderungen von Schemata auslösen, beinhalten transformatives Potential (Mezirow, 2006, S. 28). Der Prozess des transformativen Lernens beinhaltet dabei meist unterschiedliche PhasenFootnote 22 (Mezirow, 2000, S. 22) und beginnt mit dem Auftreten eines Diskrepanzerlebnisses, des desorientierenden Dilemmas (siehe Abb. 2.4).

Tritt ein Dilemma (1) auf, das die eigenen Annahmen in Frage stellt, erfolgen eine (Selbst-)Überprüfung und eine Hinterfragung der eigenen Annahmen, wobei auch emotionsbehaftete Prozesse, wie das Auftreten von Angst, Ärger, Schuld und Scham, ablaufen können (2). Diese Unzufriedenheit kann zu einer neuen kritischen Prüfung und Bewertung der eigenen Annahmen führen und zu der Erkenntnis, dass eine Unzufriedenheit mit den vorhandenen Bedeutungsschemata besteht (3) und dass eine Transformation dieser Schemata, auch bei anderen Personen (z. B. den eigenen Gruppenmitgliedern), nicht unüblich ist (4). Durch diese kritische Reflexion kann eine Exploration alternativer Bedeutungsschemata stattfinden (5), die letztlich transformierend auf die eigenen Bedeutungsperspektiven (6–8) wirken und in das eigene Leben integriert werden (9–10) (Mezirow, 1997a, S. 36, 2000, S. 22, 2006, S. 28).

Abb. 2.4
figure 4

(Eigene Darstellung in Anlehnung an Mezirow, 1997a, S. 36, 200, S. 22, 2006, S. 28; Wiesner & Prieler, 2020, S. 9)

Phasen eines transformativen Lernprozesses nach Mezirow.

Für den deutsch-israelischen Jugendaustausch lassen sich hier transformative Potentiale erahnen, da Jugendliche unvermeidlich mit Diskrepanzerlebnissen konfrontiert werden, die von Vorannahmen abweichen. Zum Beispiel können die Jugendlichen der deutschen Austauschgruppe erleben, dass auch Jugendlichen in Israel unabhängig von ihrer Gruppenzugehörigkeit (jüdische Israelis, arabische Israelis, Palästinenser*innen) unterschiedliche Positionen im Hinblick auf den Nahostkonflikt einnehmen (1) (siehe Schilderung des Diskrepanzerlebnisses bei Thomas et al., 2007, S. 38). Diese Feststellung unterscheidet sich möglicherweise von der Vorannahme, dass sich die Meinung der Jugendlichen diametral entlang der vermeintlichen Zugehörigkeit zur Konfliktpartei in einer Sympathie für Israelis bzw. Palästinenser*innen ausdrückt. So würden die Überprüfung und die Hinterfragung der eigenen Annahmen in Gang gesetzt, wobei dieser Revisionsprozess mit affektiven Elementen wie Scham (z. B. aufgrund des vorschnellen Pauschalisierens der Gruppen) und Wut (z. B. aufgrund der Diskrepanz zur eigenen Vorstellung, derer man sich sicher war) einhergehen kann (2). Diese Feststellung führt zu einem kritischen Hinterfragen der eigenen vorherigen Annahmen (3). Im besten Fall erkennen die Jugendlichen durch Kommunikation mit anderen Jugendlichen, dass auch andere über die wahrgenommene Diskrepanz verwundert sind und ebenfalls durch einen transformativen Lernprozess gehen (4). Gleichzeitig ist es möglich, dass die Jugendlichen ihre bisherigen Beziehungen hinterfragen, z. B. zu Israelis, die möglicherweise vorher als Agressor*innen im Konflikt wahrgenommen wurden, (5) und dass eine alternative Wahrnehmung der Gruppe (6) (z. B. der Israelis als einer heterogenen Gruppe von Individuen) adaptiert wird. Durch weitere Konfrontationen und das Aneignen von Wissen (7) durch weitere Aktivitäten im deutsch-israelischen Jugendaustausch erfolgt das Elaborieren der eigenen Perspektive, die in weiteren Situationen des Aufeinandertreffens mit Israelis getestet wird (8). Auf dieser Grundlage wird ein Vertrauen in die neue Perspektive etabliert (9). Im besten Fall erfolgt durch diese transformative Erfahrung nicht nur eine Änderung der Bedeutungsschemata, die ihren Ausdruck in der Re-Interpretation der Gruppe der Israelis findet, sondern auch in einer Re-Orientierung in der Weltanschauung des Jugendlichen (10), welche sich darin äußern könnte, dass die Jugendlichen eine höhere Sensibilität im Hinblick auf die vorschnelle Generalisierung von Gruppen entwickeln.

Dass Mezirows transformative Lerntheorie als theoretische Grundlage für die Beforschung der Wirkung von Auslandsaufenthalten und Jugendbegegnungen dienen kann, da Reisen naturgemäß zu unvergesslichen, persönlichen und transformativen Erfahrungen führen, belegt die akademische Auseinandersetzung mit seinen Theorien (Cavender et al., 2020; Roberson, 2018; Thomas et al., 2007). In mehreren Studien wurde festgestellt, dass Kurzzeit-Auslandsprogramme durch die komprimierten Zeitpläne, das enge Zusammenleben und die ungewohnten Erfahrungen häufig desorientierende Dilemmata hervorrufen, die den Prozess des transformativen Lernens einleiten (Perry et al., 2012; G. A. Stone & Duffy, 2015; M. J. Stone & Petrick, 2013; Thomas et al., 2007). Darüber hinaus weisen Studien nach, dass die Beziehungen zu anderen Teilnehmer*innen und Personen, die man im Ausland kennengelernt hat, einen positiven Einfluss auf die Bereitschaft haben, bestehende Überzeugungen zu hinterfragen (Cavender et al., 2020; Perry et al., 2012; G. A. Stone & Duffy, 2015).

2.2.3 Emotionen in Bildungs- und Handlungsprozessen

Seit Jahrzehnten führen Israelis und Palästinenser*innen einen kriegerisch ausgetragenen Konflikt um dasselbe Gebiet, in dem Religionen, Kulturen und Werte immer wieder aufeinanderprallen. Neben konkreten Konfliktgegenständen wie den Staatlichkeits- und Autonomieansprüchen, dem Kampf um das Territorium und um Grenzen, um Bedrohungswahrnehmungen sowie um Aspekte der (Wasser-)Wirtschaft (Johannsen, 2023, S. 69 ff.) sind auch Emotionen wie Feindschaften, Trauer und Angst Ursache und Folge der fortwährenden Kämpfe, die beide Seiten austragen (Gold, 2015). Nicht nur im Nahen Osten ist die Wahrnehmung des Konflikts und der Akteur*innen stark durch Emotionen geprägt, sondern auch in der deutschen Bevölkerung zeigt sich eine emotionale Aufladung in den Debatten um den Nahostkonflikt und um die beteiligten Kriegsparteien (Messerschmidt & Fereidooni, 2019; Niehoff, 2016a). So deutet die Einstellungsforschung auf einen starken Zusammenhang zwischen Sympathien und Antipathien der deutschen Bevölkerung gegenüber den Israelis und den Araber*innen/Palästinenser*innen einerseits und tagespolitischen Ereignissen im Nahostkonflikt andererseits hin (Hagemann, 2016, S. 29). Ferner heben Wissenschaftler*innen insbesondere im Hinblick auf israelbezogene Ressentiments und antisemitische Einstellungen die Funktion von Emotionen in der Rolle des Katalysators hervor (Follert & Stender, 2010, S. 219; Messerschmidt & Fereidooni, 2019, S. 355 f.; Schwarz-Friesel, 2020, S. 45). So scheinen Hass und der Wunsch nach Schuldabwehr eine bedeutende Rolle in antisemitischen und israelbezogenen Ressentiments einzunehmen (Bernstein, 2022; Schwarz-Friesel, 2020). Insbesondere Jugendliche zeigen sich vom Nahostkonflikt emotional betroffen und von den Krisen in hohem Maße berührt (Fava, 2019b; Follert & Stender, 2010, S. 219; Niehoff, 2016a, S. 13). In diesem Zusammenhang weist Rosa Fava auch auf die Bedeutung von Solidaritätsgefühlen hin, die über politische Solidarität hinausgehende nationale und religiöse Identifikation der Schüler*innen mit den Konfliktparteien einschließt und damit den vereinfachten Rückgriff auf Täter*innen-Opfer-Narrative stimuliert (Fava, 2019b, S. 27), was zur Vorverurteilung der Konfliktparteien und zu unterkomplexen Schwarz-Weiß-Bildern bei der Wahrnehmung des Nahostkonflikts führen kann.

Durch die hohe emotionale Bedeutung, die dem Nahostkonflikt von vielen Seiten attestiert wird, wäre das Aussparen der affektive Ebene und der Wechselwirkung dieser mit der Bewertung des Nahostkonflikts abwegig, weshalb im Folgenden die Auseinandersetzung mit Emotionen eine gesonderte Betrachtung finden soll. Zunächst wird der Diskurs um Emotionen in der politischen Bildung und in den Bezugswissenschaften referiert und die zentralen Funktionen und Charakteristika von Emotionen werden skizziert. Abschließend wird auf die aus der Theorie und der Empirie abgeleitete Mobilisierungsfunktion von positiven und negativen Emotionen bei der Wahrnehmung politischer Problemgegenstände und Gruppen eingegangen, wobei die Illustrierung sich auf die vier in diesem Kontext wirkungsstärksten Emotionen der Empathie, des Enthusiasmus, der Angst und des Ärgers beschränkt.

2.2.3.1 Emotionen in der politischen Bildung und in den Bezugswissenschaften

In den Sozial- und Erziehungswissenschaften wurden Emotionen lange als Gegenspieler zu Rationalität und Vernunft typisiert und damit als ein eher ungünstiger Aspekt von Bildungsprozessen erachtet (Gieseke, 2007; Huber & Krause, 2018, S. 3 f.; May, 2020, S. 127; von Scheve, 2011, S. 208). Als ein affektiver Prozess wurden Emotionen in der sozialwissenschaftlichen Literatur lange zum Spektrum der „Irrationalitäten“ (Ritter, 1999, S. 219) gezählt, wodurch die Meinung vorherrschend war, dass Emotionalität „von der modernen Ratio abgehoben“ (ebd.) werden musste und damit klar von Bildungsprozessen abgetrennt werden sollte. Die Erziehungswissenschaftlerin Wiltrud Gieseke begründet diese Vernachlässigung von Emotionen in bildungstheoretischen Überlegungen mit dem traditionellen Verständnis der Bildungsforschung:

„Im traditionellen Verständnis vieler Erziehungswissenschaftler der Moderne waren es gerade die Gefühle, die auf wenig passendes, nur begrenzt nutzbares Alltagswissen verwiesen und durch Bildung ‚gebändigt‘ werden sollten. Bildung diente der Vernunft, der Bändigung von Trieben, der Sublimierung und Kalmierung von Gefühlen“ (Gieseke, 2007, S. 18).

Demnach ist Bildung als intellektueller Entwicklungsprozess operationalisiert, der sich an Inhalten orientiert und sich durch die „Nichtanwesenheit von Emotionalität“ (ebd.) auszeichnet. Analog zur Wahrnehmung von Emotionen in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften fand sich auch in den fachdidaktischen Kreisen der politischen Bildung die langjährige negative Sicht auf Emotionen, in der Emotionen weder als zentrale Elemente von Bildungsprozessen noch als förderliche Prozesse für die Entwicklung einer Meinung betrachtet wurden (Besand, 2014, S. 375 f., 2016, S. 79; Besand et al., 2019, S. 11; Oeftering & Uhl, 2010, S. 56 f.; Weber, 2016, S. 168; Weber-Stein, 2019, S. 59).

In einer auf Rationalität und vordergründig auf „kognitiv fundierte Auseinandersetzung“ (Besand, 2014, S. 375; Besand et al., 2019, S. 12 f.) ausgerichteten Diskussion politischer Fragen wurde bisher eine Chance zur Stärkung rationaler, analytisch fundierter Debatten und Diskussionsformen gesehen, die förderlich für zukünftige politische Debatten und Ereignisse betrachtet wurden (ebd.). Die Ablehnung der Auseinandersetzung mit Emotionen wird dabei über die (zugeschriebene) Rolle der Emotionen als Antithese zur Rationalität gerechtfertigt, während die Rationalität – oder die rationale politische Urteilsbildung (May, 2020, S. 127) – dem Ziel der politischen Bildung gleicht (Hättich, 1977; Waldvogel, 2020, S. 54). Dies wird insbesondere im deutschsprachigen Raum vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen im Kontext des Nationalsozialismus begründet (Besand, 2014, S. 13; Oeftering, 2019, S. 383; Oeftering & Uhl, 2010, S. 56), indem Emotionen vorrangig als Gefahrenquelle für die Beeinflussung des Individuums erachtet werden:

„Isoliert geweckt, tendieren Emotionen in den meisten Fällen zu einem spontanen Dafür oder Dagegen und zwar nicht selten bis zu einem Zustand blinder Aggression im Sinne fremdbestimmter Ziele – ‚Wollt ihr den totalen Krieg?‘“(Hilligen, 1991, S. 42 zitiert nach: Besand et al., 2019, S. 13).

Damit stehen Emotionen und Impulsivität dem Meinungsbildungsprozess und dem Erarbeiten politischer Gegenstände im Weg, und die Diskussionen politischer Gegenstände sollen ausschließlich auf Rationalität ausgelegte werden (Besand et al., 2019, S. 14). Gleichzeitig erklärt Besand den Verzicht auf die Auseinandersetzung mit Emotionen durch die bisher in fachdidaktischen Kreisen vorherrschende Hoffnung, dass mit der Implementation rationaler Analysen und Diskurse im Politikunterricht ein positiver Einfluss der Rationalisierung auf die Bewertung aktueller politischer Debatten genommen werden kann (ebd.). „Denn rational geschulte Bürgerinnen und Bürger sind zu rationalen politischen Debatten in der Lage“ (Besand et al., 2019, S. 14). Die Rationalität steht demnach über der Emotionalität (Oeftering, 2019, S. 384) und die Emotionalität wird zu etwas Unerwünschtem. Dem Stand der aktuellen Forderung wird dieser Zugang jedoch nicht gerecht, so attestiert Besand, dass Emotionen einen blinden Fleck der politischen Bildung darstellen (Besand, 2014, S. 377), und verweist darauf, dass trotz des Wunschdenkens der auf Rationalität ausgerichteten politischen Bildung sich die Wechselwirkung von Emotionen mit den zentralen Aspekten von Bildungsprozessen nicht abstreiten lässt; daher plädiert er neben einer kognitivistisch orientierten Vermittlung von Inhalten auch für die Auseinandersetzung mit den emotionalen Zugängen in Lernprozessen (Besand, 2014, S. 380). Tonio Oeftering und Herbert Uhl (2010) beschreiben Emotion und Rationalität sogar als noch enger miteinander verbunden und als gegenseitige Bedingungsfaktoren: Sie sprechen von der „Emotionalität des Rationalen“ – dem Einfluss der Emotion auf intellektuelle Neugier und auf das menschliche Verhalten – und von der „Rationalität des Emotionalen“ – der Fähigkeit, Emotionen zu „benennen und zu unterscheiden, zu deuten und zu interpretieren, sie auf kulturelle Kontexte (…) beziehen und bewerten zu können“ (Oeftering & Uhl, 2010, S. 59). Auch Florian WeberFootnote 23 spricht sich für die Inklusion von Emotionen in der Auseinandersetzung mit politischen Gegenständen aus, da eine Auseinandersetzung rein auf Grundlage des rationalistisch ausgelegten Verständnisses politischer Sachverhalte bedeutende Prozesse der Urteilsbildung unberücksichtigt lässt:

„Politik ist kein de-emotionalisierter Raum rein rationalen Entscheidens. (…) [Dies] wäre gar nicht möglich, denn Emotionen spielen in ihrer Rolle als basale Situationswahrnehmungen auf einer moralepistemischen Ebene immer schon eine konstitutive Rolle bei der Konstruktion des Raums, in dem politische Rationalität sich bewegt“ (Weber, 2016, S. 180).

So sind in den zentralen Begriffen der politischen Bildung – der Betroffenheit, der Motivation, und des Interesses – emotionsgeladene Prozesse unumgänglich (ebd.). Diese Beobachtung konnte auch mithilfe empirischer StudienFootnote 24, die sich systematisch der Wirkung affektiver Prozesse auf Bildungsprozesse widmen, bestätigt werden. In diesen wurde deutlich, dass Emotionen nicht nur in der Bildung eine hohe Prävalenz aufweisen, sondern dass ihnen gerade in Lern- und Lehrsettings und im Bereich des sozioemotionalen Lernens ein hoher Stellenwert beigemessen wird (Hagenauer & Hascher, 2014; Hascher, 2005; Hascher & Brandenberger, 2018; Reicher & Matischek-Jauk, 2018). Sie nehmen auch Schlüsselfunktionen im Hinblick auf das politische Urteil (May, 2020; Schröder, 2020) und auf Handlung(smotivation) sowie in Interaktionen zwischen Individuen ein (Crawford, 2014, S. 537; Reinke de Buitrago, 2019, S. 248; von Scheve, 2011, S. 208). Der Soziologe Christian von Scheve fordert vor diesem Hintergrund die gezielte Auseinandersetzung mit Emotionen im Zusammenhang mit Bildungsprozessen:

„Die konsequente Interpretation (…) lautet daher, dass Bildung und Erziehung ohne profunde Kenntnis emotionaler Prozesse weder lückenlos verstanden, geschweige denn gesteuert werden können“ (von Scheve, 2011, S. 213).

In der internationalen Forschungslandschaft vollzog sich der Paradigmenwechsel vom Ausklammern der Emotionen hin zur Beforschung der Emotionen als Einflussgröße in Bildungsprozessen (emotional turn) (Waldvogel, 2020, S. 54) bereits Mitte der 1990er-Jahre (Brader & Marcus, 2013, S. 5), was zu einer vielfältigen Auseinandersetzung mit der Wechselwirkung von Emotionen und Bildungsprozessen sowie zu wissenschaftlichen theoretischen und empirischen Auseinandersetzungen hinsichtlich der Definitionen und der konkreten Komponenten von Emotionen führte (Waldvogel, 2020, S. 54).

Für den Begriff ‚Emotionen‘ gibt es zahlreiche Definitionen, die unterschiedliche Charakteristika einschließen (Hascher & Brandenberger, 2018, S. 290; Schröder, 2020, S. 117; von Scheve, 2011, S. 210). Der Politikwissenschaftler Jonathan Mercer definiert ‚Emotion‘ als eine „subjektive Erfahrung einer diffusen physiologischen Veränderung“ (Mercer, 2014, S. 516) und grenzt diese von ‚Gefühl‘ ab, das er als ein „bewusstes Bewusstsein dafür (…), dass man eine Emotion erlebt“ (ebd.) definiert. Die Politikwissenschaftlerin Neta C. Crawford betont darüber hinaus, die intersubjektiven und kulturellen sowie die behavioristischen Komponenten von Emotionen (Crawford, 2000, S. 125, 2014, S. 537). Von Scheve spricht außerdem vom episodischen Charakter von Emotionen: „[Die Emotion] wird durch ein auslösendes Ereignis aktiviert, dauert eine gewisse Zeit an und ebbt dann wieder ab“ (von Scheve, 2011, S. 210). Als Bedingung nennt er, dass dieses Ereignis für den*die Rezipient*in eine Relevanz aufweisen muss, damit die Emotion die Funktion der Reaktion auf das wahrgenommene Ereignis einnehmen kann (ebd. S. 528 ff.).

In Anlehnung an die Auseinandersetzungen mit Emotionen als Bildungsprozess von Carroll Izard (Izard, 1993; Izard & Izard, 1999), Klaus Scherer (Scherer, 2005), Paula Niedenthal et al. (Niedenthal et al., 2006) und weiteren Forscher*innen lassen sich die Komponenten ableiten, aus denen sich Emotionen zusammensetzen und zu denen derzeit weitgehend Konsens besteht (siehe u. a. bei Hagenauer & Hascher, 2014; Hascher, 2005; Hascher & Brandenberger, 2018; Huber, 2018; Schnabel, 2005; von Scheve, 2011). Das Mehrkomponentenmodell von Scherer (Scherer, 2005), das die konsensfähigen Elemente einschließt, denkt dabei die folgenden fünf Komponenten von Emotionen mit:

  1. 1.

    kognitive Komponente (die mit der Emotion zusammenhängende bewertende Komponente)

  2. 2.

    neurophysiologische Komponente (durch Emotionen hervorgerufene körperliche Symptome)

  3. 3.

    motivationale Komponente (durch Emotion hervorgerufene Handlungstendenz)

  4. 4.

    motorisch-expressive Komponente (das durch die Emotion hervorgerufene Ausdrucksverhalten)

  5. 5.

    affektive Komponente (das durch die Emotion hervorgerufene emotionale subjektive Erleben) (siehe bei Scherer, 2005, S. 698; Übersetzung in Anlehnung an Hascher & Brandenberger, 2018, S. 291)

Dabei sorgte insbesondere die kognitive Komponente in der Vergangenheit für zahlreiche Diskussionen in Fachkreisen, die das Verhältnis von Emotion und Kognition eruieren und unterschiedlich bewerten (Besand et al., 2019, S. 16; Schnabel, 2005, S. 282; von Scheve, 2011, S. 212; Weber, 2016, S. 174). Während einige Autor*innen auf der Integration von Emotion und Kognition beharren, sprechen andere Autor*innen der Emotion eine tragende Rolle in kognitiven Prozessen ab (von Scheve, 2011, S. 212). Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass dennoch ein Zusammenhang zu konstituieren ist, das Verhältnis dessen kann jedoch je nach Kontext unterschiedlich stark ausgeprägt sein (ebd.).

Weber begreift Kognition als Form der Informationsverarbeitung und spricht davon, dass Emotionen „an kognitiven Operationen funktional beteiligt sind“ (Weber, 2016, S. 174). Dabei sieht er das Gewichten von Handlungsoptionen, das Strukturieren von Gedächtnisinhalten und das Rekrutieren der reflexiven Problembearbeitung als drei Mechanismen von Kognitionsprozessen, an denen die emotionale Regulation beteiligt ist (ebd.). Emotionen gewichten nach Weber Handlungsoptionen, indem sie als die vom Neurowissenschaftler António Damásio definierten „somatischen Marker“Footnote 25 (Damasio, 2006, S. 55 ff.) fungieren und durch die Bewertung von persönlicher Erfahrung eine zentrale Rolle bei der Gewichtung von Entscheidungen spielen, noch bevor auf Rational-Choice-ModelleFootnote 26 zurückgegriffen werden kann. Besand betont dabei jedoch, dass Damásios Verständnis keinesfalls fehlgedeutet werden darf als eine Auffassung der deterministischen Funktion von Emotionen bei der Entscheidungsfindung, sondern er beschreibt, dass das „konkrete Gefühl erst durch die kognitive Interpretation des Ereignisses“ (Besand et al., 2019, S. 16) entsteht.

In der Aussage, dass Emotionen Gedächtnisinhalte strukturieren, bezieht sich Weber auf die Auseinandersetzung mit Emotionen und sozialen Strukturen von Christian von Scheve (von Scheve, 2009, S. 211 ff.) und beschreibt, dass Emotionen selektieren, welche kontextbezogenen Gedächtnisinhalte in einer Situation zur Verfügung stehen, da Emotionen als „Verknüpfungsregeln für „assoziative Gedächtnisnetzwerke““ (Weber, 2016, S. 175) fungieren. Als dritte zentrale Rolle von Emotionen in kognitiven Informationsverarbeitungsprozessen beschreibt Weber (Weber, 2016, S. 175), dass Emotionen nicht nur auf automatisch-spontane Reaktionsweisen, die intuitiv ablaufen, einen Einfluss haben, sondern unter Umständen auch an der Rekrutierung der sogenannten „elaborierten-reflektierten“ Prozessebene beteiligt sind und somit einen Einfluss auf die bewusste Auswertung der Informationen haben könnten.

2.2.3.2 Mobilisierungsfunktion von Emotionen bei der Wahrnehmung politischer Problemgegenstände und Gruppen

In der theoretischen und empirischen Auseinandersetzung wurde mehrfach die mobilisierende Funktion von Emotionen als Erklärgröße für politische Informationsverarbeitungsprozesse und Wahrnehmungsprozesse, für die Einstellungsbildung sowie für das intersubjektive und politische Verhalten von Individuen diskutiert und nachgewiesen (Brader & Marcus, 2013, S. 5; Crawford, 2014, S. 537; Waldvogel, 2020, S. 54). Vor allem der Einfluss positiver und negativer Emotionen auf die kognitiven und behavioristischen Prozesse wird dabei hervorgehoben (Brader & Marcus, 2013, S. 5).

Insbesondere der dem positiven Spektrum der Emotionen zugeordnete Empathie und den dem negativen Spektrums zugeordneten Emotionen der Angst und des Ärgers scheint eine gesonderte Rolle in politischen Handlungs- und Entscheidungsprozessen zuzukommen (Brader & Marcus, 2013, S. 5 f.). Im Folgenden werden diese Emotionen im Hinblick auf ihre Definition und die auf Basis der Theorie und der Empirie nahegelegte Wirkung skizziert. An dieser Stelle sollen zusätzlich zentrale Erkenntnisse aus Studien wiedergegeben werden, die sich explizit dem Kontext des Nahostkonflikts widmen und damit richtungsweisende Erkenntnisse für die vorliegende Studie liefern.

Empathie

Empathie beschreibt die Fähigkeit und Tendenz eines Individuums, sich in andere Personen hineinzuversetzen und mit ihnen mitzuempfinden (Früh & Wünsch, 2009, S. 191; MacKie et al., 2004, S. 240 f.; Stroebe et al., 2002, S. 28). Damit ist die Empathie eine auf das Gegenüber ausgerichtete affektive Reaktion (Eisenberg, 2000, S. 671; Halperin, Sharvit, et al., 2011, S. 96). In Bezug auf behavioristische Merkmale löst Empathie den Wunsch aus, anderen zu helfen und für Gerechtigkeit zu sorgen (Halperin, Sharvit, et al., 2011, S. 96).

Der Sozialpsychologe Herbert C. Kelman hat die Bedeutung von Empathie in der politischen Bewertung des Nahostkonflikts anhand einer langjährigen Studie mit israelischen und palästinensischen Interessensvertreter*innen aufgezeigt. Er belegte, dass erst dann fruchtbare Problemlösungsideen entwickelt werden, wenn Empathie zwischen den Verhandlungspartner*innen entsteht und institutionalisiert wird (Kelman, 1996, S. 104). Auch Crawford geht davon aus, dass Empathie eine der Emotionen ist, die das individuelle Verhalten sowie die Perzeption politischer Gegenstände maßgeblich beeinflussen kann (Crawford, 2014, S. 537) und durch ein Zusammenspiel mit den Emotionen Angst und Ärger wesentlich zur Bewertung von undurchschaubaren und komplexen Konfliktsituationen, z. B. des Nahostkonflikts, beitragen kann (Crawford, 2014, S. 553). Wie bereits in Abschnitt 2.2.2.1 aufgezeigt wurde, ist die Empathie eng mit der Fähigkeit zur Perspektivübernahme verknüpft (Batson, Early, et al., 1997; Pettigrew, 1998; Stotland, 1969) und nimmt eine bedeutende Rolle bei der Wahrnehmung der Standpunkte anderer ein. In ihrer Dissertation „Deliberative Offenheit durch Empathie“ gelang es Andrea Kloß, die vermittelnde Rolle von Empathie bei der Offenheit gegenüber Standpunkten nachzuweisen, die von der eigenen politischen Position abweichen (Kloß, 2020). Kloß verdeutlicht damit den positiven Effekt von Emotionen in Intergruppenkontexten, so stellt Empathie ein „mögliche[s] Vehikel für die Sensibilisierung für sich zwischen Gruppen unterscheidende Ansichten [dar]“(Kloß, 2020, S. 140). Damit bekräftigt sie die in der Empirie bereits mehrfach verifizierte These, dass Empathie eine relevante Facette in Intergruppeninteraktionen und bei der Konstruktion von Eigen- bzw. Fremdgruppen darstellt (Brader & Marcus, 2013, S. 46; Brauner et al., 2018, S. 317; MacKie et al., 2004). Empathie zeigt sich dabei in der Vorurteilsforschung als einer der wirkungsstärksten Faktoren für Vorurteile gegenüber Minderheiten. Personen mit höherer Fähigkeit zur Empathie und zur Perspektivübernahme scheinen weniger anfällig für Fremdenfeindlichkeit und für Vorurteile gegenüber Minoritätsgruppen zu sein (Bäckström & Björklund, 2007, S. 16; Brauner et al., 2018, S. 317; Pettigrew & Tropp, 2008, S. 924, 927 f.). Auch in kontakthypothetischem Vorgehen, bei dem Kontakt zur Mitgliedern der Fremdgruppe hergestellt wurde, zeigte sich, dass der Erfolg stark davon abhängt, wie empathisch eine Person ist (Pettigrew & Tropp, 2008, S. 928).

Neben den bereits erwähnten positiven Effekten auf das prosoziale Verhalten scheint Empathie auch einen Einfluss auf die Abnahme unterschiedlicher Formen des aggressiven Verhaltens zu haben (z. B. Cyberbullying und Mobbing sowie Aggression gegenüber anderen) (siehe dazu: Eisenberg, 2000; Garandeau et al., 2021; MacKie et al., 2004, S. 240 f.; Pfetsch et al., 2014; Zych et al., 2019).

Ärger und Angst

Als eine besonders stark mobilisierende Kraft für Handlungsstrategien und für die Bewertung von (politischen) Konflikten gilt die Emotion Ärger (Brader & Marcus, 2013, S. 16; Halperin, Sharvit, et al., 2011, S. 91 f.). Ärger kann Affekte hervorrufen, die die Spektren der Wut, der Verbitterung, des Ärgernis, der Verachtung und des Ekels abdecken (Brader & Marcus, 2013, S. 5). Ärger wird dabei als Emotion verstanden, die durch Ereignisse hervorgerufen wird, bei denen das Individuum die Handlungen anderer als ungerecht, unfair oder als Abweichung von akzeptablen gesellschaftlichen Normen wahrnimmt (Averill, 1982; Brader & Marcus, 2013, S. 16; Halperin et al., 2009, S. 97; Halperin, Sharvit, et al., 2011, S. 91 f.). Nicht selten ist Ärger mit der Angst um das eigene soziale, psychische und physische Wohlbefinden verbunden und stellt sich damit als eine Reaktion auf eine wahrgenommene Bedrohung dar (Eis & Metje, 2019, S. 190). Eine trennscharfe Differenzierung der Emotion Ärger von Hass ist schwierig, da beide Emotionen in Situationen häufig in Kombination auftreten (Brader & Marcus, 2013, S. 16) und dennoch je nach Intensität zu unterschiedlichen Entscheidungs- und Handlungsstrategien des Individuums führen können. In einer Studie zur Wirkung von Emotionen im Nahostkonflikt wiesen Halperin, Russell, Dweck und Gross nach, dass verärgerte Personen, die ein hohes Maß an Hass gegenüber der Fremdgruppe empfinden, weniger kompromissbereit sind als verärgerte Personen mit einem geringen Maß an Hass (Halperin, Russell, et al., 2011, S. 281).

Ärger wird auch als ein gruppenübergreifendes Phänomen in Intergruppenkontexten beobachtet und kann in diesen Kontexten neben einem bestärkenden Einfluss auf die Vorurteile auch die Tendenz der Entfernung von der Gruppe, die Projektion von Wut auf die Außengruppe sowie die Tendenz zum offensiven Handeln gegen die Außengruppe hervorrufen (Halperin, Sharvit, et al., 2011, S. 40 f.; Kauff et al., 2017; Mackie et al., 2000, S. 606; Seger et al., 2017, S. 6 f.). Zudem kann Ärger defensive und aggressive Verteidigungshandlungen „zum Schutz bestehender Identifikationen und Überzeugungen“ (Brader & Marcus, 2013, S. 6, eigene Übersetzung) eines Individuums auslösen. Empirische Untersuchungen verweisen zudem auf die relevante Funktion von Ärger bei der Beschaffung von Informationen. In mehreren Studien konnte ein positiver Einfluss von Ärger auf die sorgfältige politische Informationssuche und Informationsverarbeitung nachgewiesen werden (Nabi, 2002, S. 213; Valentino et al., 2008). Eran Halperin beschreibt Ärger als die „komplizierteste und vielschichtigste“ (Halperin, 2011, S. 40, eigene Übersetzung) Emotion. In seiner Studie zur Bereitschaft für Friedensverhandlungen im Nahostkonflikt, in der er jüdische Israelis befragt hat, wies er nach, dass Ärger die einzige Emotion ist, die bei jüdischen Israelis zu der Überzeugung führt, dass die Palästinenser*innen für ein Scheitern der Gespräche allein verantwortlich sind. Andererseits ist Ärger auch die einzige negative Emotion, die dazu führt, dass man in den Verhandlungen Risiken eingeht, und die eine Offenheit für das Generieren positiver Erkenntnisse über die gegnerische Seite begünstigt (Halperin, 2011, S. 40).

Wie bereits oben beschrieben wurde, ist Ärger nicht selten auch mit der Emotion der Angst verbunden (Brader & Marcus, 2013, S. 16). Angst oder Furcht wird dabei als eine Reaktion auf eine Bedrohung verstanden (Halperin et al., 2008, S. 234, 2009, S. 96). Brader geht davon aus, dass bei Individuen, die ruhig sind, das Handeln im Alltag stark über bereits verstetigte Routinen definiert wird. Angst reißt den Menschen aus seiner Ruhe und damit aus seiner Routine, lenkt die Aufmerksamkeit auf die relevanten Ereignisse in der Umwelt und aktiviert das Nachdenken über alternative Handlungsmöglichkeiten, um sich der Bedrohung zu stellen oder sich dieser zu entziehen (Brader, 2005, S. 390). Angst geht zudem mit der geringen Einschätzung der eigenen Kontrolle in einer Situation und einem geringen Vertrauen in das Bewältigungspotential der Situation einher und löst das Gefühl des inneren Ausgeliefertseins aus (Halperin et al., 2009, S. 96; Keltner & Lerner, 2001).

Angst kann hinsichtlich politischer Gegenstände produktiv die Bereitschaft zur politischen Partizipation (z. B. zur Wahlbeteiligung), das politische Interesse und den Willen zur politischen Informationsbeschaffung erhöhen (Brader, 2005, S. 398 f.), um damit eine Alternative zu der Lage zu schaffen, die individuell Angst bereitet. Gleichzeit kann Angst aber auch die Bewertung politischer Akteur*innen und politische Einstellungen so beeinflussen, dass sich die eigene Orientierung stärker an kurzfristigen statt an nachhaltigen und stabilen Prozessen der Gesellschaft ausrichtet, da das Individuum geneigt ist, nach schnellen Lösungen zu suchen (Schoen, 2006, S. 457). Zudem hat Angst häufig den Effekt der Überschätzung der Gefahr und der pessimistischen Prognose für das eigene Handeln und kann damit schnell in Vermeidungstendenzen umschlagen (Kauff et al., 2017; Keltner & Lerner, 2001). Diefenbach und von Scheve betonen außerdem die Bedeutung von Angst für die Entstehung und die Dynamik von sozialen Bewegungen; so schreiben sie insbesondere der Angst vor dem Verlust des eigenen Status und der eigenen Anerkennung sowie der Bedrohungs- und Unsicherheitsempfindung eine mobilisierende Funktion für rechtspopulistische Bewegungen zu (Diefenbach & von Scheve, 2019, S. 56 f.). In der Vorurteilsforschung gehen Pettigrew und Tropp von einer negativen Wirkung von Angst auf Vorurteile aus und zeigten in ihrer Studie, dass die Reduktion von Angst einen positiven Einfluss auf den Abbau von Vorurteilen hat (Pettigrew & Tropp, 2008, S. 928). Im Kontext des Nahostkonflikts und der Intergruppenkonflikte verweisen Halperin et al. im Zusammenhang mit einer Studie mit jüdischen Israelis darauf, dass Angst eine hohe Korrelation mit der Delegitimierung der Fremdgruppe (in diesem Fall der Araber*innen) aufweist (Halperin et al., 2008).

In einer weiteren Studie zeigte Halperin, dass Angst eine hemmende Wirkung auf das Eingehen von Risiken bei Friedensverhandlungen im Nahostkonflikt hat und die Angst bei (jüdischen) Israelis vor Risiken in Friedensverhandlungen ein entscheidendes Hindernis für jeden Fortschritt auf dem Weg zur Friedensaushandlung darstellt, für den eine gegenseitige Risikobereitschaft erforderlich wäre (Halperin, 2011, S. 40). Darüber hinaus verringert die Angst die Bereitschaft, territoriale Kompromisse einzugehen, die zu eigenen Sicherheitsproblemen führen könnten (ebd.). Es ist jedoch anzumerken, dass ‚ängstliche‘ Personen zwar Kompromisse ablehnen, die zukünftige Risiken erhöhen könnten, nicht aber andere Arten von Kompromissen (z. B. symbolische Kompromisse) (ebd. S. 35).

In wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Ärger und der Angst hat die Differenzierung beider Emotionen in der Vergangenheit Schwierigkeiten aufgeworfen (Brader & Marcus, 2013, S. 15). Obwohl Individuen Ärger eindeutig als etwas anderes als Angst empfinden, gehen selbstberichtete Ärger- und Wutgefühle häufig mit Angst einher (Tellegen et al., 1999, S. 302). Dies deckt sich mit der Tatsache, dass zahlreiche Situationen, die Angst auslösen, gleichzeitig auch die Emotion des Ärgers ansprechen (Berkowitz & Harmon-Jones, 2004, S. 124). Zudem drücken sich Ärger und Angst in einer ähnlichen physiologischen Symptomatik aus, nämlich im erhöhten Herzschlag und in einer erhöhten Körpertemperatur (Halperin et al., 2009, S. 96 f.), was die Nähe beider Emotionen auch im Bereich der körperlichen Reaktionen verdeutlicht. Angst und Ärger scheinen sich jedoch in den Dimensionen der Kontrolle der Gewissheit zu unterscheiden. Während Angst durch ein Gefühl des situativen Kontrollverlusts und der Ungewissheit definiert ist, charakterisiert ein Gefühl des individuellen Kontrollverlusts und der Gewissheit den Ärger (Keltner & Lerner, 2001, S. 147). Auf politische Phänomene angewandt fördern beide Emotionen verschiedene Arten von Handlungen und Einstellungen: Angst führt zu Vorsicht, während Ärger selbstbewusstere und aggressivere Reaktionen hervorruft (Vasilopoulou & Wagner, 2017, S. 385). Obwohl Angst und Ärger gleichermaßen zu einer Erhöhung der Bedrohungswahrnehmung führen, stimulieren sie unterschiedliche Reaktionsweisen auf die potentielle Bedrohung. Ängstliche Personen zeigen z. B. die Neigung zur pessimistischen Risikobewertung der eigenen politischen Handlungen, während verärgerte Personen optimistische Risikobewertungen des eigenen Handelns vornehmen (Halperin, 2011, S. 35; Keltner & Lerner, 2001, S. 149). Ängstliche Personen sind angesichts des erhöhten Risikos misstrauischer und schotten sich ab, während verärgerte Personen weniger risikoscheu sind und eher zu proaktivem Handeln neigen (Diefenbach & von Scheve, 2019; Halperin, 2011; Huddy et al., 2007, S. 228 f.).

2.2.3.3 Lerntheoretische Ansätze zur Änderung affektiver Zustände

Aufgrund der Wirkung von Emotionen auf die Wahrnehmung politischer Problemgegenstände und Gruppen, welche im vorherigen Kapitel dargestellt wurde, stellt sich für die vorliegende Forschung die Frage, auf welche Weise negative Emotionen einen Abbau und positive Emotionen einen Aufbau erfahren können. Fruchtbare Ansätze hinsichtlich der Stimulierung von Emotionen in Intergruppenkontexten lassen sich aus der Vorurteilsforschung identifizieren.

Die Basis für die VorurteilsforschungFootnote 27 lieferte der amerikanische Sozialpsychologe Gordon W. Allport mit seinem Werk „The Nature of Prejudice“ (Allport, 1954, Übers. 1971).

Allport definiert ein Vorurteil als

„eine ablehnende, feindselige Haltung gegen eine Person, die zu einer Gruppe gehört, einfach deswegen, weil sie zu dieser Gruppe gehört und deshalb dieselben zu beanstandenden Eigenschaften haben soll, die man dieser Gruppe zuschreibt“ (Allport, 1971, S. 21).

In seiner Definition betont er die Tatsache, dass das Vorurteil, wenngleich dies auch im alltäglichen Umgang mit einzelnen Personen von Bedeutung ist, eine unbegründete Vorstellung gegenüber einer Gruppe als Ganzes beschreibt (ebd.). Damit ist das Urteil über eine Gruppe bereits vor dem unmittelbaren Kontakt mit dieser gefällt. Obwohl meist die negativen Einstellungen gegenüber der Fremdgruppe im Vordergrund stehen, können Vorurteile auch positive Einstellungen gegenüber den Mitgliedern der anderen Gruppe umfassen. Also können Personen ohne „ausreichende Begründung“ (ebd. S. 20) gut von anderen Gruppen denken, wobei Allport jedoch das ethnische Vorurteil als ein meist negatives Urteil begreift (ebd.).

Allport geht davon aus, dass Personen, die zu Vorurteilen neigen,Footnote 28 sich durch grundlegend andere kognitive Prozesse als tolerante Menschen auszeichnen.

„Mit anderen Worten, die Vorurteile eines Menschen sind wahrscheinlich nicht nur eine besondere Einstellung zu einer besonderen Gruppe; wahrscheinlich sind sie die Spiegelung einer gesamten Denkhaltung gegenüber der Welt, in der er lebt“ (Allport, 1971, S. 184).

Besonders relevant für das vorliegende Forschungsvorhaben sind Allports Ausführungen zur Charakteristik vorurteilshafter MenschenFootnote 29 bei der Wahrnehmung und Bewertung von Fremdgruppen.

Laut Allport zeichnet sich die Charakterstruktur von Menschen, die zu vorurteilshaften Denkweisen neigen, auch durch die Tendenz zu einer dichotomen Trennung der Wir-Gruppe und der Fremdgruppe aus. Allport spricht dabei von einer „Unfähigkeit, das Gemisch von Gut und Schlecht in ihrem eigenen Wesen anzunehmen“ (Allport, 1971, S. 402), die sich in dem Wunsch äußert, die Welt in richtig und falsch zu teilen (ebd.). Die vorurteilhaften Personen, zeigen dabei einen Wunsch nach Entschiedenheit (Allport, 1971, S. 402 ff.). Dies ist zum einen in einer geringeren Fähigkeit zur Ambiguitätstoleranz zu erkennen (Allport, 1971, S. 402 f.). So fällt es vorurteilhaften Personen deutlich schwerer, mit Zweideutigkeiten einer Situation umzugehen und diese zu tolerieren (ebd. S. 403). Der Fähigkeit des Aushaltens und des Umgehens mit Widersprüchlichkeit und MehrdeutigkeitFootnote 30 wird gerade im Kontext des Nahostkonflikts und des Umgangs mit israelbezogenem Antisemitismus von Wissenschaftler*innen eine bedeutende Rolle zugerechnet. So soll die Ambiguitätstoleranz vorschnellen pauschalisierenden Zuschreibungen entgegenwirken und es ermöglichen, den Nahostkonflikt als mehrdimensionalen Problemgegenstand anzuerkennen (Eckmann & Kößler, 2020, S. 8; Goldenbogen, 2013, S. 39; KIgA e. V., 2013; KigA e. V., 2017; KIgA e. V., 2019).

Ferner berichtet Allport von der Neigung vorurteilhafter Personen zur Veräußerlichung, indem das Problem bei der Fremdgruppe und nicht bei der eigenen Gruppen verortet wird (Allport, 1971, S. 405). Allport überträgt dies auf Intergruppenkontexte in der Aussage: „Nicht ich hasse und beleidige andere, sondern sie hassen und beleidigen mich“ (Allport, 1971, S. 406). Darüber hinaus beschreibt er die Liebe zur sozialen Ordnung (Institutionalismus) (ebd.) und die Neigung zum Autoritarismus (ebd. S. 408) als wesentliche Charaktermerkmale von Personen, die zu Vorurteilen neigen.

In den Ausführungen Allports wird die enge Verbindung von Vorurteilen und Gefühlen greifbar: So umfassen Vorurteile auch „Gefühle der Verachtung und Mißbilligung [sic!], der Angst und Ablehnung sowie auch die verschiedensten Formen von ablehnendem Verhalten“ (Allport, 1971, S. 21). Dabei schreibt Allport, dass Menschen eher dazu neigen, die genannten Emotionen gegenüber Gruppen zu empfinden, also z. B. statt Individuen die gesamte Fremdgruppe „zum Haßobjekt [sic!]“ (Allport, 1971, S. 367) zu erwählen, da gegenüber Einzelpersonen schneller Sympathie entsteht. Über die Wahrnehmung als Mitglieder einer Gruppe ergibt sich ein Abstand zur Einzelperson, die möglicherweise die Vorurteile nicht bestätigt. So kann das negative Gefühlt abstrakt auf die gesamte Fremdgruppe in ihrer Repräsentantenrolle verlagert werden. Bei einer Konfrontation mit Ausnahmen bietet dann die Erklärung eine Ausflucht, dass diese Ausnahmen bei Einzelpersonen, nicht jedoch bei der gesamten Fremdgruppe möglich sind und damit keinen Regelfall darstellen (ebd.).

Allport widmete sich der Frage, wie Vorurteile und damit auch die negativen Gefühle zwischen Gruppen abgebaut und positive Gefühle aufgebaut werden können, und entwickelte die Kontakthypothese, um den Zusammenhang zwischen Kontakt in Intergruppenkontexten und Vorurteilen greifbar zu machen (Allport, 1954). Auf Grundlage vorheriger Forschung und theoretischer Auseinandersetzung attestierte er dem häufigen Kontakt zwischen Mitgliedern unterschiedlicher Gruppen das Potential, Vorurteile gegenüber der anderen Gruppe abzubauen, sofern der Kontakt gewissen Bedingungen unterliegt:

„Vorurteile können (wenn sie nicht tief in der Persönlichkeitsstruktur des einzelnen verwurzelt sind) durch einen Kontakt mit gleichem Status zwischen Majoritäten und Minderheiten in der Anstrebung gemeinsamer Ziele verringert werden. Die Wirkung ist viel größer, wenn der Kontakt durch die öffentlichen Einrichtungen unterstützt wird (das heißt durch Gesetz, Sitten und örtliche Atmosphäre), und vorausgesetzt, der Kontakt führt zur Entdeckung gemeinsamer Interessen und der gemeinsamen Menschlichkeit beider Gruppen“ (Allport, 1971, S. 285 f.).

Demnach ist der Abbau von Vorurteilen insbesondere in den Konstellationen erfolgversprechend, in denen die Menschen in der Kontaktsituation gemeinschaftliche Ziele verfolgen, von etwa gleichem (hierarchischem) Status sind und miteinander interagieren/kooperieren müssen, um ihre Ziele zu erreichen. Nach Möglichkeit soll der Kontakt von Autoritäten unterstützt werden (Allport, 1971, S. 285 f.; Pettigrew, 1998, S. 66 f.).

Allports (1954) Kontakthypothese hat sich als äußerst einflussreich erwiesen und zahlreiche empirische Untersuchungen inspiriert, in denen die Grundprinzipien der Hypothese und der darin aufgestellten Bedingungen getestet wurden (siehe u. a. Amir, 1969; Brown & Hewstone, 2005; Haubach & Salentin, 2015; Pettigrew, 1998; Pettigrew & Tropp, 2006, 2008; Triandis & Vassiliou, 1972; Zimmer & Stein, 2022). Die Forschung zeigt dabei eine große Bandbreite an angewendeten Methoden (Feldstudien, Laborexperimente, Quer- und Langzeitstudien) und hatte einen tiefgreifenden Effekt auf den Bereich der Sozialpolitik in vielen Ländern (Hewstone et al., 2014, S. 40).

Eine der umfangreichsten Auseinandersetzungen ist die Metastudie „A meta-analytic test of intergroup contact theory“ als Bestandsaufnahme des Forschungsstands zur Kontakthypothese von Thomas F. Pettigrew und Linda R. Tropp (2006). In ihrer Analyse von 515 Studien mit über einer Viertelmillion Teilnehmer*innen aus 38 Ländern gelang es den Autor*innen, die Wirkung der Kontakthypothese nachzuweisen und zu zeigen, dass Kontakt zwischen Gruppen Vorurteile erfolgreich abbaut. Die Kontakteffekte konnten bei einem breiten Spektrum von Zielgruppen und in unterschiedlichen Formen von Kontaktsituationen nachgewiesen werden. Damit belegen die Ergebnisse, dass die Kontakthypothese bei einer Vielfalt von Gruppen, deren Vorurteile sich gegenüber der anderen Gruppe anhand unterschiedlicher Merkmale manifestieren, wirkungsvoll ist und sich damit auf alle Intergruppenbeziehungen übertragen lässt (ebd.). Darüber hinaus gelang es den Autor*innen, eine Aussage über die Bedingungen der Kontaktsituationen, die Allport (1954; 1971) aufgestellten hat, zu treffen: Zwar erzielen Programme, die mit den Bedingungen nach Allport arbeiten, höhere Effekte beim Abbau von Vorurteilen, sind aber keine essentielle Gelingensbedingung für eine positive Veränderung in Intergruppenkontexten. Die Autor*innen plädieren in ihrer Schlussfolgerung daher dafür, die Bedingungen als begünstigende, aber nicht als notwendige Faktoren für kontakthypothetische Treatments zu begreifen:

„In particular, we found that samples with no claim to these key conditions still show significant relationships between contact and prejudice. Thus, Allport’s conditions should not be regarded as necessary for producing positive contact outcomes, as researchers have often assumed in the past. Rather, they act as facilitating conditions that enhance the tendency for positive contact outcomes to emerge“ (Pettigrew & Tropp, 2006, S. 766).

Vor allem Emotionen kommt in kontakthypothetischen Settings eine bedeutende Rolle zu. So fasst Pettigrew die Erkenntnisse der empirischen Forschung zusammen und schlussfolgert, dass Angst eine häufige Emotion in Intergruppenkontexten ist und starke negative Reaktionen gegenüber der Fremdgruppe herbeiführen kann. Positive Emotionen wie Empathie können dagegen als Mediator fungieren und sich positiv auf die Fähigkeit zur Perspektivübernahme auswirken und zur Verringerung negativer Einstellungen gegenüber Fremdgruppen beitragen (Pettigrew, 1998, S. 71 f.). Pettigrew beschreibt, dass ein optimaler Intergruppenkontakt nicht nur den Perspektivwechsel im Hinblick auf die Fremdgruppe anspricht, sondern auch den Blick auf die eigene Gruppe verändert und damit die sogenannte Deprovinzialisierung der eigenen Perspektive nach sich zieht:

„Optimal intergroup contact provides insight about ingroups as well as outgroups. Ingroup norms and customs turn out not to be the only ways to manage the social world. This new perspective can reshape your view of your ingroup and lead to a less provincial view of outgroups in general (‘deprovincialization’)“ (Pettigrew, 1998, S. 72).

Es sind jedoch nicht die kognitiven Prozesse wie das Kennenlernen der Fremdgruppe und die Aufklärung, die die negativen Emotionen und Vorurteile abbauen, sondern die zwischenmenschlichen emotionalen Prozesse, die durch die Treffen angestoßen werden (Haubach & Salentin, 2015, S. 3). An dieser Stellen seien zentrale Befunde erwähnt, die darauf hindeuten, dass insbesondere Programme, die enge zwischenmenschliche Prozesse anstoßen, wie dies auch im deutsch-israelischen Jugendaustausch der Fall ist (Heil, 2011; Mähler, 2015, S. 16; Niklas, 2015, S. 70; Sailer & Schulz, 2012, S. 111), bei Jugendlichen zu einer signifikanten Veränderung auf der affektiven Wahrnehmungsebene führen können.

Die Metaanalyse „How does intergroup contact reduce prejudice“ von Pettigrew und Tropp (2008) belegt, dass EmotionenFootnote 31 in Intergruppenkontexten die Rolle des Mediators bei der Reduktion der Vorurteile einnehmen (Pettigrew & Tropp, 2008). So soll Kontakt zu Fremdgruppen einen Einfluss auf die beiden Emotionen Angst und Empathie haben, während diese beiden Emotionen wiederum einen Effekt auf die Vorurteile gegenüber der Fremdgruppe vermitteln. Der Kontakt zur Fremdgruppe scheint die Angst gegenüber der Fremdgruppe abzubauen und die Empathie mit dieser Gruppe zu erhöhen. Je geringer die Angst und je stärker die Empathie ist, desto geringer fallen wiederum die Ressentiments gegen die Fremdgruppe aus (siehe Abb. 2.5).

Abb. 2.5
figure 5

(Eigene Darstellung in Anlehnung an Pettigrew & Tropp, 2008, S. 928, eigene Übersetzung)

Vereinfachte Darstellung der Mediatorwirkung von Emotionen nach Pettigrew und Tropp.

Auch spätere Studien weisen die Wirkung von Angst und Empathie als affektive Mediatoren in Intergruppenkonstellationen nach und belegen, dass kontakthypothetische Settings einen positiven Einfluss auf den Abbau von Angst und den Aufbau positiver Emotionen haben (Hodson, 2011; Pettigrew & Tropp, 2011; Swart et al., 2011). Die Ergebnisse der Studie „Langzeitwirkungen der Teilnahme an internationalen Jugendbegegnungen auf die Persönlichkeitsentwicklung der Teilnehmenden“ von Alexander Thomas und Heike Abt zeigen zudem, dass die affektiven Effekte nicht nur kurzfristiger Natur sind, sondern langanhaltend wirken. So berichten die Autor*innen dass selbst zehn Jahre nach Teilnahme an einem Begegnungsprojekt ehemalige Teilenehmer*innen von einer positiven emotionalen Beziehung zum Gastland oder zur Gastregion und „dessen/deren Bewohner/-innen[sic!]“ berichteten (Thomas & Abt, 2021, S. 149).

2.2.4 Weitere Dimensionen politischer Bildungsprozesse

Als weitere Dimensionen politischer Bildungsprozesse werden in der vorliegenden Studie israelbezogene antisemitische Ressentiments sowie die außercurriculare Beschäftigung mit dem Themenfeld Nahost (konkret: politische Partizipation und das politische Interesse) betrachtet und im Folgenden in der theoretischen Rahmung eingeführt. Da diese Ebenen ebenfalls aktiv vom Jugendaustausch angesprochen werden, wird eine Wirkung des deutsch-israelischen Jugendaustausch auf die beschriebenen Dimensionen erwartet.

2.2.4.1 Israelbezogene antisemitische Ressentiments

Lange Zeit gehörten Phänomene wie die Holocaustleugnung bzw. -relativierung zu den in Deutschland sichtbarsten Formen von Antisemitismus nach 1945 (Beyer & Liebe, 2020, S. 131). Mit Gründung des Staates Israel und den anhaltenden Unruhen in der israelisch-palästinensischen Konfliktlage hat Antisemitismus eine weitere Dimension bekommen, nämlich die des israelbezogenen Antisemitismus. Diese Besitzt eine besondere Relevanz für die Region des Nahen Ostens, ist aber auch darüber hinaus als Facette antisemitischer Einstellungen wirksam. Trotz der geografischen Ferne zeigen sich auch auf deutschem Boden die Auswirkungen der Krise in regelmäßigen Zyklen (Kappl et al., 2021; RIAS Berlin, 2021; Richter, 2016). Der Politikwissenschaftler Markus Kaim spricht in Anbetracht der deutsch-israelischen Geschichte von einem besonderen Verhältnis Deutschlands zu Israel und dem Nahostkonflikt, in dem Deutschland sich selbst, als Reaktion auf die im Nationalsozialismus verübten Verbrechen an Juden*Jüdinnen, viele Verpflichtungen zur Unterstützung Israels auferlegt hat (Kaim, 2016, S. 19). Jedoch scheint vor allem in den letzten Jahren, insbesondere innerhalb der Zivilgesellschaft, ein Wandel in der seit Staatsgründung Israels „proisraelischen Orientierung“ (Kaim, 2016, S. 24 f.) stattzufinden, was sich insbesondere in der Einstellungsforschung der letzten Jahre zeigt (Hagemann, 2016, S. 27; Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus, 2017, S. 63 f.). Steffen Hagemann (2016) beschreibt die Sympathien und Antipathien gegenüber Israel und den Palästinenser*innen als „eng mit der Rolle beider Parteien im Konflikt [gemeint ist der Nahostkonflikt, Anm. d. Verf.]“ (Hagemann, 2016, S. 28) verbunden. Dabei wurden im Lauf der Geschichte einmal die Israelis und ein anderes Mal die Palästinenser*innen als die Opfer im Konflikt beurteilt, wobei seit 1980 Israel stärker in die Täterrolle geraten ist und deutlich an Sympathiewerten einbüßt hat (ebd., S. 29).

So kommt es immer wieder auf Protest- und Friedenskundgebungen zu antisemitischen Parolen und zu verschiedenen Formen antisemitischer Mobilisierung. Allein im Bundesland Berlin wurden im Zeitraum vom 8. Mai bis zum 8. Juni 2021, in dem es zu einer erneuten Eskalation im Nahostkonflikt kam,Footnote 32 insgesamt 211 antisemitische VorfälleFootnote 33 in der Hauptstadt registriert (RIAS Berlin, 2021, S. 36). Diese anti-israelischen Einstellungen und Handlungen in der Gesamtbevölkerung zeigen die weitreichende Bedeutung der Geschehnisse im Nahostkonflikt für Menschen, die außerhalb der Konfliktzone leben. Dies schlägt sich in der heute bevölkerungsweit populärsten Variante des Antisemitismus, dem „israelbezogenen Antisemitismus“Footnote 34, nieder (Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus, 2017, S. 26). Gemeint ist eine Form des Antisemitismus, die sich erst nach der Shoah entwickelt hat und sich gegen den Staat Israel richtet. Israelbezogener Antisemitismus meint generell die Übertragung antisemitischer Stereotype und Ressentiments auf den Staat Israel. Er steht damit als „Jude unter den Staaten“Footnote 35 stellvertretend für Juden*Jüdinnen (Kiess et al., 2022, S. 73). Doron Rabinovici und Natan Sznaider beschreiben die Entwicklung dieser Form des Antisemitismus wie folgt:

„Der offene Antisemitismus war durch den Massenmord [die Shoah] in Verruf geraten und tabuisiert, doch das Ressentiment wendet sich nun gegen die Schuldgefühle, relativiert die Verbrechen oder setzt gerne Opfer und Täter gleich. In der Debatte über diesen neuen Antisemitismus wird auch der Vorwurf erhoben, dass die Kritik an Israel in einigen Fällen weit über eine sachliche gerechtfertigte Kritik hinausgehe und dass ihr wahres Motiv antisemitisch sei. (…) Seinen Ausdruck finde der neue Antisemitismus einerseits in einer neuen verbalen Radikalität gegenüber Israel und den Juden insgesamt, andererseits in einer neuen Gewaltsamkeit, die sich in der gestiegenen Zahl der Übergriffe gegen Juden manifestiere.“ (Rabinovici & Sznaider, 2019, S. 10 f.)

Die verbale Radikalität manifestiert sich dabei in der Gleichsetzung von Israel mit Nazi-Deutschland, in der kollektiven Zuschreibung aller Juden*Jüdinnen als Repräsentant*innen der israelischen Politik sowie in der Leugnung des Existenzrechts des Staates Israels (Bernstein, 2021, S. 25 f.; Beyer & Liebe, 2020, S. 132; Heyder et al., 2015, S. 148; Longerich, 2021, S. 438). Dabei wird israelbezogener Antisemitismus als eine Form der „akzeptierten Artikulation“ (Bernstein, 2021, S. 24) genutzt, um antisemitische Ressentiments zu äußern, die nach der Shoah und dem Nationalsozialismus mit dem Ideal der „Ächtung des Antisemitismus in der postnationalistischen Gesellschaft“ (ebd.) einen gesamtgesellschaftlichen Legitimitätsverlust erlitten haben. In der Vergangenheit war israelbezogener Antisemitismus häufig Gegenstand der Frage, wo die Abgrenzung zwischen einer israelkritischen Haltung, die sich in einer ausgewogenen Kritik der Politik Israels zeigt, und der antisemitischen Haltung der Generalisierung von Juden*Jüdinnen verläuft (Heyder et al., 2015, S. 149).

Einen ersten Vorschlag für die Bewertung von Aussagen und deren Prüfung auf ihren antisemitischen Gehalt lieferte 2004 der ehemalige israelische Minister Nathan Sharansky mit dem ‚3D-Test‘. Israelkritik kann nach Sharansky von israelbezogenem Antisemitismus abgetrennt werden:

  1. 1.

    wenn der Staat Israel „dämonisiert wird“, indem z. B. die Handlungen Israels mit denen der Nationalsozialist*innen im Zweiten Weltkrieg gleichgesetzt und palästinensische Flüchtlingslager mit den Vernichtungslagern in Europa verglichen werden,

  2. 2.

    wenn die Bewertung des Staates Israels mit „doppelten“ Standards einhergeht und an die Bewertung Israels andere Maßstäbe als an andere Länder angelegt werden

  3. 3.

    und wenn die „Delegitimierung“ des Existenzrechts Israels stattfindet (Sharansky, 2004, S. 3).

Erfüllt eine Aussage eines dieser Kriterien, kann von antisemitischen Motiven ausgegangen werden. Dass auch israelbezogener Antisemitismus – trotz einer existierenden Debatte, die Gegenteiliges behauptet (Kempf, 2017) – eng in Verbindung mit dem Gesamtkonstrukt des Antisemitismus stehtFootnote 36 und damit antisemitische Einstellungen umfasst, gelang der Forscher*innengruppe Kiess et al. (2020) nachzuweisen. Zudem konnten sie eine Korrelation zwischen israelbezogenem Antisemitismus, dem tradierten Antisemitismus und dem Schuldabwehrantisemitismus nachweisen (Kiess et al., 2020, S. 235). Der tradierte Antisemitismus zeichnet sind durch die Vorstellung der Allmacht und den Mythos der grundsätzlichen Fremdheit von Jüdinnen*Juden ausFootnote 37 (Heyder et al., 2015, S. 147; Kiess et al., 2020, S. 219). Der Schuldabwehrantisemitismus spricht dagegen das Bedürfnis nach einer positiv behafteten deutschen Identität an und dient dazu, der „unangenehmen Schuldfrage“ (Heyder et al., 2015, S. 148) über die Täter*innen-Opfer-Umkehr mithilfe der Begründung der Kollaboration von Jüdinnen*Juden im Nationalsozialismus auszuweichen und die (Mit-)Schuld damit an die Jüdinnen*Juden zu übertragenFootnote 38 (Kiess et al., 2020, S. 220).

Bevölkerungsumfragen deuten insbesondere auf hohe Zustimmungswerte der deutschen Bevölkerung zu israelbezogenem Antisemitismus hin. So kam die repräsentative Bevölkerungsumfrage „die Mitte-Studie“ aus dem Jahr 2016 auf 40.4 % der Befragten, die dem Item „Bei der Politik, die Israel macht, kann ich gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat“ zustimmtenFootnote 39 (Zick et al., 2016, S. 44 f.). Fast ein Viertel der Befragten (24.6 %) stimmte darüber hinaus dem Item „Was der Staat Israel heute mit den Palästinensern macht, ist im Prinzip auch nichts Anderes als das, was die Nazis im Dritten Reich mit den Juden gemacht habenFootnote 40“ (ebd.).

In der der Studienreihe der „Mitte-Studie“ zugehörigen Leipziger Autoritarismus-Studie (Decker et al., 2020) wurde die Betrachtung des israelbezogenen Antisemitismus weiter ausdifferenziert, indem die latente und die manifeste Zustimmungstendenz von Befragten erfasst wurden. Die Befragten hatten die Möglichkeit, sich auf der fünfstufigen Antwortskala zu positionieren, die die Antwortmöglichkeiten „lehne voll und ganz ab“, „lehne überwiegend ab“, „teils/teils“, „stimme überwiegend zu“ und „stimme voll und ganz zu“ bot. Die manifeste Zustimmung wurde über die bejahenden Antwortkategorien „stimme überwiegend zu“ und „stimme voll und ganz zu“ (addiert) erfasst und die latente Zustimmung über die zurückhaltende, aber dennoch zum Teil der Aussage beipflichtende Antwortkategorie „teils/teils“ erhoben (Kiess et al., 2022, S. 75). Hier erreichte gesamtgesellschaftlich insbesondere das von Sharansky der Dämonisierung (Sharansky, 2004) zuzuordnende Item eine hohe Zustimmung, das explizit die Politik Israels mit den Handlungen der Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg gleichsetzt: „Israels Politik in Palästina ist genauso schlimm wie die Politik der Nazis im Zweiten Weltkrieg“. So stimmten 30.3 % der Befragten diesem Item voll und ganz bis überwiegend zu (manifest), weitere 39.4 % stimmten diesem Item teilweise zu. Das Item „Durch die israelische Politik werden mir die Juden immer unsympathischer“Footnote 41 erhielt weniger manifeste Zustimmung (13.5 %), weitere 29.7 % stimmten der Aussage latent zu. Der Aussage „Auch andere Nationen mögen ihre Schattenseiten haben, aber die Verbrechen Israels wiegen am schwersten“Footnote 42 erhielt 11.9 % manifeste und 34.2 % latente Zustimmung (Kiess et al., 2022, S. 78). Gemessen an den drei Aussagen sind mindestens 43.2 % der Befragten zumindest teilweise für israelbezogenen Antisemitismus empfänglich, insbesondere beim Nationalsozialismus-Vergleich ist der Anteil der Befragten, die weder manifest noch latent zustimmen, gering ausgeprägt (30.3 %) (ebd.).

Auch unter Jugendlichen scheint die Facette des israelbezogenen Antisemitismus zu dominieren. So weist der Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus darauf hin, dass nur ca. 4 % der 16- bis 30-Jährigen klassische antisemitische Facetten bedienen, die die offene Abwertung von Juden*Jüdinnen auf Grundlage tradierter negativer Stereotype (zugeschriebener Charaktereigenschaften) repräsentierenFootnote 43 (Heyder et al., 2015, S. 147).

Dagegen ist die Zustimmung zu israelbezogenem Antisemitismus in derselben Altersgruppe dreimal höher (12 %) (Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus, 2017, S. 68). Der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus verweist darüber hinaus auf einen klaren Alterseffekt. So scheint mit zunehmendem Alter die Zustimmung zu israelbezogenem Antisemitismus deutlich zuzunehmen und erreicht in der Altersgruppe der über 60-Jährigen mit einer Zustimmung von 30 % den Höhepunkt (Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus, 2017, S. 68; siehe auch bei Zick et al., 2016, S. 58 f.).

Die Leipziger Autoritarismus-Studie kam im Jahr 2020 in der Altersgruppe der 14–30 Jährigen auf eine Zustimmungsquote von 9.4 % zu israelbezogenem Antisemitismus (Kiess et al., 2022, S. 79). Dabei ist der Zuspruch von männlichen Teilnehmern (10.6 %) höher als von weiblichen Teilnehmerinnen (7.9 %). Teilnehmer*innen der Studie mit Abitur (6 %) haben dagegen eine signifikant geringere Zustimmungstendenz zu israelbezogenen antisemitischen Aussagen als Teilnehmer*innen ohne Abitur (10.6 %) (ebd.). In einer weiteren Rechnung weisen die Autor*innen der Studie zudem auf einen Zusammenhang zwischen der Religionszugehörigkeit und israelbezogenem Antisemitismus hin. So stimmten Personen, die angaben, dass sie der islamischen Religionsgemeinschaft angehören, deutlich häufiger israelbezogenen antisemitischen Aussagen zu (40.5 %) als Personen, die den christlichen Glauben vertreten (katholische Kirche = 7.1 %, evangelische Kirche = 5.2 %). Ferner stimmten 9.4 % der Personen ohne Religionszugehörigkeit den israelbezogenen Ressentiments zu (Kiess et al., 2022, S. 80 f.). Auf das Alter, den Bildungshintergrund und die Konfession als Erklärgrößen bei israelbezogenem Antisemitismus wird auch in anderen quantitativen Studien verwiesen (Zick & Küpper, 2005).

Von wahrnehmbaren antiisraelischen Ressentiments unter Jugendlichen und Schüler*innen berichten auch andere groß angelegte quantitative Meinungsumfragen und qualitative Studienergebnisse (AJC, 2017, S. 14 ff.; Chernivsky & Lorenz, 2020, S. 91; Mansel & Spaiser, 2013, S. 222 f.; Scherr & Schäuble, 2006). Auch Studien, die sich in den letzten Jahren den Perspektiven von Juden*Jüdinnen und Schüler*innen mit jüdischen (Herkunfts-)Biografien zuwendeten, replizieren die Ergebnisse, dass israelbezogener Antisemitismus virulent bei Jugendlichen in Deutschland ist. So zeigt eine Reihe qualitativer Studien, dass jüdische Schüler*innen häufig mit israelbezogenen antisemitischen Haltungen von Mitschüler*innen konfrontiert werden, indem sie als Repräsentant*innen Israels wahrgenommen werden, Anfeindungen aufgrund von Geschehnissen im Nahostkonflikt ausgesetzt sind oder mit israelbezogenen antisemitischen Verschwörungstheorien, versteckt im antisemitischen Narrativ der „jüdisch-israelische[n] Herrschaftselite“ (Bernstein, 2021, S. 86), konfrontiert werden (Bernstein, 2018, 2021, S. 86 f.; Bernstein et al., 2020; Bernstein & Diddens, 2021, S. 162 f.; Zick et al., 2017, S. 63 f.). So berichtete beispielsweise in einem Interview ein jüdischer Schüler von einem Erlebnis in der siebten Klasse, als die Befreiung von Auschwitz besprochen wurde, dass ein Mitschüler den Schlussstrich für die Auseinandersetzung mit dem Holocaust forderte; schließlich seien die Taten der Nationalsozialist*innen damals und der Israelis heute vergleichbar (Zick et al., 2017, S. 63). Die Dämonisierung der Handlungen Israels und deren Gleichsetzung mit denen der Nationalsozialist*innen im Zweiten Weltkrieg scheinen unter Jugendlichen verbreitet zu sein (Bernstein, 2021, S. 86). Gleichzeitig scheint die Wahrnehmung jüdischer Schüler*innen als Repräsentant*innen eines jüdisch-israelischen Kollektivs und damit die Gleichsetzung von Jüdinnen*Juden und den politischen Handlungen Israels ein häufiges Narrativ zu sein. In einer anderen Studie berichtete etwa ein jüdischer Schüler, dass er sich häufig mit Aussagen seiner Mitschüler*innen konfrontiert sah, beispielsweise mit der folgenden: „Ihr Juden macht da unten im Nahen Osten so eine Scheiße“ (Bernstein, 2021, S. 86; Bernstein et al., 2020, S. 101).

Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse beschäftigen sich viele Pädagog*innen und Didaktiker*innen mit der Frage, wie (israelbezogener) Antisemitismus unter Jugendlichen abgebaut werden kann und welche konkreten Maßnahmen ergriffen werden können, um eine Präventionsleistung zu erzielen. Dabei wird auch auf begegnungspädagogische Ansätze verwiesen, die eine Begegnung zwischen jüdischen und nichtjüdischen Jugendlichen schaffen (Kümper & Harms, 2010; Radvan, 2010, S. 180 f.; Scherr & Schäuble, 2006, S. 59; Zentralrat der Juden in Deutschland & Kultusministerkonferenz, 2016, S. 4). Vor allem Begegnungen, die über eine längere Zeit andauern, können Potentiale bergen (Pettigrew & Tropp, 2008). Als ein passendes Setting könnte sich hierbei der deutsch-israelische Jugendaustausch erweisen, in dessen Rahmen Jugendliche mit und ohne jüdische Herkunft einander begegnen und sich austauschen. Diesem Austausch schreiben insbesondere dessen Initiator*innen eine hohe Wirkung gegenüber Antisemitismus und anti-israelischen Ressentiments zu (Cares, 2018, S. 26; Deutsche Sportjugend, 2017; Mähler, 2015, S. 13, 2021; Sailer & Schulz, 2012, S. 9 f.; Schwart, 2012, S. 22).

2.2.4.2 Außercurriculare Beschäftigung mit dem Themenfeld Nahost

Zwei weitere Dimensionen, die im Rahmen der Arbeit betrachtet werden sollen, stellen der Wille zur politischen Partizipation und das politische Interesse dar. Beide werden in den Kontext des Nahostkonflikts gesetzt, da beide Prozesse als bedeutende Elemente zur eigenständigen Auseinandersetzung – über den Austausch hinaus – mit der Lage im Nahen Osten betrachtet werden. Im Folgenden sollen beide Dimensionen beschrieben und in ihrer politikdidaktischen Relevanz erläutert werden, wobei auf eine vertiefte Darstellung aufgrund ihrer randständigen Bedeutung im gesamten Forschungsvorhaben verzichtet wird.

Als zentraler Bestandteil des Kompetenzmodells der politischen Bildung (GPJE, 2004) ist die aktive Partizipation ein wichtiger Prozess, der Schüler*innen und Jugendliche zur aktiven Teilnahme an der Demokratie ermächtigt (siehe Abb. 2.2). Die GPJE beschreibt politische Handlungsfähigkeit als eine praktische Fähigkeit, die erforderlich ist für

„die Teilnahme an der politischen Öffentlichkeit sowie für eine aktive, selbstbewusste Teilnahme am Wirtschaftsleben und für sicheres Auftreten in unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen“ (GPJE, 2004, S. 17).

Für die Auseinandersetzung mit dem Nahostkonflikt, die unterschiedliche Kontroversen und Perspektiven einschließt, wären dabei die folgenden Fähigkeiten essentiell, die die GPJE als Bestandteile der politischen Handlungsfähigkeit ansieht:

  • eigene politische Meinungen und Urteile – auch aus einer Minderheitenposition heraus – sachlich und überzeugend vertreten;

  • in politischen Kontroversen konfliktfähig sein, aber auch Kompromisse schließen können;

  • sich im Sinne von Perspektivenwechseln in die Situation, Interessen und Denkweisen anderer Menschen versetzen (GPJE, 2004, S. 17)

Hier zeigt sich die enge Verknüpfung der politischen Handlungsfähigkeit mit der Urteilsbildung und der Fähigkeit zur Perspektivübernahme und damit eine Überschneidung mir den anderen bereits theoretisch hergeleiteten Konzepten (siehe Abschnitt 2.2.2).

Menschliches Handeln wird als ein organisiertes Verhalten und Erleben verstanden und umfasst das koordinierte Einsetzen von „Wahrnehmungen, Gedanken, Emotionen, Fertigkeiten, Aktivitäten“ (Heckhausen & Heckhausen, 2010, S. 2) zum Zweck einer Zielerreichung oder des Rückzugs von nicht lohnenden und/oder unerreichbaren Zielen (ebd.). Das politische Handeln steht dagegen immer im Zusammenhang mit einem politischen Ziel und findet stets in einem Bezugssystem einer politischen Ordnung statt (Detjen et al., 2012, S. 65). Demnach dient die politische Handlung dazu, das politische System zu beeinflussen oder an diesem mitzuwirken (Gabriel, 2013, S. 383). Politisches Handeln wird im Modell der Politikkompetenz analytisch in die Bereiche des kommunikativen politische Handelns und des partizipativen politischen Handelns unterteilt (Detjen et al., 2012, S. 65; Weißeno & Landwehr, 2018, S. 178). Unter dem kommunikativen politische Handeln werden insbesondere das Führen von Gesprächen und Diskussionen über Politik im sozialen Umfeld sowie die Nutzung der politischen Berichterstattung und der Massenmedien zum Ziel des Erwerbs von Wissen und des Austauschs über politische Sachverhalte mit dem eigenen sozialen Umfeld verstanden (Detjen et al., 2012, S. 65). Das partizipative politische Handeln befähigt das Individuum zur konkreten politischen Aktion und meint das freiwillige Teilnehmen an Abstimmungsprozessen (Wahlen, partei-, gemeinde-, wahlkampfbezogene Prozesse), schließt aber auch alle Ebenen des Protests ein und kann „bis hin zur politischen Gewalt reichen“ (ebd.). Das Ziel des partizipativen politischen Handelns ist dabei die Beeinflussung des politischen Systems (ebd.).

Lothar Harles und Dirk Lange beschreiben, dass die demokratische Gesellschaft auf politisch handlungsfähige Bürger*innen angewiesen ist und der politischen Bildung damit insbesondere die Aufgabe der Begleitung bei der Qualifizierung der Bürger*innen zu engagierten und partizipierenden Gesellschaftsmitgliedern zukommt:

„Das Eintreten für demokratische Werte, die Bereitschaft, zu umstrittenen Fragen selbst Stellung zu beziehen, und die Übernahme von gesellschaftspolitischer Verantwortung sind nicht naturgegeben. Jede Generation politisiert sich aufs Neue. Politische Bildung begleitet diesen Prozess und qualifiziert zur politischen Partizipation in Staat und Zivilgesellschaft“ (Harles & Lange, 2015, S. 7).

Partizipation erfüllt in einer demokratischen Gesellschaft die Funktion, dass die Bürger*innen ihr Recht auf kollektive Selbstregulierung einfordern und wahrnehmen (Wohnig, 2018, S. 191). Gleichzeitig stellt Partizipation eine bedeutende Ressource dar, indem sie eine Quelle von Wissen bietet, Kosten mindert und den Herrschenden Verantwortung abnimmt und somit Legitimität und Effizienz des demokratischen Systems steigert (ebd.). Partizipation ist in der schulischen und außerschulischen politischen Bildung anerkannt und wird aktiv gefordert und gefördert (Wohnig, 2018, S. 191), weshalb auch Projekte und Angebote, die in der außerschulischen politischen Jugendbildung verortet sind, vermehrt den Anspruch verfolgen, partizipationsfördernd zu wirken (Bischoff et al., 2016, S. 55 f.). Die politikdidaktische Auseinandersetzungen mit Partizipation verweist zudem darauf, dass politische Partizipation sowie der Wille zur politischen Partizipation durch bestimmte Determinanten, wie das Interesse und die kognitive Involvierung, sowie durch das Wissen über einen Problemgegenstand beeinflusst werden (Gabriel, 2013, S. 395; Reichert, 2018, S. 24; Reinhardt, 2019; Weißeno & Landwehr, 2018, S. 185).

Politisches Interesse wird jedoch zu den stärksten Prädiktoren politischer Partizipation gezählt (Gaiser et al., 2016, S. 15; Maurissen, 2020, S. 4; Reichert, 2018, S. 4). Van Deth definiert politisches Interesse als „das Ausmaß, in dem die Politik die Neugierde eines Bürgers weckt“ (van Deth, 1990, S. 278, eigene Übersetzung). Politisches Interesse meint damit die Aufmerksamkeit gegenüber politischen Belangen und die Bereitschaft, der Politik Aufmerksamkeit zu schenken (Gaiser et al., 2016, S. 15; Levy & Akiva, 2019, S. 3). Obwohl politisches Interesse als vorrangig kognitiver Aspekt politischer Involviertheit verstanden wird (Gaiser et al., 2016, S. 15), umfasst es auch emotionale Aspekte (Hidi et al., 2004). James betont diesen Zusammenhang, indem er das Interesse im Wirkspiel von Emotion, Aufmerksamkeit und Handlung beschreibt:

„Our interest in things means the attention and emotion which the thought of them will excite, and the actions which their presence will evoke“ (James, 1950, S. 320).

Ein*e politisch interessierte*r Bürger*in zu sein, heißt nicht automatisch, dass sich dieses Interesse in der Tat umsetzen muss. Die politische Empfänglichkeit ist damit noch nicht gleichbedeutend mit der politischen Handlungsmotivation (Maurissen, 2020, S. 4). Jedoch konnten zahlreiche Studien die positive Wirkung des politischen Interesses als Prädiktor für gesellschaftliche Beteiligung nachweisen. So zeigte die Datenauswertung von Andreas Hadjar und Rolf Becker im Jahr 2006Footnote 44, dass politische Partizipation zu 28 % von politischem Interesse positiv beeinflusst wird (Hadjar & Becker, 2006, S. 198). Zu ähnlichen Ergebnissen des starken positiven Einflusses des politischen Interesses auf die Partizipation kamen auch neuere (internationale) Studien mit einer aktualisierten Datenlage (Dahl et al., 2018; Levy & Akiva, 2019; Maurissen, 2020, S. 9 f.; Reichert, 2018, S. 13 f.; Wang, 2007, S. 391).

2.3 Zusammenfassung und Synthese: Relevanz politischer Bildungsprozesse zur komplexen Wahrnehmung des Nahostkonflikts und Potentiale zur Initiierung dieser durch den deutsch-israelischen Jugendaustausch

Eine Annährung an den komplexen Gegenstand des Nahostkonflikts erfordert eine multidimensionale Anvisierung mehrerer grundlegender politischer Bildungsprozesse, die jeweils einen Beitrag zu einer komplexen, vielschichtigen und mehrperspektivischen Wahrnehmung dieses Konflikts leisten können.

Aus der vorliegenden theoretischen Rahmung scheinen insbesondere die Erweiterung und etwaige Revision vorhandener Vorannahmen über den Nahostkonflikt und die Fähigkeit der Perspektivübernahme von Bedeutung, da davon auszugehen ist, dass die Jugendlichen bereits vor der Austauscherfahrung in Israel über eigene Vorstellungen und Perspektiven in Bezug auf den Nahostkonflikt verfügen (Heil, 2011; Niehoff, 2016b; Sailer & Schulz, 2012). So bestätigen Studien, die sich mit dem deutsch-israelischen Jugendaustausch auseinandersetzten, dass Jugendliche bereits vor dem Jugendaustausch eine konzeptuelle Vorstellung zum Nahostkonflikt besitzen (Heil, 2011; Sailer & Schulz, 2012), die ein grobes Vorhandensein von Konzepten in Bezug auf die grundlegenden Fachbegriffe und die historischen und aktuell-politischen Kontroversen im Konflikt einschließt. Durch die Teilnahme am deutsch-israelischen Jugendaustausch und die damit einhergehende Konfrontation mit neuer Information in Bezug auf den Nahostkonflikt könnte im Sinne des Conceptual-Change-Ansatzes (Piaget, 1963; Posner et al., 1982; Vosniadou, 1994) die Änderung, Umstrukturierung und Erneuerung vorhandener Schemata angestoßen werden. Die Erweiterungs- und Erneuerungsprozesse werden dabei von der Interaktion mit der Umwelt (z. B. von Gesprächen und Interaktionen mit gleichaltrigen Israelis, Araber*innen und Palästinenser*innen) initiiert (D. Lange, 2007, S. 211). Diese Erfahrungen lösen fortwährend Divergenzen aus, die das politische Lernen stimulieren (ebd.). Posner et al. (1982, S. 224) beschreiben diese Divergenzen als cognitive conflict – als einen Antagonismus zwischen dem bereits vorhandenen Konzept und der neuen Erfahrung, die die Jugendlichen machen (bspw. die Erfahrung der Jugendlichen, dass der Nahostkonflikt von unterschiedlichen Gesprächspartner*innen auf unterschiedliche Weise charakterisiert wird). Dabei vollzieht sich der Conceptual Change entweder über die Anreicherung und Erweiterung bereits bestehender Konzepte, sofern ein Konzept als anschlussfähig, aber erweiterungsbedürftig erscheint, oder über die (graduelle) Revision der eignen Überzeugungen und Vorannahmen, wenn das vorhandene Konzept in der Übertragbarkeit scheitert (Gropengießer & Marohn, 2018, S. 57; Vosniadou, 1994, S. 46; Vosniadou et al., 2008, S. 18). Dem deutsch-israelischen Jugendaustausch kann hier insbesondere im Hinblick auf das Lernsetting Potential zugesprochen werden, da die Forschung davon ausgeht, dass ein Conceptual Change insbesondere durch Settings begünstigt wird, die die Konfrontation mit Standpunkten von anderen einschließen und alltagsnah und erlebnispädagogisch initiiert werden (Chan, 2001; Schnittka & Bell, 2011; Vosniadou et al., 2001). Dies lässt insbesondere die Anlage des deutsch-israelischen Austauschs fruchtbar erscheinen.

Gleichzeitig sind alle Bemühungen zur Vermittlung einer komplexen Sicht auf den Nahostkonflikt mit dem Problem konfrontiert, dass dieser Konflikt nahezu idealtypisch durch zwei Narrative geprägt ist, die sich über die Sympathien mit den Konfliktparteien formieren und eine Dualität zweier Perspektiven aufweisen (Johannsen, 2011, S. 93 f.; Niehoff, 2016b; Richter, 2016, S. 43). Diese Perspektiven, die sich zum Teil diametral gegenüberstehen, führen nicht zuletzt zu vorschnellen Opfer-Täter*innen-Konstruktionen und vereinfachten Schlussfolgerungen bei der Frage nach Lösungsmöglichkeiten, die auch bei Jugendlichen greifen (Däuble, 2008, S. 22; Niehoff, 2016). Eine Fähigkeit, der die Politikdidaktik das Potential für die kognitive Öffnung für die Standpunkte anderer zuschreibt und damit die Funktion der Schlüsselkompetenz für politische Urteile, die nicht nur die eigene Perspektive, sondern auch die Perspektiven anderer einschließen, ist die Perspektivübernahme (Detjen, 2010, S. 131; GPJE, 2004, S. 13; Reinhardt, 2018, S. 22).

Die Fähigkeit der Perspektivübernahme, also die Fähigkeit, die Sichtweisen anderer zu erkennen und sich in diese hineinzuversetzen (Davis, 1996, S. 713; Galinsky et al., 2008, S. 378; Kavanagh et al., 2019, S. 1), ist demnach zentral, um den Ausbruch aus der dualistischen Sicht zu begünstigen und die Komplexität des Konfliktes zu begreifen. So verweisen Studien auf die positive Wirkung der Fähigkeit der Perspektivübernahme in Intergruppenkontexten, so erhöhen sich mit der Zunahme der Fähigkeit zur Perspektivübernahme die Bereitschaft der empathischen Anteilnahme und die Wahrscheinlichkeit zur Hilfestellung gegenüber anderen (Myers et al., 2014, S. 233). Gleichzeitig hat die Fähigkeit einen positiven Einfluss auf die Reduktion feindseligen Verhaltens und stereotyper Wahrnehmung sowie auf die Ausprägung einer differenzierten Sicht gegenüber anderen Gruppen (Aberson & Haag, 2007; Davis, 2004, S. 32 f.; Galinsky & Moskowitz, 2000; Hall et al., 2021; Todd et al., 2012).

In der Politikdidaktik wird betont, dass das Ziel der politischen Bildung darin besteht, Schüler*innen und Jugendliche zur Überprüfung und Revision der eigenen Urteilsgrundlage und damit der eigenen Perspektive zu befähigen (Ackermann et al., 2015, S. 68 f.). Diese Fähigkeit wird als die Grundfähigkeit zur tiefgreifenden Auseinandersetzung mit gesellschaftlich kontroversen politischen Gegenständen verstanden (Reinhardt, 2004; Sander et al., 2017, S. 155). Auch für die Förderung der Perspektivübernahme lassen sich aus der Theorie Potentiale des deutsch-israelischen Jugendaustauschs ableiten, die ähnlich zum Conceptual Change insbesondere in der Konfrontation mit Standpunkten anderer und der Irritation, die diese bei den Jugendlichen hervorrufen, verankert sind und eine Reflexion der eigenen Einstellungs- und Handlungsmuster auslösen können (Heinrich, 2017, S. 265; May, 2011, S. 128). Laut der Theorie des transformativen Lernens nach Mezirow (Mezirow, 1997a, 1997b, 2000, 2003, 2006) können vor allem Erfahrungen, die neu, unerwartet und anders als erwartet sind, Transformationsprozesse anstoßen, die das Potential zur Perspektiventransformation bergen. Damit meint Mezirow insbesondere eine tiefgreifende Überarbeitung der vorherigen Vorstellung und nicht die bloße Korrektur einer Überzeugung (Buck, 2019; Mezirow, 1997b; Wiesner & Prieler, 2020). Zum Ausgangspunkt von Transformationsprozessen nimmt Mezirow (2000, S. 22) das Diskrepanzerlebnis, das einen Menschen die eigenen Annahmen genauer inspizieren lässt und einen Wandel begünstigt. Da Reisen und Auslandsaufhalte von Jugendlichen naturgemäß zu Erfahrungen führen, die unvergesslich und persönlich sind und das Potential für transformative Prozesse sowie für Diskrepanzwahrnehmungen aufweisen (Cavender et al., 2020; Roberson, 2018; Roberson & Merriam, 2005; Thomas et al., 2007), wird hier ebenfalls eine positive Wirkung des deutsch-israelischen Jugendaustauschs vermutet.

Ferner sollen in der vorliegenden Studie auch die Emotionen betrachtet werden, die die Jugendlichen gegenüber den Konfliktparteien empfinden. Trotz der bisher weitgehend überschaubaren Auseinandersetzung der politischen Bildung mit Emotionen als Teil von Bildungsprozessen zeichnet sich aus den bisherigen theoretischen und empirischen Auseinandersetzungen der Bezugswissenschaften ab, dass Emotionen eine Schlüsselfunktion für zentrale Begriffe der politischen Bildung zukommt. So sind in den Prozessen der Betroffenheit, der Motivation, des Interesses (Weber, 2016, S. 180) und der politischen Handlung(smotivation) sowie der politischen Urteilsfähigkeit, aber auch in der Interaktion zwischen Individuen affektive Prozesse unumgänglich (Crawford, 2014, S. 537; Reinke de Buitrago, 2019, S. 248; Schröder, 2020; von Scheve, 2011, S. 208). Insbesondere beim Gegenstand Nahostkonflikt, dessen Wahrnehmung auch in Deutschland stark über Emotionen moderiert wird (Hagemann, 2016), ist es notwendig, die affektive Ebene der Wahrnehmung in die Betrachtung einzuschließen. Daher wird in der vorliegenden Studie der Einfluss des deutsch-israelischen Jugendaustauschs auf die affektive Wahrnehmung der Jugendlichen in der Betrachtung berücksichtigt. Für die politischen Informations- und Wahrnehmungsprozesse sowie für die Einstellungsbildung und das intersubjektive und politische Verhalten von Individuen scheinen insbesondere die Emotionen Empathie, Angst und Ärger als relevante Erklärgrößen zu fungieren. So öffnet die Empathie die eigene Position für die Wahrnehmung anderer, senkt Vorurteile gegenüber Fremdgruppen und schwächt unterschiedliche Formen des aggressiven Verhaltens gegenüber der Fremdgruppe ab (siehe u. a. bei Brader & Marcus, 2013; Kloß, 2020; Zych et al., 2019). Ärger und Angst scheinen einen positiven Einfluss auf die politische Informationssuche und Informationsverarbeitung zu haben (Nabi, 2002, S. 213; Schoen, 2006; Valentino et al., 2008). Beide Emotionen hemmen jedoch die Bereitschaft, in Intergruppenkontexten nach Gemeinsamkeiten und Konfliktlösungen zu suchen (Halperin, 2011). Angst führt in Intergruppenkontexten stärker zur Ablehnung der Fremdgruppe, hat einen negativen Einfluss auf die Risikobereitschaft in Konfliktsituationen und verleitet das Individuum dazu, nach kurzfristigen temporären statt nach nachhaltigen und stabilen politischen Lösungen zu streben und Kompromisse abzulehnen (Halperin, 2011; Halperin et al., 2008; Schoen, 2006).

Hier lassen sich aus kontakthypothetischen Auseinandersetzungen (Allport, 1954, 1971) aus der Vorurteilsforschung Potentiale des deutsch-israelischen Jugendaustauschs ableiten. So ist anzunehmen, dass durch den Kontakt zwischen den deutschen und den israelischen Jugendlichen negative Emotionen abgebaut und positive Emotionen zwischen den beiden Gruppen initiiert werden (Hodson, 2011; Pettigrew, 1998; Pettigrew & Tropp, 2008, 2011; Swart et al., 2011; Thomas & Abt, 2021). Hierbei ist insbesondere von Vorteil, dass sich Jugendliche in einem hierarchiefreien Raum mit gleichem Status begegnen und gleichzeitig ähnliche Ziele verfolgen, etwa den Austausch miteinander oder den Austausch zu konkreten Themen des deutsch-israelischen Austauschs. Gleichzeitig findet der Austausch mit Unterstützung von Autoritäten (Organisator*innen des Austauschs) statt. Darüber hinaus ist anzunehmen, dass die Jugendlichen in der gemeinsamen Zeit vereinende Interessen entdecken. Damit können viele der von Allport (1971, S. 285 f.) aufgestellten und von Pettigrew und Tropp (2006) als begünstigende, aber nicht als essentiell bewertete Bedingungen als erfüllt angesehen werden, womit eine vorteilhafte Prognose für das Vorhaben vorliegt.

Als weitere Dimensionen, mit denen sich die Wirkstudie zum deutsch-israelischen Jugendaustausch unvermeidlich auseinandersetzen muss, sind die Dimensionen der israelbezogenen antisemitischen Ressentiments und der außercurricularen Auseinandersetzung mit dem Themenfeld Nahost.

So zeigt sich in der Facette des israelbezogenen Antisemitismus als einer Facette, die sich erst nach der Shoah entwickelt hat, aktuell gesamtgesellschaftlich ein hoher Zuspruch (Decker et al., 2020; Kiess et al., 2022; Zick et al., 2016). Auch unter Jugendlichen erfährt diese Form des Antisemitismus den meisten Zuspruch (AJC, 2017; Chernivsky & Lorenz, 2020; Mansel & Spaiser, 2013; Scherr & Schäuble, 2006; Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus, 2017, S. 68). Damit erhält der Nahostkonflikt die Rolle des Katalysators für israelbezogene antisemitische Ressentiments, denen möglichst präventiv und intervenierend entgegengewirkt werden sollte. In bisherigen Auseinandersetzungen mit Maßnahmen, die eine Präventions- und Interventionsleistung im Hinblick auf israelbezogene antisemitische Ressentiments bei Jugendlichen erzielen, wird insbesondere begegnungspädagogischen Ansätzen, die Begegnungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Jugendlichen initiieren, eine hohe Bedeutung beigemessen (Kümper & Harms, 2010; Radvan, 2010, S. 180 f.; Scherr & Schäuble, 2006, S. 59; Zentralrat der Juden in Deutschland & Kultusministerkonferenz, 2016, S. 4). Auch hier zeigt sich ein starkes mögliches Wirkpotential des Jugendaustauschs.

Darüber hinaus stellt sich die Frage, welchen bleibenden Einfluss der deutsch-israelische Jugendaustausch nach seinem Abschluss auf die Freizeitgestaltung der Jugendlichen hat. Hierbei ist die aktive politische Partizipation zu betrachten, die als politische Handlungsfähigkeit als relevanter Bestandteil des Kompetenzmodells der politischen Bildung (GPJE, 2004) integriert wird. Es zeigt sich eine starke Überschneidung der politischen Handlungsfähigkeit mit anderen zentralen Kompetenzen dieser Studie, wie der Urteils- und Meinungsbildung, der Fähigkeit zur Perspektivübernahme sowie den Emotionen, die je nach Ausprägung die Bereitschaft zur politischen Handlung und Partizipation erhöhen oder hemmen können (Brader, 2005, S. 394 ff.; GPJE, 2004, S. 17; Nabi, 2002, S. 213; Valentino et al., 2008). Als bedeutender positiver Einflussfaktor der politischen Partizipation wird darüber hinaus das politische Interesse in den Fokus der Arbeit gerückt (Hadjar & Becker, 2006; Levy & Akiva, 2019; Maurissen, 2020, S. 9 f.; Reichert, 2018, S. 13 f.).