KZ-Aufseherin gab sich als Nazi-Opfer aus: Jetzt wurde sie enttarnt

KZ-Aufseherin gab sich als Nazi-Opfer aus: Jetzt wurde sie enttarnt

Irmgard Kroymann bekam dreimal das Bundesverdienstkreuz und gab sich als antifaschistische Widerstandskämpferin aus. Nun ist ihre Lügengeschichte aufgeflogen.

Der damalige Bundespräsident Johannes Rau überreicht Irmgard Kroymann im Jahr 1993 das Bundesverdienstkreuz.
Der damalige Bundespräsident Johannes Rau überreicht Irmgard Kroymann im Jahr 1993 das Bundesverdienstkreuz.Landesarchiv NRW

Als Anne Prior das erste Mal Irmgard Kroymanns Namen las, glaubte sie, eine antifaschistische Widerstandskämpferin entdeckt zu haben, eine deutsche Heldin. Es war 2016. Prior, 67 Jahre alt, von Beruf, Buchhändlerin, in der Freizeit Hobbyhistorikerin, suchte im Archiv nach Frauen aus ihrer Region, die von den Nazis verfolgt worden waren und sich nach dem Krieg für den Wiederaufbau ihres Landes engagiert hatten. Zwei Frauen hatte sie bereits gefunden. Eine Kommunistin und eine Katholikin. Irmgard Kroymann, dachte sie, könnte die dritte sein.

Der Artikel aus der Rheinischen Post, in dem ihr Name auftauchte, war aus dem Jahr 1956 und beschrieb Kroymann als führende Gewerkschafterin und engagierte Bürgerin. Als auf dem Dinslakener Friedhof jüdische Grabsteine geschändet worden waren, hatte sie 50 Jugendliche zusammengetrommelt. „Sie folgten begeistert dem Ruf ihrer Leiterin, Fräulein Kroymann, den von Bubenhand zerstörten israelitischen Totenacker wieder herzurichten“, stand in der Zeitung.

In anderen Artikeln fand Anne Prior weitere beeindruckende Berichte über Kroymann. Sie war selbst NS-Verfolgte, stand da, wurde von der Gestapo festgenommen, im Konzentrationslager eingesperrt, nach dem Krieg trat sie der SPD bei und der Gartenbau-Gewerkschaft, wurde ehrenamtliche Richterin, Mitglied des Deutschen Frauenrats, Vorstand der Verbraucherzentrale von Nordrhein-Westfalen und Landesfrauensekretärin des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Sie war dafür bekannt, sich für die Rechte von Frauen und benachteiligten Gruppen einzusetzen. Für ihre Verdienste bekam sie höchste Orden: Bundesverdienstkreuz, Bundesverdienstkreuz Erster Klasse, Großes Bundesverdienstkreuz, Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen.

Anne Prior beschloss, das Leben dieser bemerkenswerten Frau genauer zu erforschen. Sie kennt sich aus mit Archivforschung, die Buchhändlerin beschäftigt sich seit 30 Jahren mit NS-Geschichte in ihrer Heimat Nordrhein-Westfalen. Anfang der 90er-Jahre habe sie damit angefangen, sagt sie, nach den Anschlägen auf Ausländerwohnheime in Solingen und Rostock-Lichtenhagen. „Ich sah die Bilder im Fernsehen und fragte mich: Wie war das damals 1938 hier bei uns?“

Prior wurde ehrenamtliche Heimatforscherin, wie es sie in vielen deutschen Städten gibt, aber statt sich mit Ausgrabungen aus dem Mittelalter zu beschäftigen, erforschte sie die 30er- und 40er-Jahre des 20. Jahrhunderts, recherchierte, wie Juden, Kommunisten und psychisch Kranke hier verfolgt und ermordet wurden, brachte ans Tageslicht, wie im November 1938 das jüdische Waisenheim in Dinslaken angezündet wurde und Bürger der Stadt dabei zuschauten oder mitmachten. Anne Prior war die Erste, die Namen der Täter und Kollaborateure nannte, die bis dahin verschwiegen worden waren: Der Bürgermeister „Dr. J.“ wurde Dr. Jahnke, aus dem Schutzpolizisten, der beim Brand des jüdischen Waisenhauses gerufen hatte, „Die Juden bekommen von uns keinen Schutz“, Dietrich Freikamp.

Ihre Erkenntnisse schrieb sie in Aufsätze und Bücher, sie gründete den Stolperstein-Verein in Dinslaken, den Arbeitskreis „NS-Patientenmord“ und initiierte eine Ausstellung zum Kindertransport nach Belgien. Anne Prior trägt ihre Haare kurz, ihre Stimme klingt am Telefon klar und entschieden. Wenn sie sich über etwas ärgert, sagt sie: „Das ist alles gelogen“, wenn sie eine Frage nicht beantworten kann: „Dazu habe ich nichts gefunden.“

„Chronologische und faktische Widersprüche“

Zu Irmgard Kroymann, der NS-Verfolgten, fand sie einiges. Allerdings nicht das, was sie erwartet hatte. Es habe Ungereimtheiten gegeben, sagt Anne Prior, ihr seien schnell „chronologische und faktische Widersprüche“ aufgefallen.

Je tiefer Prior in die Archive stieg, je mehr Akten sie fand, desto größer wurden die Widersprüche in Kroymanns Biografie. „Es war wie ein Puzzle“, sagt sie, „man trägt Stein für Stein zusammen, und am Ende weiß man nicht, was rauskommt.“ Heute weiß sie: Es gibt zwei Versionen der Geschichte. Und nur eine handelt von einer Heldin.

Die Version, die Kroymann Historikerinnen und Journalistinnen gerne erzählte, klingt ungefähr so: Sie, die Tochter eines Sozialdemokraten, weigerte sich „aus politischen Gründen“, in einem Leipziger Munitionsbetrieb Zwangsarbeiterinnen zu beaufsichtigen, willigte nur ein, um ihren haftgeschwächten Vater nicht zu gefährden, kämpfte weiter mutig gegen die Nazis, verteilte Flugblätter für die Befreiung der Geschwister Scholl, wurde wegen staatsfeindlicher Äußerungen aus der Fabrik entlassen, floh vor der Gestapo, wurde gefasst, kam als Häftling erst ins KZ Groß-Rosen, „in Dunkelhaft“, dann nach Christianstadt ins jüdische Frauenlager, wo sie gegen ihren Willen als Lagerleiterin eingesetzt wurde. Bevor sie am 3. Januar 1945 entlassen wurde, wurde ihr noch der Kopf kahl geschoren. „Damit jeder sieht, wo du herkommst. Heil Hitler!“

Schulung für KZ-Aufseherinnen

In den Akten stand es in etwa so: Kroymanns Vater war nicht haftgeschwächt, sondern beaufsichtigte Zwangsarbeiter in einer Leipziger Munitionsfabrik. Auch Kroymann arbeitete dort, als „Unterlagerführerin“, wurde aber nach 23 Tagen gekündigt, weil sie Lebensmittel und Unterwäsche gestohlen hatte, die für die Zwangsarbeiterinnen vorgesehen waren. Um Arbeit zu suchen, fuhr sie nach Schlesien, wo ihr Onkel arbeitete, meldete sich dort regulär an, absolvierte eine Schulung für KZ-Aufseherinnen in Groß-Rosen und wurde dann in Christianstadt eingesetzt, aber auch hier bald wieder gekündigt. Vermutlich, weil ihre Vorgesetzten von dem Diebstahl in Leipzig erfahren hatten. Oder sie verschwand einfach, weil sie ahnte, dass der Krieg bald vorbei sein würde, und es besser wäre, sich im Westen abzusetzen.

Auf jeden Fall, sagt Anne Prior, könne ausgeschlossen werden, dass Kroymann als Häftling im KZ gesessen habe und von der Gestapo verfolgt worden sei. Für die Buchhändlerin steht fest: Die hochgeehrte Gewerkschafterin war kein Opfer und keine Widerstandskämpferin, sondern eine Lügnerin. Sie hat sich ihre Lebenslegende „antifaschistisch“ zurechtgebogen, weil es besser in die neue Zeit passte und wohl auch zu der Rolle, in der sie sich selbst gerne sah. Es ist ein bekanntes Phänomen von Diktaturen: Es gibt Millionen Täter und Mitläufer, aber hinterher wollen alle immer nur Opfer gewesen sein.

Bei ihren Archivrecherchen über die NS-Zeit sei sie oft auf biografische Angaben gestoßen, „die so nicht stimmen konnten“, sagt Anne Prior, aber bei Kroymann seien es sehr viele Unstimmigkeiten gewesen, die Gewerkschafterin habe sich in ihren Erzählungen auch selbst widersprochen.

Prior kann es noch immer nicht fassen, „dass alle ihre Geschichte geglaubt haben, dass niemand misstrauisch wurde“. Besonders empört sie, dass die KZ-Aufseherin sich mit jüdischen Frauen gleichsetzte, mit welchen Details sie ihre Lügengeschichten ausschmückte, dass sie sogar einen Antrag auf Entschädigung beim Wiedergutmachungsamt stellte. Der Antrag wurde abgelehnt, Kroymann hatte Fristen versäumt und die Einverständniserklärung, mit der das Amt weitere Auskünfte einholen wollte, nicht unterschrieben.

Anne Prior ist Buchhändlerin und beschäftigt sich seit 30 Jahren mit NS-Geschichte in ihrer Heimat Nordrhein-Westfalen.
Anne Prior ist Buchhändlerin und beschäftigt sich seit 30 Jahren mit NS-Geschichte in ihrer Heimat Nordrhein-Westfalen.Privat

Prior schrieb auf, was sie über Kroymann herausgefunden hatte, und bot ihren Artikel einem historischen Journal der Ruhr-Universität Bochum an. Sie bekam eine Ablehnung, der Text genüge nicht den wissenschaftlichen Standards, hieß es. Prior war enttäuscht, aber nicht überrascht. Sie sei mit diesen Themen oft auf Ablehnung gestoßen, sagt sie und erzählt, wie ihre Großmutter, als sie 13 war, zu ihr sagte: „Das ist jetzt vorbei, darüber wird nicht mehr gesprochen.“ Wie im Geschichtsunterricht ihrer Schule der Nationalsozialismus nur am Rande vorkam. Wie sie „das alles“ erst 1976, als der Majdanek-Prozess vor dem Landgericht Düsseldorf stattfand, erfuhr und ihr zum ersten Mal bewusst wurde, „wie viele Täter noch in Deutschland leben“. Wie sie als Buchhändlerin ihren Kunden immer wieder Bücher über die NS-Zeit empfahl und immer wieder den gleichen Satz zu hören bekam: Es sei jetzt aber mal langsam genug.

Die Buchhändlerin forscht gegen die Leere an, gegen das Vergessen, will immer noch verstehen, wie es geschah. „In diesen Abgrund zu schauen, kostet Kraft“, sagt sie. Es gibt nicht viele, die diese Kraft haben, immer weiterforschen, immer wieder die Frage stellen: Wie konnte es passieren? Und: Was hat das heute noch mit uns zu tun?

Ein Anruf von Götz Aly

Der Berliner Historiker Götz Aly gehört zu diesen Menschen. Seit Jahrzehnten forscht er zu Euthanasie, Holocaust, Antisemitismus. Sein neues Buch heißt „Unser Nationalsozialismus“ und setzt sich mit diesen Fragen auseinander: Warum folgten so viele durchaus normale, moralisch gefestigt erscheinende Deutsche 1932 bis 1945 dem politischen Programm des nationalen Sozialismus? Alle Texte und Aufsätze in Alys neuem Buch sind von ihm selbst, bis auf einen. Er trägt den Titel: „Eine Lagerwärterin mimt das KZ-Opfer“. Er ist von Anne Prior.

Sie lacht stolz, als sie darüber erzählt. Ihr Telefon habe geklingelt, Götz Aly sei dran gewesen, habe gefragt, ob der Text über die Gewerkschafterin schon veröffentlicht sei. Aly sagt, er habe Priors Aufsatz vor sechs Jahren in einem anonymen Verfahren begutachtet und dazu geschrieben: „Mich hat die Arbeit stark beeindruckt.“ Er empfahl die Veröffentlichung und Überarbeitung des Textes, ohne Erfolg. Anhand einer Fußnote erkannte er später, wer den Aufsatz geschrieben hatte, eine Frau, von der er noch nie gehört hatte. Er fand ihre Nummer im Internet, rief an, und als er hörte, ihr Text sei immer noch nicht veröffentlicht worden, entschied er, ihn selbst zu veröffentlichen.

Da steht sie nun, die Enttarnung der Irmgard Kroymann, zwischen einer Holocaust-Gedenkrede, in der Götz Aly den Abgeordneten des Thüringer Landtags vom Feldwebel Werner Viehweg aus sozialdemokratischem Elternhaus berichtete, der im Zweiten Weltkrieg an Massenmorden in der Ukraine beteiligt war, und einem Artikel über Alys homosexuellen Onkel Otto Schellhass, der nicht von der Wehrmacht einberufen wurde, weil diese ihn „schlicht zu schwul“ fand.

Aus der Kroymann-Geschichte, sagt Aly, könne man lernen, wie „gläubige Bewunderung“ Menschen dazu verleite, die Augen zu verschließen vor offensichtlichen Widersprüchen. Er lobt Anne Prior für ihre „ausgezeichnete Studie“, mit der sie die in Deutschland „gewiss nicht ganz seltene Selbstverwandlung einer NS-Täterin zum angeblichen NS-Opfer schlüssig belegen konnte“. Nach seiner Schätzung gibt es noch Zehntausende solcher Biografien in Deutschland.

Irmgard Kroymann hat ihre Enttarnung nicht mehr erlebt. Sie ist 2005 in Mülheim an der Ruhr gestorben, als Heldin der deutschen Geschichte und Ikone des antifaschistischen Widerstands. Anne Prior ist inzwischen in Pension, arbeitet aber noch stundenweise als Buchhändlerin und forscht weiter über Opferbiografien, wahre und falsche. Am Dienstag, den 31. Januar, wird sie im Duisburger Staatsarchiv zusammen mit Götz Aly das Buch „Unser Nationalsozialismus“ vorstellen und über Irmgard Kroymanns Enttarnung sprechen.

Am 2. Februar um 20 Uhr spricht Jens Bisky mit Götz Aly in Berlin über dessen neues Buch „Unser Nationalsozialismus. Reden in der deutschen Gegenwart“: Pfefferberg-Theater, Schönhauser Allee 176. Eintritt 14 Euro, Vorbestellung unter: 030 939358555.


Empfehlungen aus dem Ticketshop: