Eine Provokation für das Publikums – nichts anderes fand statt am 12. April 1774 im Berliner Comödienhaus. An diesem Dienstag stand die Uraufführung des Schauspiels „Götz von Berlichingen“ auf dem Spielplan, verfasst von einem jungen Autor aus Frankfurt/Main namens Johann Wolfgang Goethe.
So ein Trauerspiel hatte man im deutschsprachigen Theater noch nicht gesehen. Das Ritter-Drama, das zugleich das Bild einer Gesellschaft im Umbruch zur Neuzeit zeichnet, wurde der erste große Erfolg des 24-jährigen Verfassers. Und nicht nur das: Literaturhistorikern zufolge schaffte Goethe damit den Anschluss deutscher Dichtung an die Weltliteratur.
Die Wirkung des stilbildenden Sturm-und-Drang-Stücks, in welchem Gefühle, Kritik am Feudalismus, Freiheitssehnsucht und auch das Ideal des einfachen Lebens im Mittelpunkt stehen, war epochal. Der „Götz“ inspirierte Friedrich Schillers Drama „Die Räuber“ ebenso wie die Ritterdramen und Historienromane der folgenden Jahrzehnte, bis hin zu Walter Scotts „Ivanhoe“ von 1819, der Goethes Drama 1799 ins Englische übertragen hatte.
Bereits 1771 hatte Goethe die Urfassung in nur wenigen Wochen niedergeschrieben – „ohne weder rückwärts, noch rechts, noch links zu sehn“, wie er in „Dichtung und Wahrheit“ später berichtete. Vermutlich war er in der Bibliothek des Vaters auf die Autobiografie des Raubritters und Abenteurers von Berlichingen (1480-1562) gestoßen, der im Kampf eine Hand verloren hatte. Als Jurastudent erkannte er das dramatische Potenzial der Figur; er gestaltete den Stoff frei, auch indem er Götz stark idealisierte.
Im „Götz von Berlichingen – Mit der Eisernen Hand“ geht es um Freiheit und Gerechtigkeit, Treue und Verrat: Berlichingen wird durch den alten Freund Adalbert von Wieslingen verraten, der sich Götzens Feind anschließt, dem Bischof von Bamberg. In Bamberg will der höfische Adel ein modernes, in Gesetze gegossenes römisches Recht durchsetzen. Für Götz hingegen gelten weiterhin die mittelalterlichen Werte von Treu und Glauben, Faust- und Fehderecht. Er möchte sich nicht unterordnen, was zu blutigen Schlachten und zum Bündnis mit aufständischen Bauern führt.
Mit vielen Schauplätzen und Nebensträngen fiel die Erstfassung des Stücks verwirrend aus, urteilt der Münchner Germanist Dieter Borchmeyer. Nach einer Kritik von Johann Gottfried Herder überarbeitete Goethe sein Stück und veröffentlichte es dann 1773 – zunächst anonym und im Selbstverlag. Der privat organisierte Verkauf lief gut, dass schon ein Jahr später die öffentliche Premiere stattfand.
Neu war, dass Goethe nach dem Vorbild Shakespeares die damals in Stein gemeißelte Regel der Einheit von Ort, Zeit und Handlung im Drama aufgab. Von Zigeunerlager und Bauernhochzeit über Kampfgetümmel und Burgsaal bis zum Hofe reichen die Schauplätze. Das Drama zieht sich über einen Zeitraum von mehreren Monaten. Die Hauptfigur selbst entwickelt sich einigen Interpreten zufolge sogar, was ebenfalls ein Novum wäre: Am Ende sehe Götz, gebrochen, dass er und seine (Ritter-)Zeit sich überlebt hätten.
Der Augsburger Germanist Ulrich Hohoff dagegen kann eher keine Entwicklung Götzens entdecken. „Er steht auf der moralisch richtigen Seite, die anderen auf der falschen“, sagt der Vorsitzende der Augsburger Goethe-Gesellschaft. Wenn überhaupt, entwickle Götz eine „Lagermentalität“, die nur noch Freund oder Feind kenne.
Sprachlich ging Goethe auf jeden Fall neue Wege: Anders als auf der herkömmlichen tragischen Bühne traten „zum ersten Mal Gestalten auf, welche vorgeblich die Sprache ihrer eigenen Zeit reden“, schrieb Borchmeyer. So entstand ein „je nach Stand, Milieu und Schauplatz abgetöntes, zwischen dialektgefärbten, höfisch-affektierten und archaisierenden Redeweisen wechselndes Idiom“.
Dazu gehört auch der Kraftausdruck des Titelhelden: Als ein kaiserlicher Hauptmann dem in seiner Burg festsitzenden Götz ausrichten lässt, dieser möge aufgeben, erklärt Goethes Götz: „Vor Ihro Kaiserliche Majestät hab ich, wie immer, schuldigen Respekt. Er aber, sagt’s ihm, er kann mich im Arsche lecken!“ In späteren Fassungen wurde das Zitat abgeschwächt oder durch drei Punkte ersetzt. Historisch war möglicherweise, wenn überhaupt, die Fassung: „Er solte mich hinden lecken.“
Die „Eiserne Hand“ des Helden, im Stück durch einen Mönch fast als Reliquie verehrt, zeigt allerdings laut Hohoff, wie angreifbar Götz war. Die historisch verbürgte mechanische Handprothese habe in der Realität bedeutet, dass der Ritter sich seiner Feinde nicht mehr mit eigener Kraft wehren konnte. Auch Goethes Götz unterlag letztendlich.
Das Münchner Residenztheater brachte den „Götz“ zuletzt 2023 auf die Bühne, fast bis zur Unkenntlichkeit modernisiert; ansonsten gab es in jüngerer Zeit wenig Aufführungen. Zu unmodern sei der Held, zu kompliziert das Stück, vermutet Ulrich Hohoff. Einzig auf der historischen Götzenburg im württembergischen Jagsthausen finden jeden Sommer Festspiele statt – ein lokales Spektakel, von den heutigen Nachkommen des Ritters unterstützt und vor einmaliger Kulisse.