Vor dem Anstoß wurde es emotional und das WM-Qualifikationsspiel der deutschen Nationalmannschaft gegen Liechtenstein rückte kurz in den Hintergrund. Beide Teams standen schon auf dem Rasen, doch im Mittelpunkt stand ein anderer: Joachim Löw. Der Weltmeister-Trainer von 2014 wurde nach 198 Länderspiel offiziell verabschiedet.
Löw betrat unter dem Applaus der 26.000 Fans im Wolfsburger Stadion den Rasen. Spieler aus seinem Weltmeister-Team standen Spalier und applaudierten Löw. Der 61-Jährige klatschte mit Per Mertesacker, Lukas Podolski, Sami Khedira, Miroslav Klose, Benedikt Höwedes, Mats Hummels und Julian Draxler ab. Der Kapitän der Weltmeisterschaft Philipp Lahm fehlte.
Der interimsmäßige DFB-Präsident Peter Peters überreichte Löw eine gerahmte Urkunde mit der Aufschrift: DFB-Jahrhundert-Trainer. Löw genoss den Augenblick sichtlich und bedankte sich gerührt bei den Fans und Spielern. Nach nur wenigen Minuten und vereinzelten „Jogi-, Jogi-Sprechchören“ war die Zeremonie schon wieder vorbei. So wie Löw es mag, stand jetzt das Spiel im Mittelpunkt.
Es ist das zweite Mal, dass er nach dem EM-Aus am 29. Juni und dem damit verbundenen Aus als Bundestrainer wieder in einem Stadion ist. Erstmals war er am 24. Oktober wieder in eine Arena gegangen. Er sah in Stuttgart das 1:1 des VfB gegen den 1. FC Union.
Nach der offiziellen Verabschiedung in einem würdigen Rahmen verfolgte der 61-Jährige das Spiel von der Tribüne aus. Er konnte es als Privatier unbeschwert genießen. Neben ihm saßen die beiden ehemaligen DFB-Präsidenten Wolfgang Niersbach und Reinhard Grindel. „Nach so einer langen Reise musste ich einiges verarbeiten und Abstand gewinnen. Ich habe schon eine Weile gebraucht und freue mich heute auf das Spiel. Natürlich ist es ein komisches Gefühl nach so langer Zeit an der Seitenlinie jetzt auf der Tribüne zu sitzen“, sagte Löw bei RTL. Die vergangenen Länderspiele unter seinem Nachfolger Hansi Flick habe er natürlich verfolgt: „Hansi ist der beste Trainer, den diese Mannschaft haben kann. Er hat viel Energie in die Mannschaft gebracht, er macht das hervorragend.“
198 Länderspiele als Bundestrainer sind Rekord
In zehn Turniere ist er gegangen, davon in zwei als Co – in acht als Chef. Stets hat Löw wissen lassen, dass er während und davor in einem Tunnel und voller Adrenalin war, auch um den Druck ausblenden zu können. Vor dem Titelgewinn 2014 meinte er – angesprochen auf die Zeit, die nach einem Turnier kommt.
„Du bist plötzlich allein. Vorher hast du acht Wochen in einer Gruppe verbracht, hast dich auf Ziele eingeschworen, alles investiert, und dann fährst du nach Hause und spürst: Alles fällt ab. Und du hast Fragen im Kopf: Wie geht es weiter? Wie findet man seine Motivation wieder? Wo liegen neue Herausforderungen? Das muss man alles auch zu- und an sich heranlassen.“
Nur dieses Mal, als am 29. Juni in London das EM-Aus besiegelt und klar war, dass es das nach 198 Länderspielen für ihn als Bundestrainer gewesen ist, spürte er erstmals eine viel größere Leere als noch in den vielen Jahren zuvor. Für einen Tag ging es noch einmal zurück nach Herzogenaurach ins DFB-Quartier, noch einmal in die Gemeinschaft, noch einmal vor die Medien – aber in dem Wissen: Das war es! Das wird so nie wieder kommen. Kein Zurück, keine neuen Ziele mit dem Team, keine neuen Herausforderungen mit dem Team, keine Treffen, keine Gespräche, keine Planungen. Alles war dieses Mal im Sommer anders, alles fühlte sich für ihn nach 15 Jahren, die er Bundestrainer war, anders an.
Er zog sich zurück, war mit sich allein – und pendelte zwischen Freiburg, Berlin und Sardinien. Er wollte erst für sich sein, dann mit ein paar Freunden. Dieses Mal fühlte es sich anders an, auch in dem Wissen, dieses Mal gibt es keinen Weg zurück zum DFB. Nach Turnieren hatte er sich stets zurückgezogen, mal nur für wenige Zeit, mal auch etwas länger. Nach der WM 2018 etwa, seiner ersten großen Schmach als Bundestrainer, dauerte es fast zwei Monate, bis er wieder auftauchte, Kraft getankt hatte, Energie und Pläne hatte, neue Ziele.
Dieses Mal aber musste er einen Weg für sich finden – unabhängig vom Team. Nur für sich: Was will ich noch, was kann ich noch, was reizt mich noch? Er ist noch mitten in dieser Phase, wirkt aber, so hört man, viel entspannter als noch im Sommer.
Löw wollte bei Flicks Debüt nicht im Mittelpunkt stehen
Er hat etwas gebraucht, um wieder in der Öffentlichkeit aufzutauchen, sich zu zeigen. Als der DFB ihn im September in Stuttgart verabschieden wollte, lehnte er ab – zumal er Hansi Flick, seinem Nachfolger, da auch bei der Premiere als Bundestrainer die Bühne überlassen wollte. Auch im Oktober, als die deutsche Mannschaft in Hamburg gastierte, fühlte er sich noch nicht bereit für die große Bühne. Jetzt in Wolfsburg schon. Neben Löw wurden unter anderem auch Andreas Köpke, der ehemalige Torwarttrainer sowie Urs Siegenthaler, einst Chefscout, verabschiedet.
Noch ist offen, was er in Zukunft macht. Er überlegt noch, denkt nach. Aber er wirkt entspannt, ruht in sich. Sami Khedira, mit dem er 2014 den WM-Titel gewann, sagte gegenüber WELT AM SONNTAG, dass er es für möglich hält, dass Löw künftig als Berater für einen Verein oder einen Verband tätig ist.
Er verglich Löw mit der scheidenden Bundeskanzlerin Angela Merkel: „Schauen Sie mal, was beide Persönlichkeiten für dieses Land geleistet haben. Jogi ist ein Idol, ein Vorbild. Eins kann ich Ihnen sagen: Ich war kürzlich in Stuttgart im Stadion. Jogi war auch da. Ich habe gemerkt, wie beliebt er ist. Die Menschen freuen sich, ihn zu sehen. Jogi hat sehr große Fußstapfen hinterlassen.
Am Ende hatte man das Gefühl, als hätte die Öffentlichkeit den Bundestrainer satt. Die Sehnsucht nach einem neuen Gesicht, einem Neuanfang schien groß. Aber Löw, das bleibt festzuhalten, hat Großes vollbracht. Nach der EM 2008, seinem ersten Turnier als Chef, bei dem er bis ins Finale kam, formte er ein junges Team, das 2010 in Südafrika begeisterte und vier Jahre später den Titel holte.
Spieler, die unter ihm agierten, sprechen noch heute in großen Tönen von und über ihn. Verlässlich und vertrauensvoll sei er stets gewesen. Ein Trainer, der einen Plan hatte und in Phasen, in denen es mal nicht so gut lief, immer schützend die Hand über sie hielt.
Ob es in Zukunft wieder Spieler gibt, die unter ihm trainieren, wollte Löw nicht ausschließen. Auf die Frage, ob eine Rückkehr auf die Trainerbank denkbar sei, sagte er: „Es ist durchaus vollstellbar. Die Lust und die Motivation kommt allmählich zurück.“