Joachim Gauck
deutscher Politiker (parteilos), Bundespräsident a.D. Deutschland / aus Wikipedia, der freien encyclopedia
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Joachim Gauck (* 24. Januar 1940 in Rostock) ist ein deutscher Politiker und evangelischer Theologe. Er war vom 18. März 2012 bis zum 18. März 2017 der elfte Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der erste Parteilose in diesem Amt. Zu DDR-Zeiten war Gauck evangelisch-lutherischer Pastor und Kirchenfunktionär. Während des letzten Jahrzehnts der DDR leitete Gauck die Vorbereitung und Durchführung der beiden evangelischen Kirchentage 1983 und 1988 in Rostock. Im Zuge der friedlichen Revolution wurde er ein führendes Mitglied des Neuen Forums in Rostock. Die erste frei gewählte Volkskammer der DDR, der er als Abgeordneter angehörte, wählte ihn am 21. Juni 1990 zum Vorsitzenden des Sonderausschusses zur Kontrolle der Auflösung des ehemaligen MfS/AfNS. Mit der deutschen Wiedervereinigung war Gauck im Oktober 1990 kurzzeitig Mitglied des Deutschen Bundestages für das Bündnis 90.
Von Oktober 1990 bis Oktober 2000 stand Gauck als erster Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen an der Spitze der oft nach ihm benannten „Gauck-Behörde“, die die schriftliche Hinterlassenschaft des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) verwaltet und zugänglich macht. Nachdem ihn Marianne Birthler abgelöst hatte, engagierte sich Gauck gesellschaftspolitisch mit Vorträgen und Medienaktivitäten. Er ist einer der Initiatoren der Prager Erklärung und der Erklärung über die Verbrechen des Kommunismus. Gauck war zudem Vorsitzender des Vereins Gegen Vergessen – Für Demokratie. Er wurde mehrfach für Verdienste und Publikationen geehrt und ausgezeichnet.
Am 18. März 2012 wählte die 15. Bundesversammlung Gauck im ersten Wahlgang mit absoluter Mehrheit zum Bundespräsidenten. Zwei Jahre zuvor war er in der 14. Bundesversammlung im dritten Wahlgang noch seinem Vorgänger Christian Wulff unterlegen. Aus Altersgründen verzichtete Gauck darauf, bei der Wahl im Jahr 2017 erneut zum Bundespräsidenten zu kandidieren. Seine Amtszeit endete nach fünf Jahren am 18. März 2017.
Herkunft und Kindheit (1940–1945)
Gauck wurde 1940 in Rostock geboren. Die Eltern, Wilhelm Joachim Gauck und Olga Warremann, hatten 1938 geheiratet. Der Vater, in Dresden geboren, war Kapitän der Handelsmarine und Oberleutnant zur See der Reserve,[1][2] Die Mutter, eine gelernte Bürofachfrau, arbeitete als Bürovorsteherin in einem Anwaltsbüro. Beide waren NSDAP-Mitglieder, die Mutter ab 1932, der Vater ab 1934.[3] Sie hatten drei weitere Kinder: Marianne, Sabine und Eckart († 23. August 2013).
Seine ersten fünf Lebensjahre verbrachte Joachim Gauck meist an der Ostsee in Wustrow auf dem Fischland – zusammen mit seiner Mutter und den Geschwistern im Haus seiner Großmutter väterlicherseits. Sein Vater absolvierte 1940 sein Kapitänsexamen mit Auszeichnung. Er war im Zweiten Weltkrieg u. a. für das Aufspüren von Minen zuständig und verbrachte die Kriegszeit überwiegend in Kasernen z. B. in Stralsund. Ein halbes Jahr lebte die Familie in Gotenhafen, wo der Vater stationiert war.[4] Zuletzt unterrichtete Wilhelm Joachim Gauck den Offiziernachwuchs in Navigation und Gesetzeskunde an der Marineschule Mürwik, wo er bei Kriegsende in britische Kriegsgefangenschaft geriet.[5]
Vom Bombenkrieg war der bei Kriegsende fünfjährige Gauck in Wustrow kaum betroffen. Nachdem Mecklenburg zur sowjetischen Besatzungszone gehört hatte, wurde das unmittelbar an der Ostsee gelegene Haus von Gaucks Großmutter von der Roten Armee zu militärischen Zwecken requiriert und musste später zu einem sehr niedrigen Mietzins an einen Großbetrieb verpachtet werden, der dort urlaubende Mitarbeiter unterbrachte.[6]
Ende 1945 zog die Mutter mit den damals noch drei Kindern zu den eigenen Eltern nach Rostock.
Schulzeit (1946–1958)
Ab 1946 besuchte Gauck in Rostock eine Grundschule, dann das heutige Innerstädtische Gymnasium, damals eine Oberschule, bis zum Abitur 1958.
Der Vater kehrte im Sommer 1946 kurz vor Gaucks Einschulung aus der Kriegsgefangenschaft zurück und arbeitete dann als Arbeitsschutzinspektor für Schifffahrt auf der Rostocker Neptun Werft. Bei einem Verwandtenbesuch in Wustrow wurde er am 27. Juni 1951 von zwei Männern aufgesucht und unter dem Vorwand, es habe auf der Werft einen schweren Unfall gegeben, bei dem er helfen müsse, mit einem Auto abgeholt.[7] Für die nächsten Jahre war er für die Familie spurlos verschwunden. Alle Nachforschungen bei der Volkspolizei, der Kriminalpolizei und der Staatssicherheit blieben ergebnislos.[8] Eingaben an staatliche Stellen und Gesuche an Wilhelm Pieck seien erfolglos geblieben.
Erst in der beginnenden Tauwetter-Periode nach Stalins Tod erfuhr die Familie im September 1953, dass sich der Vater in einem sibirischen Arbeitslager befand. Es war möglich, Briefkontakt mit ihm aufzunehmen.
Gauck und seine beiden Geschwister seien zur totalen Ablehnung des politischen Systems der DDR erzogen worden, dem das Verschwinden des Vaters angelastet wurde:
„Das Schicksal unseres Vaters wurde zur Erziehungskeule. Die Pflicht zur unbedingten Loyalität gegenüber der Familie schloss auch die kleinste Form der Fraternisierung mit dem System aus. Das machen wir nicht, vermittelte uns die Mutter unmissverständlich. Ich hatte dieses Gebot so verinnerlicht, dass ich nicht einmal mehr durch die Freizeitangebote der FDJ in Versuchung geriet. Dafür lebte ich in dem moralisch komfortablen Bewusstsein: Wir sind die Anständigen. Intuitiv wehrte ich das Werben des Regimes für die Akzeptanz seiner moralischen und politischen Ziele ab, denn über uns hatte es Leid und Unrecht gebracht.“[9]
Den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 beschrieb Gauck in seinen autobiographischen Aufzeichnungen als „elektrisierendes Erlebnis“. Auch auf der nahen Neptun-Werft streikten 5000 Arbeiter und forderten den Rücktritt der Regierung. Trotz der Niederschlagung des Aufstands erinnerte sich Gauck an eine vorübergehende Lockerung des streng „klassenkämpferischen“ Kurses im Schulalltag.[10]
Der Vater kam im Oktober 1955 (nach über vier Jahren Arbeitslager) extrem geschwächt aus dem sowjetischen Lagersystem zurück. Es dauerte ein ganzes Jahr, bis er wieder als Lotse arbeiten konnte.[11] Ihn hatte nach seinem Verschwinden ein geheim tagendes sowjetisches Militärtribunal in Schwerin zu zweimal 25 Jahren Freiheitsentzug verurteilt: „Die ersten 25 Jahre wegen Spionage – für einen Brief, den er von Fritz Löbau erhalten hatte, seinem ehemaligen Vorgesetzten auf der Rosslauer Werft, mit dem er 1947 Schnellboote für die Sowjets erprobt hatte. Löbau hatte sich in den Westen abgesetzt und meinen Vater zu einem Besuch nach West-Berlin eingeladen, fünfzig Mark Reisegeld lagen dem Brief bei. Obwohl mein Vater nicht reagiert hatte, wurde ihm die Einladung beziehungsweise diese Bekanntschaft zum Verhängnis; Löbau soll mit dem französischen Geheimdienst zusammengearbeitet haben.“[12] Als Beweisstück für die Verurteilung zu weiteren 25 Jahren wegen „antisowjetischer Hetze“ soll eine bei Gaucks Vater gefundene nautische Fachzeitschrift westlicher Herkunft gedient haben, die aber ganz legal mit der Post bezogen worden war. Der Vater war in ein sibirisches Arbeitslager gekommen. Bereits nach einem Jahr als „invalidisiert“ eingestuft, habe er nur noch relativ leichte Arbeiten verrichten müssen.[13]
Die Rückkehr des Vaters war eine Folge der Moskauer Verhandlungen von Bundeskanzler Konrad Adenauer; sie änderte nichts an der ablehnenden Haltung der ganzen Familie gegenüber der SED-Regierung. Gauck resümierte später, er sei „mit einem gut begründeten Antikommunismus aufgewachsen“.[14]
Studium und Pastorenamt (1958–1989)
Die bis zur Errichtung der Berliner Mauer noch vorhandene Möglichkeit, die DDR zu verlassen, nutzte Gauck zu Reisen in den „Westen“, sah als Fünfzehnjähriger Paris, war auf Fahrradtour in Schleswig-Holstein unterwegs und besuchte häufig West-Berlin. Nach eigenen Angaben habe er jedoch nicht ernsthaft an ein „Rübermachen“ gedacht.[15]
„Meine Heimat liebte ich seriös, meinen Westen wie eine Geliebte.“[16]
Ein Jahr nach dem Abitur heirateten Joachim Gauck und seine Schulfreundin Gerhild „Hansi“ Radtke. Die kirchliche Trauung vollzog am 22. August 1959 sein Onkel, der Güstrower Domprediger Gerhard Schmitt.
„Er war die Richtschnur in Joachims Leben, sagt Schmitts Sohn Jörn-Michael.“[17]
Gaucks Berufschancen waren in der DDR beschränkt. Sein Wunschberuf Journalist schied unter DDR-Bedingungen für ihn von vornherein aus. Gauck entschied sich, von seinem Onkel bestärkt, gegen eine Lehre und für ein Theologiestudium, das er von 1958 bis 1965 in Rostock absolvierte.[18] Dabei ging es ihm nach eigenem Bekunden anfänglich nicht um die Qualifizierung für eine Pfarrstelle, sondern vornehmlich um philosophischen Erkenntniszuwachs und Argumente gegen den obrigkeitlich verordneten Marxismus-Leninismus. Dafür boten die theologischen Fakultäten in der DDR einen Freiraum.
„Mein Weg zur Theologie war in der DDR nicht ungewöhnlich. Vor und nach mir haben sich viele aus ähnlichen Motiven für diesen Beruf entschieden – was das starke Engagement vieler Pastoren beim politischen Aufbau 1989 erklärt. […] Anders als die elterliche oder die staatliche Autorität bot der Glaube die Möglichkeit, sich einer Wahrheit anzuvertrauen, die von niemandem befohlen und von niemandem genommen werden konnte. Er vermittelte eine geheimnisvolle Kraft, die uns befähigte, den Minderheitenstatus durchzuhalten, mutig zu bleiben, wo andere sich schon angepasst hatten, und Anständigkeit, Treue und Glauben für wichtiger zu halten als Wohlstand, Karriere oder öffentlichen Erfolg.“[19]
Nachdem die DDR im Jahr 1962 die Wehrpflicht eingeführt hatte, entging Gauck, dessen Jahrgang ohnehin überwiegend nicht eingezogen wurde, als immatrikulierter Student der Einberufung. Nach seiner Heirat und den Geburten seiner Söhne 1960 und 1962, aber auch aufgrund von Schwierigkeiten im Studium, geriet er in eine Orientierungskrise. Eine Studienverlängerung wurde ihm 1964 erst nach nervenärztlicher Begutachtung bewilligt.[20] Auch nach Abschluss des Studiums hatte sich Gauck noch nicht für den Pfarrberuf entschieden. Erst während seines Vikariats in Laage stellte sich bei Gauck nach eigenen Angaben im Kontakt mit den Gemeindemitgliedern das Zutrauen ein, dem Pastorenamt als Person und im Glauben gewachsen zu sein.
„In der Begegnung mit den Gemeindemitgliedern aber habe ich die Angst verloren, vom Zweifel verschlungen zu werden. Ich konnte geistlich wachsen und selbst etwas ausstrahlen. Ich lernte, dass Glaube eigentlich ein Dennoch-Glaube ist, ein Glaube auch gegen den Augenschein; und dass es erlaubt ist, mit dem Zweifel in den Kreis der Glaubenden einzutreten, auch mit dem Zweifel zu leben und zu predigen. Ohne diese Erfahrung hätte ich das Leben als Pastor wohl nicht ausgehalten, denn oft gelangte ich an die Grenzen meiner theologischen Möglichkeiten.“[21]
Nach seiner Ordination arbeitete er ab 1967 in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs als Pastor im ländlichen und vergleichsweise religiös geprägten Lüssow[22] und ab 1971 in Rostock-Evershagen, wo Gauck nach eigenen Angaben erfolgreich in der Missionsarbeit und als Kreis- und Stadtjugendpfarrer tätig war.
Seit 1974 beobachteten Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) die Aktivitäten Gaucks. Demnach hatte er einem Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) gegenüber zum Beispiel im Mai 1974 die Regierung der DDR als „Clique“ bezeichnet, „die gemeinsam mit dem MfS und der NVA das Volk unterjocht“. Über einen Friedensgottesdienst 1982 heißt es: „G. zog in seiner Predigt zum Thema Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Frieden Vergleiche zum Faschismus in Deutschland und unserer sozialistischen Entwicklung in der DDR.“[23] Die Stasi-Offiziere empfahlen die „Einleitung von gezielten Zersetzungsmaßnahmen“.[24] Über die tatsächliche Durchführung von Zersetzungsmaßnahmen gegen Gauck ist nichts bekannt. Zu dem guten Dutzend fundamentaloppositioneller Gruppen, die sich seit Mitte der 1980er Jahre in Mecklenburg und Vorpommern zusammenfanden, hatte er keinen Kontakt.[25]
Kirchentag 1988
Zwischen 1982 und 1990 war Gauck Leiter der Kirchentagsarbeit in Mecklenburg. Der Kirchentag 1988 (Motto: „Brücken bauen“) stand bereits unter dem Eindruck der Reformen des sowjetischen Parteichefs Michail Gorbatschow. Man wollte nach Gaucks Angaben die SED mit der Forderung zu einem Dialog ohne Beschränkung zwingen, die Parteispitze sollte sich zu den in Kirchenkreisen intensiv diskutierten Umwelt-, Friedens- und Menschenrechtsthemen äußern. Ein Höhepunkt auf diesem Kirchentag war nach hürdenreicher Einladung eine Ansprache des Altbundeskanzlers Helmut Schmidt von der Kanzel der Rostocker Marienkirche.[26]
Sowohl die Führung der evangelischen Landeskirche als auch Gauck wollten weder Ausreisewilligen eine spektakuläre Bühne geben noch Protestaktionen unterstützen. Der teilnehmende oppositionelle Heiko Lietz wurde im Vorfeld erst als Leiter einer Themengruppe eingesetzt, als er sich bei Gauck beklagte. Laut einem Zwischenbericht des MfS vom 26. August 1987 sei Gauck „an keinen Themen interessiert […], die sich offen gegen die staatlichen Verhältnisse in der DDR richten.[27] […] Obwohl in politischer Hinsicht zwischen „Larve“ (Gauck) und Lietz im Wesentlichen gleiche Zielstellungen bestehen, unterscheiden sie sich aber wesentlich im methodischen Vorgehen“.[28]
Einschätzungen der Stasi und aus dem Blickwinkel anderer Personen
Staatssicherheits-Hauptmann Terpe suchte nach dem Kirchentag Gauck zu einem längeren Gespräch auf, worüber der sich angeblich „angenehm überrascht“ zeigte. Terpe notierte anschließend, dieses Gespräch werde Gauck dazu veranlassen, „seine Haltung zum MfS zu überdenken“, konstatierte aber auch, dass Gauck „zu einem ständigen regelmäßigen Kontakt nicht bereit ist, da es seiner Grundauffassung widerspreche und es zu viele Dinge gibt, die zwischen uns stehen“.[29] Im November 1988 beschloss das MfS die Einstellung des gegen Gauck gerichteten Operativen Vorgangs Larve: „Im Rahmen der Vorgangsbearbeitung wurde ein maßgeblicher Beitrag zur Disziplinierung von Larve erreicht. Aufgrund des Bearbeitungsstandes kann eingeschätzt werden, dass von ihm derzeit keine Aktivitäten ausgehen werden, die eine weitere Bearbeitung im OV erforderlich machen.“[30]
Als der Bürgerprotest gegen die DDR-Obrigkeit in der zweiten Oktoberhälfte 1989 auch im Norden des Landes zur Massenbewegung wurde, hielt Gauck am 19. Oktober in Rostock eine Predigt zum Propheten Amos, in der er „tötende Selbstgerechtigkeit“ der „rettenden Gerechtigkeit“ gegenüberstellte. Im Ergebnis plädierte er auch für ein Bleiben in der DDR: „Die, die uns verlassen, hoffen nicht mehr.“[31] Gauck sah in der Revolution von 1989 ein ihn prägendes Erlebnis und bezeichnete die Losung „Wir sind das Volk!“ als Übersetzung der in der Französischen Revolution angelegten Ideale von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit in den Protest gegen das SED-Regime. Die Parole habe Bürgersinn geweckt. Sie habe bewusst gemacht, dass Menschen nicht die Verfügungsmasse einer scheinbar ewig sicheren Macht seien, „sondern dass wir es sind, die das Sagen haben“. Man habe sich gefragt: „Bin ich das? Sind wir das? Sind wir tatsächlich so mutig, wir landläufigen Feiglinge?“[32]
Gaucks eigene Aussagen zu seinem damaligen Verhältnis zu den staatlichen Organen der DDR und speziell zum MfS wurden im Jahr 2000 von Peter-Michael Diestel, dem letzten DDR-Innenminister im Kabinett de Maizière, in Frage gestellt. Diestel brachte in die Debatte eidesstattliche Erklärungen ehemaliger MfS- und SED-Funktionäre ein, wonach Gauck ein „Begünstigter des DDR-Regimes“ gewesen sei, aufgrund des Indizes, dass Gaucks Söhne Christian und Martin – gegen den Willen ihres Vaters – die DDR verlassen und besuchsweise auch wieder einreisen durften.[33][34] Vor dem Oberlandesgericht Rostock unterlag Gauck mit seiner Klage gegen die Aussage Diestels („Begünstigter der Stasi“)[35]; sie einigten sich aber außergerichtlich.[36][37]
Der DDR-Bürgerrechtler und Der Freitag-Mitherausgeber Wolfgang Ullmann (1929–2004) bestritt jegliche Form der Zusammenarbeit Gaucks mit der Stasi; er schrieb: „Gauck hat sich an die in der Landeskirche Mecklenburg geltende Regelung gehalten, Gespräche mit dem MfS der Kirchenleitung mitzuteilen und damit jede Konspiration zu unterbinden. Wenn Diestel das bestreiten will, trägt er dafür die Beweislast, nicht etwa Gauck.“ Auch die Bestimmungen des Stasiunterlagengesetzes über Begünstigte des MfS träfen auf Gauck nicht zu.[38]
Der DDR-Oppositionelle Hans-Jochen Tschiche kritisierte die Betitelung Gaucks als „Bürgerrechtler“ in den Medien[39] und sagte, Gauck sei der Oppositionsbewegung nicht aufgefallen.[40] Heiko Lietz, ebenso Mitbegründer des Neuen Forums, sagte, er sei zur Kunstfigur aufgebaut worden, wofür man ihn nicht verantwortlich machen könne. Gauck „lehnte diesen Staat ab. Er war verlässlich“, aber als sich landesweit die Opposition vernetzte, illegal, mit Risiken, sei Gauck nicht dabei gewesen und auch nicht in der Friedensbewegung verwurzelt.[41][42] Die ehemalige Dissidentin Vera Lengsfeld erwiderte dagegen, dass auf alle, die im Herbst 1989 Widerstand gegen das SED-Regime leisteten, der Begriff „Bürgerrechtler“ angewandt worden sei, und widersprach insbesondere Tschiche deutlich. Insofern trage „Gauck ihn mit Recht“.[43] Auch der Bürgerrechtler Werner Schulz stufte ihn als Bürgerrechtler ein. Der Journalist Gerhard Rein bezeichnete ihn als „Bürgerrechtler der letzten Stunde“.[44] Die Times beschrieb ihn als ehemaligen Dissidenten: „a former east German dissident priest, regarded by many as a moral authority.“[45]
Abgeordneter in der Volkskammer der DDR (1990)
Gauck trat bei der Volkskammerwahl am 18. März 1990 im Bezirk Rostock für die Listenverbindung Bündnis 90 an, zu der das Neue Forum (NF) gehörte, und wurde knapp gewählt.[46] Als Abgeordneter beschäftigte er sich vorrangig mit der Rolle der Stasi in der DDR. Innerhalb des NF setzte sich der seit Oktober 1989 vom täglichen Kirchendienst freigestellte Gauck für eine staatliche Einheit Deutschlands ein. Am 31. Mai 1990 begründete Gauck in der Volkskammer den Antrag „zur Einsetzung des Sonderausschusses zur Kontrolle der Auflösung des MfS/AfNS“. Vertreter der Bürgerkomitees wurden mit beratender Stimme in die Ausschussarbeit einbezogen. In der konstituierenden Sitzung des Sonderausschusses wurde Gauck am 21. Juni 1990 zum Vorsitzenden gewählt.[47]
Eines der zentralen Probleme in der Zuständigkeit des Ausschusses war nach Gaucks Darstellung die personelle Zusammensetzung des seit Februar 1990 bestehenden staatlichen Komitees zur Auflösung des MfS/AfNS. Er habe sich bemüht, ehemaligen MfS-Angehörigen als Kennern der Materie vertrauenswürdige Vertreter aus den Bürgerkomitees an die Seite zu stellen[48] und sich gegen westdeutsche Forderungen nach Überführung des Stasi-Aktenmaterials ins Koblenzer Bundesarchiv gestellt, auch die erwogene Vernichtung dieser Unterlagen unterband er. Gauck sah die Akten als wichtiges Gut für die künftige Gestaltung der Demokratie wie auch als unverzichtbare Grundlage für den Rechtsanspruch der geschädigten Bürger auf Rehabilitation und die Nachweismöglichkeit von erlittenem Unrecht.[49] Er wurde so zu einem der Initiatoren des Gesetzes über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit/Amtes für Nationale Sicherheit, das am 24. August 1990 von der Volkskammer beschlossen wurde.[50]
Am 28. September wurde Gauck in der letzten Arbeitssitzung der Volkskammer zum Sonderbeauftragten für die personenbezogenen Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der DDR gewählt und am 3. Oktober 1990, dem Tag des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik Deutschland, von Bundespräsident Richard von Weizsäcker und Bundeskanzler Helmut Kohl als Sonderbeauftragter der Bundesregierung für die personenbezogenen Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes in dieser Funktion bestätigt.
Beauftragter für die Stasi-Unterlagen (1990–2000)
Sein Mandat als einer der 144 Abgeordneten, die die Volkskammer gemäß Art. 42 des Einigungsvertrages zur Entsendung in den 11. Deutschen Bundestag gewählt hatte, legte Gauck daraufhin am 4. Oktober 1990 nieder. Damit ist er bis heute der Abgeordnete mit der kürzesten Amtsperiode. Aus dem Dienst als Pastor in der mecklenburgischen Landeskirche wurde er im November 1990 auf seinen eigenen Antrag hin entlassen.[51][52] Als Sonderbeauftragter residierte Gauck zunächst mit nur drei Mitarbeitern im frei gewordenen Komplex des SED-Zentralkomitees in der Behrenstraße, bevor die Behörde in einen vor 1989 vom Innenministerium der DDR genutzten Gebäudekomplex in der Glinkastraße umzog.[53]
Bei der Übernahme der Stasi-Angestellten, auf die sich bereits das staatliche Auflösungskomitee gestützt hatte, verfolgte man laut Gauck einen pragmatischen Kurs: „Auf einige konnte man aufgrund ihrer Spezialkenntnisse nicht verzichten, andere hatten sich in der Übergangszeit nicht arrogant und gehässig, sondern kooperativ und freundlich gegen die Bürgerrechtler verhalten. Ich bat also meine Vertrauenspersonen in Berlin und in den Bezirken, mir die Namen derjenigen zu nennen, die für eine Übernahme in Frage kämen, und zwar Archivfachleute und Techniker. Diese Bitte sollte später wiederholt Gegenstand heftiger Polemiken werden.“[54]
Seine Hauptzuständigkeit sah Gauck als Nicht-Jurist in einer politischen Richtlinienkompetenz, nicht aber im konkreten Behördenaufbau. Zu seinem Stellvertreter machte Gauck den vormaligen Referatsleiter beim bayerischen Landesbeauftragten für den Datenschutz und späteren Verfassungsschutz- und BND-Präsidenten Hansjörg Geiger. Anfang 1991 begann die ausländische Presse, Gauck wahrzunehmen. Die New York Times widmete ihm am 20. Januar einen ersten Artikel:
„Herr Gauck ist der offizielle Wächter über Millionen von Akten, die über die letzten vierzig Jahre von Agenten der inzwischen aufgelösten Ostdeutschen Geheimpolizei, der Stasi, gesammelt worden waren. Sein ruhiges Beharren, dass die Deutschen sich der Wahrheit über die Stasi stellen müssen, machte ihn für manche zum Helden, speziell für die Opfer der kommunistischen Führer, die Ostdeutschland bis zum letzten Jahr regierten. Andere jedoch, darunter auch einige prominente Politiker in Bonn, wünschen ihm nichts Gutes.“
Mit Inkrafttreten des Stasi-Unterlagengesetzes am 2. Januar 1992 wechselte die Bezeichnung dieses Amtes noch einmal: Gauck war jetzt Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Am gleichen Tag wurde interessierten Betroffenen auf Antrag erstmals Akteneinsicht durch die Gauck-Behörde[56] gewährt. In den ersten hundert Tagen wurden nach seinen Angaben 420.000 Anträge auf private Akteneinsicht und 130.000 Anträge auf Überprüfung von Personen im öffentlichen Dienst gestellt.[57]
In seiner Amtszeit kam es zu einem Rechtsstreit zwischen der von Gauck geführten Behörde und dem Ministerpräsidenten von Brandenburg, Manfred Stolpe. Das Verwaltungsgericht Berlin entschied am 3. Juni 1993, dass Gauck nicht länger behaupten darf, Stolpe sei ein wichtiger inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit gewesen. Die Forderung Stolpes, Gauck alle bisher wertenden Äußerungen zu verbieten, lehnte das Gericht ab.[58]
Erfolglos wandte sich Gauck dagegen, die am 31. Dezember 1997 auslaufende Verjährungsfrist für mittelschwere Straftaten aus DDR-Zeiten zu verlängern. Die bisherige Verlängerung hatte aus seiner Sicht keinen hinreichenden Erfolg gehabt. Ein Jahr später sprach er sich aber auch dagegen aus, die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit zu beenden, da noch immer eine große Zahl von Anträgen auf Akteneinsicht in seiner Behörde unbearbeitet geblieben waren.
Gaucks erste Amtszeit dauerte bis 1995. Am 21. September wurde er vom Deutschen Bundestag mit großer Mehrheit für weitere fünf Jahre als Bundesbeauftragter bestätigt. Da für diese Funktion per Gesetz nur zwei Amtszeiten vorgesehen sind, räumte Gauck seinen Platz als Behördenchef am 10. Oktober 2000 für seine Nachfolgerin Marianne Birthler.[59] Die Kurzform „Gauck-Behörde“, hernach auch „Birthler-Behörde“, bürgerte sich aufgrund des sperrigen offiziellen Titels ein.
Kritisiert wurde Gauck für die Beschäftigung von Stasi-Mitarbeitern in seiner Behörde. Damit setzt sich ein vertrauliches „Gutachten über die Beschäftigung ehemaliger MfS-Angehöriger bei der BStU“ auseinander, das von Hans H. Klein und Klaus Schroeder 2007 im Auftrag des Kulturstaatsministers Bernd Neumann erstellt und durch WikiLeaks publiziert wurde.[60] Für 1991 rechneten sie mit mindestens 79 ehemaligen Stasimitarbeitern, darunter fünf ehemaligen sogenannten Inoffiziellen Mitarbeitern: „Nahezu alle ehemaligen MfS-Bediensteten hatten in den ersten Jahren des Aufbaus der Behörde die Möglichkeit des Missbrauchs. Sie konnten Akten vernichten, verstellen oder herausschmuggeln, denn sie hatten als Wachschützer, als Archivare, als Magazinmitarbeiter oder als Rechercheure zum Teil ungehinderten und unbeaufsichtigten Zugang zu erschlossenem, aber auch zu unerschlossenem Material.“ Aussagen Gaucks und des damaligen Direktors Busse gegenüber der Bundesregierung, „beim Bundesbeauftragten wurden am 1. Januar 1997 noch 15 ehemalige hauptamtliche Mitarbeiter des MfS als Angestellte bzw. als Arbeiter beschäftigt“, wiesen die Gutachter Klein und Schroeder als „falsch“ zurück, da zu dieser Zeit mindestens 46 solche Personen beschäftigt gewesen seien, darunter ehemalige Wach- und Personenschützer des MfS, drei frühere Mitglieder des MfS-Wachregiments sowie weitere 16 ehemalige Hauptamtliche, die unerwähnt blieben. Die Behördenleitung wies den Vorwurf mit Blick auf die damalige Praxis anderer Behörden zurück. Roland Jahn, der zweite Nachfolger Gaucks als Behördenchef, betrieb die Trennung von solchen Mitarbeitern und nannte die Beschäftigung ehemaliger Stasi-Angehöriger einen „Schlag ins Gesicht der Opfer“.[61]
Im Wintersemester 1999/2000 gab Gauck im Rahmen einer Gastprofessur Vorlesungen zum Thema „1989 – Vom Untertan zum Bürger“ an der Medizinischen Universität zu Lübeck.[62]
Nach dem Ausscheiden aus der „Gauck-Behörde“ (2000–2012)
Journalistische Tätigkeit und politisches Engagement
Gauck trat in den zehn Jahren bis zu seiner Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten als Redner und Diskussionsteilnehmer bei verschiedenen Veranstaltungen und Talkshows auf. Von Januar bis November 2001 moderierte er im Ersten die 14-täglich ausgestrahlte WDR-Sendung Joachim Gauck.
Gauck war von 2003 bis zu seiner Wahl zum Bundespräsidenten Vorsitzender des Vereins Gegen Vergessen – Für Demokratie, der sich für die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der SED-Diktatur einsetzt. Nach seiner Wahl trat er von diesem Ehrenamt zurück.[63] Er plädiert für die Errichtung eines Zentrums gegen Vertreibungen in Berlin.[64]
Er ist einer der Erstunterzeichner der Prager Erklärung von 2008[65] und der Erklärung über die Verbrechen des Kommunismus von 2010.[66]
Gauck ist Mitglied des Vereins Atlantik-Brücke[67] und Mitglied im Senat der Deutschen Nationalstiftung.[68]
Von 2001 bis 2004 war Gauck als Vertreter Deutschlands ehrenamtliches Mitglied des Verwaltungsrates der Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in Wien.[69] Er gehört zu den Referenten des Studienzentrums Weikersheim sowie des Veldensteiner Kreises.
Seit 2007 war er ehrenamtlich als Vorsitzender des Unabhängigen Gremiums zur Klärung von Stasi-Fragen des Deutschen Olympischen Sportbundes tätig.[70] Mit dem Amtsantritt als Bundespräsident ist er aus dieser Tätigkeit ausgeschieden.[71]
Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten 2010
Gauck wurde auf Vorschlag der Vorsitzenden von SPD und Bündnis 90/Die Grünen für die Bundespräsidentenwahl am 30. Juni 2010 nominiert. Bereits zur Wahl des deutschen Bundespräsidenten 1999 war er als Kandidat diskutiert worden, damals allerdings nur innerhalb der CSU und auch nicht über das Stadium von „Vorüberlegungen“ hinaus.[72]
Die Kandidatur 2010 stieß bei einigen früheren Mitstreitern Gaucks auf Kritik.[73] Gleichzeitig warb eine Initiative für die Wahl von Joachim Gauck: „Keiner verkörpert den Geist der Freiheit mehr als Joachim Gauck.“[74] Von den Medien wurde Gauck, der in Umfragen viel Zustimmung erfuhr, öfter als „Kandidat des Volkes“[75] porträtiert. Es wurde herausgestellt, dass er mit seiner Vita und seiner politischen Einstellung ebenso gut Kandidat des konservativ-liberalen Lagers hätte sein können. Tatsächlich äußerten sich auch CDU- und FDP-Politiker wie Jörg Schönbohm und Holger Zastrow positiv zum Kandidaten Gauck.[76] Dennoch wurden ihm, da CDU/CSU und FDP mit ihrem Kandidaten Christian Wulff 644 von den 1244 Mitgliedern der Bundesversammlung stellten, nur geringe Erfolgschancen eingeräumt. Allerdings erreichte Wulff erst im dritten Wahlgang mit 625 Stimmen knapp die absolute Mehrheit, während Gauck jeweils mehr als 30 Stimmen über die 462 Sitze von SPD und Grünen hinaus erhielt. Dies wurde als „Denkzettel“ unzufriedener Abgeordneter gegenüber der CDU/CSU- bzw. FDP-Spitze interpretiert.
Privatleben und Familie
Joachim Gauck ist seit dem 22. August 1959 mit Gerhild „Hansi“ Gauck (geb. Radtke) verheiratet und hat mit ihr vier Kinder. Diese waren in der DDR Repressionen ausgesetzt. Seinen beiden Söhnen wurde das Abitur in der Erweiterten Oberschule bzw. ein Studium versagt. Sie reisten Ende 1987 mit ihren Ehefrauen und Kindern aus der DDR in die Bundesrepublik aus.[77] Christian Gauck studierte in Hamburg Medizin und ist dort als Arzt tätig.[78] Die älteste Tochter reiste im Sommer 1989 nach Bremen aus.[79]
Seit 1991 lebt Gauck von seiner Frau getrennt; die Ehe wurde nicht geschieden.[80] Gerhild Gauck lebt in Rostock, wo sie ehrenamtlich im Café Marientreff tätig ist, einer von dem Verein Drehscheibe betriebenen Begegnungsstätte.[81] Joachim Gaucks Lebensgefährtin war von 1990 bis 1998 die ZEIT-Journalistin Helga Hirsch. Diese ist auch jetzt noch seine Vertraute und Beraterin. Seit 2000 lebt er mit der Journalistin Daniela Schadt zusammen.[82]
Ursprünglich beabsichtigte Gauck, auch als Bundespräsident in seiner Wohnung in Berlin-Schöneberg wohnen zu bleiben. Um Unannehmlichkeiten für seine Nachbarn durch die Sicherheitsanforderungen zu vermeiden, zogen er und Schadt im Juli 2012 in die Dienstvilla für Bundespräsidenten, die ehemalige Villa Wurmbach in der Pücklerstraße in Berlin-Dahlem.[83]
Am 8. August 2012 wurde Gauck in der St.-Marien-Kirche durch die Verleihung des Ehrenbriefes der Hansestadt Rostock zum Ehrenbürger ernannt.[84]
Die Wahl zum Bundespräsidenten und ihre Vorgeschichte
Nach dem Rücktritt des Bundespräsidenten Christian Wulff am 17. Februar 2012 infolge der Wulff-Affäre kündigte Bundeskanzlerin Angela Merkel einen Vorschlag für dessen Nachfolge an, der auch die Zustimmung der Oppositionsparteien SPD und Grünen finden sollte; Gespräche mit der Partei Die Linke schloss sie aus.[85] Joachim Gauck wurde zuerst wieder von der SPD und von Bündnis 90/Die Grünen als Kandidat ins Gespräch gebracht. Am 19. Februar bekam Gauck zunächst die Unterstützung der FDP, später auf ihren Druck hin auch die der Union. Am Abend trafen sich die Parteispitzen von CDU/CSU, FDP, SPD und den Grünen im Kanzleramt und präsentierten Joachim Gauck als gemeinsamen Kandidaten.[86][87] Am 20. Februar 2012 ergab eine Umfrage bei 1122 Befragten eine Zustimmung von 69 % für Gauck als Bundespräsidenten (16 % Ablehnung, Rest: keine Meinung).[88]
Gaucks Stellungnahmen zu Sarrazin, Occupy Wall Street, Stuttgart 21, Hartz IV und Vorratsdatenspeicherung führten zu einer kurzen Kontroverse über seine Eignung für das Amt. Diese Debatte wurde insbesondere in sozialen Netzwerken im Internet geführt.[89] Einzelne Politiker der Grünen kündigten daraufhin an, sich eine Ablehnung von Gauck vorzubehalten.[90] Es wurde in einigen Medien die These geäußert, die Kritik reiße Gaucks Aussagen aus dem Kontext und dichte ihm Positionen an, die er nicht vertreten habe.[91][92][93]
Am 18. März 2012 wurde Gauck von der 15. Bundesversammlung zum 11. Bundespräsidenten Deutschlands gewählt. Er erhielt 991 von 1228 gültigen Stimmen. Seine Amtszeit begann gemäß § 10 BPräsWahlG, als er nach der Verkündung des Wahlergebnisses in der Bundesversammlung dem Präsidenten des Bundestages Norbert Lammert die Annahme der Wahl erklärte.
Ab September 2012 bis zu Gaucks Amtsende war die Journalistin und Autorin Ferdos Forudastan, eine Expertin für Migrations- und Integrationsfragen, seine Sprecherin.[94]
Am 8. September 2015 überholte Gauck als ältester amtierender Bundespräsident seinen Amtsvorgänger Theodor Heuss, den ersten Bundespräsidenten.
Am 6. Juni 2016 gab Gauck bekannt, nicht für eine zweite Amtszeit als Bundespräsident zur Verfügung zu stehen.[95] Am 17. März 2017, einen Tag vor dem Ende seiner Amtszeit, wurde Gauck im Rahmen eines Großen Zapfenstreichs verabschiedet. Für den Zapfenstreich hatte er sich als Wunschtitel die Lieder Über sieben Brücken musst du gehn der DDR-Rockband Karat, das Volkslied Freiheit, die ich meine sowie das Kirchenlied Ein feste Burg ist unser Gott von Martin Luther ausgesucht.[96]
Auslandsbesuche als Bundespräsident
Rezeption und Kontroversen
Anlässlich des 60-jährigen Jubiläums des Walter Eucken Instituts hielt Joachim Gauck am 16. Januar 2014 in Freiburg im Breisgau eine Ansprache und würdigte den neoliberalen Ökonomen Walter Eucken.[97] Der Vorsitzende der Linkspartei, Bernd Riexinger, kritisierte daraufhin Gaucks Plädoyer für mehr marktwirtschaftliche Freiheit als „eine sehr parteiliche Einmischung“. Der Neoliberalismus sei in Deutschland keine Staatsräson, so Riexinger. „Das Grundgesetz schützt den Sozialstaat und nicht den Alle-gegen-Alle-Kapitalismus.“[98][99]
Am 27. Juni 2014 kritisierte der Bundespräsident Russland aus Anlass einer Ausstellungseröffnung zum hundertjährigen Jahrestag des Attentats von Sarajevo: „Der Widerstand Russlands gegen eine Annäherung der Ukraine an die Europäische Union hat uns mit Denk- und Verhaltensmustern konfrontiert, die wir auf unserem Kontinent für längst überwunden hielten. Was wir heute erleben, ist altes Denken in Macht- und Einflusssphären – bis hin zur Destabilisierung fremder Staaten und zur Annexion fremder Territorien.“[100]
Am 1. September 2014, zum 75. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges, hielt Gauck eine Rede in Danzig.[101] Darin kritisierte er, Russland habe die seit dem Ende des Ost-West-Konflikts bestehende Partnerschaft mit dem Westen de facto aufgekündigt, und spielte an auf die russische Annexion der Krim und auf Moskaus Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine: „Die Geschichte lehrt uns, dass territoriale Zugeständnisse den Appetit von Aggressoren oft nur vergrößern“, warnte der Bundespräsident. Eine Reihe renommierter Historiker kommentierte Gaucks politische Aussagen und die historischen Bezüge in der Süddeutschen Zeitung teils zustimmend, teils kritisch.[102]
Am 23. April 2015 bezeichnete Gauck den Völkermord an den Armeniern in einer Rede als einen „Völkermord“. Das türkische Außenministerium kritisierte daraufhin die Wortwahl des Bundespräsidenten. Gauck habe „kein Recht, die türkische Nation eines Verbrechens zu beschuldigen, das sie nicht begangen hat“. Das türkische Volk werde Gaucks Äußerungen „nicht vergessen und nicht vergeben“.[103]
Abschiedsrede als Bundespräsident
Am 18. Januar 2017 hielt Gauck zum Ende seiner Amtszeit eine Rede zu der Frage „Wie soll es aussehen, unser Land?“ In der FAZ hieß es dazu resümierend, die von Gauck angemahnte „republikanische Verteidigungsbereitschaft“ würden die deutschen Demokraten „in Zukunft noch stärker als bisher“ zeigen müssen, „im Inneren wie nach außen“.[104][105][106]