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Jennifer Nitsch bekommt das letzte Wort

Ihre Abschiedsrolle als "Judith Kemp"

Heute wird sie rehabilitiert. Die Schauspielerin Jennifer Nitsch, die sich am 13. Juni dieses Jahres aus dem Fenster ihrer Wohnung in der Münchener Franz-Joseph-Straße in den Tod stürzte, hat heute Abend im Fernsehen noch einen letzten großen Auftritt. Ihr letzter Film, ihre letzte Hauptrolle. Sie spielt eine Anwältin und heißt "Judith Kemp".

Jennifer Nitsch ist zum Zeitpunkt dieser Fernsehpremiere so ziemlich genau vier Monate tot. Der Fernsehzuschauer, der heute Abend die ARD einschaltet, weiß über die Tote Jennifer Nitsch mehr, als die lebende Jennifer Nitsch jemals von sich ahnte. Alles an diesem Todesfall war plötzlich Nachricht. Die 56 Stundenkilometer beim Aufprall, zum Beispiel, die 3,1 Promille Alkohol im Blut. Sie litt unter Bulimie, sie wechselte planlos ihre Partner. Sie war auf Droge, sie hasste ihren Körper und dachte über eine Brustvergrößerung nach. Sie wurde als Kind sexuell missbraucht oder aber erfand den Missbrauch, um sich interessant zu machen. Auch an Selbstmordversuchen mangelte es offenbar nicht in ihrem Leben. Keine vier Wochen brauchten die Medien nach dem Tod der Schauspielerin, um die "deutsche Sharon Stone", zu der sie selbst die lebende Jennifer Nitsch über Jahre stilisiert hatten, vom Podest zu stoßen.

Als die starke Überfrau Dr. Judith Kemp kehrt sie heute Abend zurück. Jennifer Nitsch ficht in dieser Rolle viele Kämpfe gleichzeitig. Sie arbeitet am Tag 15 Stunden lang, sie erzieht zwei Kinder - und zwar allein. Sie verlor bei einem Unfall ihren Mann, ist ihm aber auch drei Jahre danach noch immer treu ergeben. Sie kann auf eine glanzvolle Karriere zurückblicken, deren Vorteil es ist, "dass ich meinen Kindern ein Leben im Luxus ermögliche", wie sie sagt, und deren Nachteil es ist, dass sie sich dafür ab und zu mal die Finger schmutzig machen muss, weil sie als Anwältin die Sache des Kapitals, eine zutiefst schlechte Sache also, vertreten muss.

Weil es sich aber um eine deutsche Fernsehproduktion handelt, gelingt es Frau Dr. Kemp auch in diesem Konflikt schließlich, auf die richtige Seite zu wechseln. Dabei hilft ihr die Begegnung mit der anderen Seite des sozialen Spektrums: Sie bekommt (und ergreift) die Gelegenheit, eine Putzfrau und deren drei Kinder vor den Hundsvöttereien ihres Ex-Mannes zu beschützen, verliert ihren Karrierejob, wechselt erleichtert ins juristische Loserfach des Familienrechts - und bereut es nicht.

Eine bessere Abschiedsrolle hätte sich Jennifer Nitsch nicht suchen können. Denn ob man es will oder nicht, der Zuschauer sucht in dieser Rechtsanwältin, in dieser Rolle, doch nichts anderes als die wahre Jennifer Nitsch, und dieser Film ist zwar nach dem üblichen moralischen Stickmuster deutscher Fernsehfilme gestrickt, er ist sich für keinen Fingerzeig auf die sozialen Widerwärtigkeiten dieses Landes zu schade und scheut auch nicht das letzte Klischee.

Macht aber nichts. Der Schauspielerin Jennifer Nitsch, ihrem 37 Jahre alten Gesicht und ihrer vierzig-Zigaretten-am-Tag-Stimme gelingt es, durchschnittliches, hundert mal gesehenes deutsches Filmmaterial zu einem anrührenden und unter dem Strich lohnenden TV-Ereignis zu machen. Das ist nicht das kaputte Starlet, das lebensuntüchtige Problempaket, von dem so viel in der Zeit nach ihrem Tod zu lesen war. Wir sehen eine starke Frau, eine gute Frau, eine gerechte Frau, eine, die zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit Verantwortung trägt. Ein Vorbild.

Das ist das schöne an diesem Film - ohne es zu gewollt zu haben, gelingt es Jennifer Nitsch als Judith Kemp, ihre posthumen Demontage rückgängig zu machen, diese Ausblendung von Pietät, die nicht gilt, wenn man Marilyn Monroe, Walter Sedlmayr, Prinzessin Diana oder - Jennifer Nitsch heißt.

Jennifer Nitsch hatte am 13. Juni die Kontrolle über ihr Leben aufgegeben. Heute Abend bekommt sie das letzte Wort.

"Judith Kemp", Fernsehfilm von Uwe Wilhelm (Buch) und Helmut Metzger (Regie). 20.15 Uhr, ARD

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