Corona und der Schutz des Lebens | Blätter für deutsche und internationale Politik
Ausgabe September 2021

Corona und der Schutz des Lebens

Zur Grundrechtsdebatte in der pandemischen Ausnahmesituation

Seit Beginn der Corona-Pandemie stellt sich demokratisch verfassten Nationalstaaten – als den in erster Linie handlungsfähigen Akteuren – unter rechtsphilosophischen Gesichtspunkten vor allem eine Frage: Welche Pflichten erlegen die Grundsätze einer liberalen Verfassung der Regierung in einer solchen Situation auf und welche Handlungsspielräume haben sie dabei gegenüber ihren Bürgern?

Die durch das Virus Sars-CoV-2 ausgelöste Pandemie ist, wie der Name bereits besagt, ein Naturgeschehen, das sich global ausgebreitet hat, also Leben und Gesundheit von Angehörigen der species homo sapiens überall auf dem Erdball bedroht. Unter biologischen Gesichtspunkten lässt sich die Bekämpfung der Pandemie als eine (freilich mit ungleichen Waffen geführte) Kriegführung von Species gegen Species verstehen. In diesem „Krieg“ gegen das Virus werden dem Gegner allerdings keine Rechte zugeschrieben; daher ist der Vergleich mit der militärischen Auseinandersetzung zwischen Nationen nur von begrenztem Wert. Die beteiligten „Parteien“ bewegen sich nicht in einem geteilten sozialen Raum, beispielsweise dem des Völkerrechts; aber wie im Krieg besteht das strategische Ziel in der möglichst schnellen Bezwingung des Gegners bei möglichst geringen eigenen Verlusten.

Die deutsche Diskussion über den richtigen Kurs der Pandemiebekämpfung wird dabei seit ihrem Beginn durch die Kontroverse zwischen den Verteidigern strikter Vorbeugungsmaßnahmen und den Fürsprechern eines libertären Öffnungskurses beherrscht. Einen interessanten blinden Fleck bilden dabei die Konsequenzen einer unklaren Zielbestimmung der staatlichen Gesundheitspolitik und die unausgetragene rechtsphilosophische Frage, ob der demokratische Rechtsstaat Politiken verfolgen darf, mit denen er vermeidbare Infektions- und Todeszahlen in Kauf nimmt.

Auch wenn die Corona-Rechtsprechung mehr oder weniger im Sinne des strengeren Regierungskurses geurteilt und stillschweigend einen prima facie bestehenden Vorrang des staatlichen Gesundheitsschutzes in der Pandemie berücksichtigt hat, fehlen dafür einstweilen Grundsatzurteile des Bundesverfassungsgerichts mit einer entsprechenden prinzipiellen Rechtfertigung dieses Tenors. Diese Lücke lenkt die Aufmerksamkeit auf die besonderen Aspekte einer derartigen Ausnahmesituation wie der Bekämpfung einer Pandemie. Der Staat ist auf eine ungewöhnliche Kooperation der Bevölkerung angewiesen, die von allen Bürgern starke Einschränkungen, sogar von verschiedenen, ungleich belasteten Gruppen solidarische Leistungen verlangt. Und zwar muss er diese Solidarleistungen schon aus funktionalen Gründen rechtlich erzwingen dürfen.

Die Aporie zwischen Rechtszwang und Solidarität ergibt sich daraus, dass in der Pandemie eine in unserer Verfassung selbst zwischen den beiden tragenden Prinzipien angelegte Spannung aufbricht – zwischen der demokratischen Selbstermächtigung der Staatsbürger zur politischen Verfolgung kollektiver Ziele einerseits und der staatlichen Gewährleistung subjektiver Freiheiten andererseits. Beide Momente ergänzen sich, solange es im Normalzustand um die innere Reproduktion der Gesellschaft geht. Sie geraten aber außer Balance, sobald die außerordentliche kollektive Anstrengung der Abwehr einer „von außen“ das Leben der Bürger bedrohenden Naturgefahr von den Bürgern Solidarleistungen erfordert, die über das üblicherweise bescheidene Maß an Gemeinwohlorientierung hinausgehen.

Die asymmetrische Beanspruchung der Bürgersolidarität auf Kosten gleichmäßig gewährleisteter subjektiver Freiheiten kann durch die Herausforderungen einer Ausnahmesituation gerechtfertigt sein. Legitim ist sie somit immer nur auf Zeit. Wie diese außerordentliche Autorisierung auch ohne weitere Notstandsregelungen rechtsdogmatisch mit dem Grundgesetz in Einklang zu bringen ist, soll am Ende dieser Erörterung stehen.

Sars-CoV-2 als globale Herausforderung für die nationalen Hauptakteure

Trotz der koordinierenden Tätigkeit internationaler Organisationen (wie insbesondere der Weltgesundheitsorganisation) haben sich in der Corona-Pandemie die Nationalstaaten als die eigentlich handlungsfähigen Akteure bewährt. Nur in einer Hinsicht machte die Europäische Union eine bemerkenswerte Ausnahme: Die EU-Kommission hat für die Mitgliedstaaten die Beschaffung und Verteilung des knappen Impfstoffes übernommen und damit wenigstens innerhalb der Grenzens ihres wirtschaftlich insgesamt privilegierten Gebietes das Gefälle verhindert, das sonst bei der Versorgung mit lebensrettenden Medikamenten zwischen wirtschaftlich stärkeren und weniger starken Staaten eingetreten wäre. Im Allgemeinen entschieden jedoch die einzelnen Nationalstaaten selbständig über die Krisenmaßnahmen. Indem sie sich auch gegenseitig beobachteten, haben sie gegen das Virus als den gemeinsamen Gegner jeweils eigene Strategien gewählt. Bis zum Zeitpunkt der – letztlich nur durch Impfung erreichbaren – „Herdenimmunität“ erstrecken sich die strategischen Optionen in diesem Kampf über einen breiten Spielraum. Wenn wir von der Selbstbindung demokratischer Rechtsstaaten absehen, reicht das Spektrum dieser Handlungsalternativen von der Nichtintervention in das natürliche Infektionsgeschehen und der Inkaufnahme hoher Übersterblichkeitsraten auf der einen Seite bis zu strikten Auflagen des nach wissenschaftlicher Einschätzung möglichst effektiven Gesundheitsschutzes der Bevölkerung mit dem Ziel einer möglichst niedrigen Rate der epidemisch verursachten „Übersterblichkeit“ auf der anderen Seite.[1]

Die asymmetrische Beanspruchung der Bürgersolidarität auf Kosten gleichmäßig gewährleisteter subjektiver Freiheiten kann durch die Herausforderungen einer Ausnahmesituation gerechtfertigt sein.

Im internationalen Vergleich zeichnet sich die Coronapolitik der deutschen Regierung(en) durch einen relativ strengen, wenn auch nicht konsequent durchgesetzten Kurs aus. Die von Angela Merkel verfolgte Politik der Bundesregierung konnte sich dabei auf den mehr oder weniger einhelligen Rat der wissenschaftlichen Experten sowie auf die Medienpräsenz einzelner hartnäckiger Fachpolitiker (wie Karl Lauterbach) und einflussreicher Ministerpräsidenten (wie Markus Söder) stützen. Von geringfügigen Schwankungen abgesehen, ist dieser Regierungskurs von einer klaren Bevölkerungsmehrheit unterstützt worden. Allerdings ließ sich die Bundeskanzlerin bei der Verfolgung dieser Linie aufgrund ihres pragmatisch-abwartenden Regierungsstils vom vielstimmigen Einspruch der Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten ohne zwingenden Grund zwei Mal bremsen – bis sie schließlich angesichts der drastischen Folgen ihrer Führungsschwäche „die Notbremse“ gezogen hat. Wenn ich die öffentlich zugänglichen Informationen und Einschätzungen richtig deute, hätte eine strenger durchgehaltene Vorbeugung gegen den Ausbruch der zweiten und der dritten „Welle“ der Coronainfektionen sowohl weniger Tote als auch weniger lange anhaltende Kontaktbeschränkungen und damit geringere ökonomische Einbußen erfordert. Ob Regierung und Bevölkerung daraus für die Vermeidung einer vierten Welle gelernt haben, steht dahin.

Wie in anderen Ländern wurde die öffentliche Diskussion auch in der Bundesrepublik von den einschlägigen Themen beherrscht – von der jeweils drohenden Überlastung des Gesundheitssystems, von den vorbeugenden Hygiene- und Schutzmaßnahmen, dem Nachschub an Hilfsmitteln wie Masken, Tests, vor allem von der Entwicklung, Zulassung, Verteilung, kurzum der Verfügbarkeit der Impfstoffe. Eine genuin politische Dimension erhielt die Debatte jedoch erst durch den Streit über die rechtliche Zulässigkeit von Strategien und Maßnahmen im Kampf gegen die Pandemie. Dabei wurden allerdings die kontroversen Hintergrundannahmen, von denen sich die Verteidiger und die Gegner von mehr oder weniger strikten Auflagen haben leiten lassen, nicht deutlich deklariert.

In diesem Zusammenhang kann ich auf ein neues und für die nächste Zukunft ernstlich beunruhigendes Phänomen an dieser Stelle nicht genauer eingehen – ich meine die politisch aggressive und verschwörungstheoretisch begründete Verleugnung der pandemiebedingten Infektions- und Sterberisiken. Wegen ihres rechtsradikalen Kerns sind die scheinliberal begründeten Proteste der Corona-Leugner gegen die vermeintlich konspirativen Maßnahmen einer angeblich autoritären Regierung nicht nur ein Symptom für verdrängte Ängste, sondern Anzeichen für das wachsende Potential eines ganz neuen, in libertären Formen auftretenden Extremismus der Mitte, der uns noch länger beschäftigen wird.[2] In unserem Zusammenhang interessiert mich ein anderer Aspekt, unter dem sich politische Lager im Streit über die richtigen Maßnahmen der Pandemiebekämpfung ausgebildet haben, nämlich die Frage, ob der demokratische Rechtsstaat Politiken verfolgen darf, mit denen er vermeidbare Infektionszahlen und damit auch vermeidbare Todesfälle in Kauf nimmt.

Der Konflikt: Strengere oder laschere Präventivmaßnahmen?

In den Diskussionen über die geeigneten Strategien der staatlichen Gesundheitspolitik war von Anbeginn die Kritik der Wirtschaftsverbände und der FDP an der Erforderlichkeit und Eignung der restriktiven Vorbeugungsmaßnahmen bestimmend für die Profilierung gegensätzlicher politischer Lager.

Natürlich kamen im Streit über die Wahl zwischen lascheren oder strengeren Präventivmaßnahmen zu Recht auch andere Interessen zur Sprache – das breite Spektrum von Belastungen der besonders betroffenen Bevölkerungsgruppen von körperlich und psychisch gefährdeten Kindern, Alten und Vorerkrankten, von Schülern und Eltern, von Berufen, die einem besonderen Risiko ausgesetzt sind usw. Die vielstimmigen Einwände und Alternativvorschläge hätten klare normative Maßstäbe verlangt, anhand derer ihr Gewicht beurteilt werden kann. Tatsächlich aber ist die öffentliche Diskussion zum verfassungsrechtlichen Kern dieser durchaus verständlichen Kontroversen nicht wirklich vorgedrungen. Während sich die Verteidiger eines strengen Regierungskurses auf die Pflicht des Staates zum Gesundheitsschutz der Bevölkerung und den Rat der medizinischen Experten beriefen, haben die Fürsprecher der Lockerungslobby unter Berufung auf den öffentlichen Rat juristischer Experten die grundrechtlich geschützten subjektiven Freiheiten der Bürger gegen angeblich unnötige oder unverhältnismäßige Eingriffe des Staates eingeklagt.

Mich interessiert die Frage, ob die Prämisse dieser lautstarken Polemik stimmt; denn in der öffentlichen Diskussion stützte sich die Kritik auf die Annahme, dass es sich auch unter Bedingungen der Pandemie um eine ganz normale Abwägung des Rechts auf Leben gegen jene konkurrierenden Grundrechte handelt, in die ja die Maßnahmen des staatlichen Gesundheitsschutzes tatsächlich tief eingreifen. Interessanterweise sind in den ermüdenden Talkshows über die immer wieder gleichen Corona-Themen zwei grundsätzliche Fragen nicht ausdrücklich zur Sprache gekommen, die den politischen Streit erst ins rechte Licht gerückt hätten – nämlich weder die Frage nach der eindeutigen Zielbestimmung der staatlichen Gesundheitspolitik noch die Frage nach dem Gewicht der medizinischen Expertise unter dem rechtlich relevanten Aspekt der Ausnahmesituation einer solchen Gesundheitskatastrophe.

Welches Ziel hat der staatliche Gesundheitsschutz?

Das Bundesverfassungsgericht sieht zwar das Ziel der staatlichen Pandemiebekämpfung beiläufig darin, die Zahl der an Corona Infizierten und, davon abhängig, die Zahl der an Corona Gestorbenen so gering wie möglich zu halten. Aber in der politischen Öffentlichkeit ist dieses Ziel bestenfalls im Zusammenhang mit der konkreten Aufgabe erwähnt worden, die Behandlungskapazitäten der Krankenhäuser nicht zu überlasten. Diese Belastbarkeit des Gesundheitssystems wird bis heute stillschweigend als die „rote Linie“ akzeptiert, die nicht überschritten werden darf und die auf diese Weise zur Rechtfertigung hygienischer Einschränkungen dient. Demgegenüber ist die Frage, ob sich diese Zielbestimmung zur Operationalisierung der eigentlichen Aufgabe, nämlich die Todesfälle infolge von Corona-Infektionen zu minimieren, überhaupt eignet, nicht thematisiert worden.

Das Ziel, die Rate der auf Corona zurückzuführenden „Übersterblichkeit“ der Bevölkerung so niedrig wie möglich zu halten, deckt sich ja keineswegs mit dem Ziel zu verhindern, dass die Zahl der schwer erkrankten und behandlungsbedürftigen Corona-Patienten die Grenze der vorhandenen Betten und Beatmungsgeräte überschreitet. Das aber bedeutet faktisch eine Verschiebung der Zielbestimmung, mit der die eigentlich entscheidende Frage aus der politischen Öffentlichkeit verdrängt worden ist: ob denn ein demokratischer Verfassungsstaat bei der Verfolgung des Ziels der Pandemiebekämpfung überhaupt das Recht hat, Politiken zu wählen, mit denen er die vermeidbare Steigerung von Infektionszahlen und damit der wahrscheinlichen Anzahl von Sterbefällen stillschweigend in Kauf nimmt. Es bedarf jedenfalls keiner großen Phantasie, um sich vorzustellen, wie öffentliche Diskussionen verlaufen wären, wenn diese Frage in den zahllosen Fernsehdebatten verhandelt und in der Presse nicht nur vereinzelt aufgenommen worden wäre.[3]

Eine Herabstufung des Ziels der staatlichen Gesundheitspolitik von der Minimierung der Infektionszahlen auf die Sicherung von Behandlungskapazitäten gewährt der Abwägungspraxis der Gerichte einen größeren Spielraum.[4] Wenn sich die Erforderlichkeit einer staatlichen Präventivmaßnahme auf das weitgesteckte Ziel bezieht, die Infektionszahlen zu minimieren, sind nicht nur strengere Verhaltensvorschriften und Auflagen gerechtfertigt als bei dem weniger anspruchsvollen Ziel, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. Vielmehr drängt sich beim Vergleich dieser Ziele auch jene Grundsatzfrage auf, die tatsächlich im Hintergrund geblieben ist: ob die Verfassung eines demokratischen Rechtsstaats die Regierung im Hinblick auf das Minimierungsziel dazu verpflichtet, die Zahl der an Corona Verstorbenen so niedrig wie möglich zu halten.

Nur wenn diese Verpflichtung nicht besteht, gewinnt die Regierung mit der Inkaufnahme einer vorhersehbaren Zahl grundsätzlich vermeidbarer Todesfälle auch einen gewissen Spielraum für die Berücksichtigung anderer konkurrierender Rechtsansprüche. Denn die alternativen Zielbestimmungen stellen auch die Weichen für die gerichtliche Kontrolle staatlich verordneter Einschränkungen.[5] Sobald das Gericht die Erforderlichkeit einer Maßnahme mit Bezug auf das anspruchsvolle Minimierungsziel prüft, könnte es den Vorrang dieser Maßnahme nur gegen andernorts und anderweitig Leben gefährdende Nebenwirkungen „aufrechnen“, aber nicht gegenüber Ansprüchen aus konkurrierenden Grundrechten abwägen. Vielmehr würde sich die Abwägungspraxis dann im Wesentlichen auf die Einschätzung der Geeignetheit der kontroversen Maßnahme für das von vornherein als erforderlich anerkannte Ziel beschränken müssen. Diese strengere Zielbestimmung würde für die Corona-Rechtsprechung auf einen Prima-facie-Vorrang des Rechts auf Leben und Gesundheit vor allen übrigen Grundrechten hinauslaufen – auf einen Vorrang, den die Abwägungspraxis der Gerichte in normalen Zeiten nicht kennt. Aus diesem Grunde wollen manche Verfassungsrechtler in der Pandemie keine rechtlich relevante Ausnahmesituation erkennen; sie plädieren dafür, dem Recht auf Leben nur bei Gefahr der Überschreitung der roten Linie der Auslastung vorhandener Behandlungskapazitäten einen solchen Vorrang einzuräumen.

Es ist eine verfassungsrechtliche, in ihrem Kern rechtsphilosophische Frage, ob die Regierung eines Verfassungsstaates überhaupt das Recht hat, Politiken zu verfolgen, mit der sie eine wissenschaftlich vorhersehbare, also nach menschlichem Ermessen vermeidbare Steigerung der Infektions- bzw. Sterbezahlen in Kauf nähme.

Die unklare Zielbestimmung der staatlichen Gesundheitspolitik berührt auch die andere Frage nach dem Status wissenschaftlicher Expertisen. Medizinische Experten vergleichen die Erforderlichkeit und die Erfolgswahrscheinlichkeiten verschiedener Maßnahmen und warnen, in ihrer Rolle als politische Berater, die Politik vor den vorhersehbaren Konsequenzen der Unterlassung oder Abschwächung der epidemiologisch empfohlenen Maßnahmen. Natürlich hat auch in dieser Situation die beratende Wissenschaft keinen direkten Durchgriff auf politische Entscheidungen; Politik und Verwaltung, die bei der Umsetzung vorbeugender Maßnahmen eine Vielfalt praktischer Gesichtspunkte berücksichtigen müssen, behalten einen Spielraum für eine eigene Beurteilung des Rats von Experten (wobei diese sich freilich nicht auf die naturwissenschaftlichen Gründe selbst erstrecken darf). Andererseits hat die Politik bei der Gewichtung der medizinischen Expertise auch nicht einfach freie Hand. Es ist vielmehr eine verfassungsrechtliche, in ihrem Kern rechtsphilosophische Frage, ob die Regierung eines Verfassungsstaates überhaupt das Recht hat, Politiken zu verfolgen, mit der sie eine wissenschaftlich vorhersehbare, also nach menschlichem Ermessen vermeidbare Steigerung der Infektions- bzw. Sterbezahlen in Kauf nähme.

Eine Gruppe maßgebender Verfassungsrechtler bejaht diese Frage, weil diese mit der soeben behandelten rechtsdogmatischen Frage nach dem Prima-facie-Vorrang des staatlichen Gesundheitsschutzes zusammenhängt: „Selbstverständlich ist das Recht auf Leben kein ‚Supergrundrecht‘, […] er [der Staat] darf sogar bewusst in Kauf nehmen, dass Menschen aufgrund staatlicher Entscheidung von fremder Hand sterben.“ In unserem Fall wären also die tödlichen Viren „die fremde Hand“.[6] Auf die Stichhaltigkeit der dafür angeführten Beispiele komme ich noch zurück. In unserem Zusammenhang geht es den Autoren um die ausnahmslose Gleichrangigkeit aller Grundrechte: „Gesundheit und Leben reihen sich in die Gewährleistungen (von Rechtsgütern) ein, die das Grundgesetz so gut als möglich zu schützen bemüht ist, in einem ständigen, diskutablen und revidierbaren Prozess der Zuordnung, Abgrenzung, Hervorhebung und Zurücksetzung.“[7] Dieser Grundsatz kann jedoch in der Pandemie nur Geltung behalten, wenn der demokratische Rechtsstaat eine vermeidbare Übersterblichkeit in Kauf nimmt. Wie lässt sich diese Schwierigkeit auflösen?

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Darf die Regierung staatsbürgerliche Solidarleistungen erzwingen?

Die Parteigänger einer libertären Öffnungspolitik stützen sich in der öffentlichen Diskussion auf die akademischen Stimmen, die einen während der Pandemie grundsätzlich zu beachtenden Vorrang des staatlichen Gesundheitsschutzes bestreiten. Andererseits spiegelt sich diese Lehrmeinung in der bisher zu beobachtenden Rechtsprechung keineswegs wider. Soweit die im Internet zugänglichen Daten Schlüsse zulassen, haben die Gerichte inzwischen performativ eine klare Antwort gegeben.

Auch wenn es anfänglich ein gewisses Hin und Her gegeben hat, haben in der Bundesrepublik die Gerichte ganz überwiegend Klagen gegen die gesundheitspolitischen Eingriffe in die Grundrechte der Bürger abgewiesen. Aus den einschlägigen Urteilen lässt sich herauslesen, dass in der Pandemie geeignete Maßnahmen des staatlichen Gesundheitsschutzes vor konkurrierenden Grundrechten Vorrang genießen,[8] auch wenn in der Theorie bestritten wird, dass das Ziel der Pandemiebekämpfung einen solchen Prima-facie-Vorrang rechtfertigt. Nach Angaben des Richterbundes sind schon zu Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 über 600 einschlägige Gerichtsentscheidungen ergangen, die in etwa neun von zehn Fällen die staatlichen Auflagen bestätigt haben. Diese Tendenz hat sich im Laufe des Jahres 2020, währenddessen mehr als 10 000 Corona-Fälle verhandelt worden sind, verstärkt, wie unter anderem am Beispiel von maßgebenden Entscheidungen des nordrhein-westfälischen Oberverwaltungsgerichts zu belegen ist. Das Bundesverfassungsgericht hat bis zur sogenannten Notbremse und darüber hinaus alle Klagen und Eilanträge gegen gesetzliche Corona-Vorschriften abgewiesen.[9]

Natürlich gibt es gegen das Vorgehen der Regierung rechtspolitische Einwände von Gewicht; so ist beispielsweise die Kritik an der (in solchen Notlagen allerdings nicht ungewöhnlichen) Marginalisierung des Gesetzgebers vonseiten einer Exekutive, die schnell handeln musste, teilweise berechtigt. Der Bundestag hat sich das Heft stärker, als es nötig gewesen wäre, aus der Hand nehmen lassen. Und sicher waren auch manche Maßnahmen trotz der Erforderlichkeit ihres Ziels ungeeignet. Aber das ungelöste Problem, wie der stillschweigend praktizierte Vorrang des staatlichen Gesundheitsschutzes zu rechtfertigen ist, verweist auf die besondere Situation, dass in der Bundesrepublik seinerzeit das Notstandsrecht auf den Kriegsfall und die militärischen Erfordernisse begrenzt worden ist, so dass eine Pandemie von diesen Regelungen nicht erfasst wird. Für diese Fälle ist vielmehr das inzwischen novellierte und ergänzte Infektionsschutzgesetz zuständig. Ein einfaches Gesetz kann dem Staat keine Notstandsbefugnisse einräumen. Dieser muss in Deutschland angesichts einer Pandemie die außerordentlichen Herausforderungen ohne pauschale Notstandsautorisierungen bewältigen.[10] Gleichzeitig ist aber die Regierung zur Eindämmung der Ansteckungsgefahr auf die Kooperation der ganzen Bevölkerung angewiesen. Und dabei greifen die erforderlichen Beistandsleistungen nicht nur flächendeckend und tief in viele verschiedene Grundrechte ein. Diese belasten vielmehr, indem sie über die generellen, alle Bürger gleichermaßen betreffenden Auflagen hinausgehen, verschiedene Gruppen auf jeweils spezifische Weise. Anhand der politischen Forderungen, der gerichtlichen Klagen und der staatlich gewährten Kompensationen sind diese unterschiedlichen, aber funktional notwendigen Belastungen leicht zu identifizieren. Für die rechtliche Beurteilung der Ausnahmesituation ist das ein wichtiger Gesichtspunkt.

Die Belastungen können in der Bevölkerung nicht gleichmäßig verteilt werden, widersprechen also dem Gleichbehandlungsgrundsatz und greifen vor allem so tief in die grundrechtlich gesicherten subjektiven Freiheiten ein, dass sie unter normalen Umständen – eben ohne den durch die Pandemie aufgenötigten Vorrang des staatlichen Lebensschutzes – nur als grundsätzlich freiwillig erbrachte Solidarleistungen erwartet, vielleicht sogar gefordert werden könnten, aber kaum gesetzlich verordnet werden dürften. Aber weil der Staat als der einzige kollektiv handlungsfähige Akteur die erforderlichen Maßnahmen effektiv planen muss und diese nur auf dem Wege der arbeitsteiligen Koordinierung der für einzelne Sektoren der Gesellschaft verschiedenen Verhaltensvorschriften in der Gesamtheit der Bevölkerung organisieren und durchsetzen kann, ist er schon aus funktionalen Gründen genötigt, Solidarleistungen, die sonst nur angedacht werden können, zwingend vorzuschreiben. Dieses Dilemma erklärt auch die materiellen Kompensationen, die der Staat im Rahmen des Möglichen so fair wie möglich leistet. Die Kollision zwischen der Verpflichtung zum Lebensschutz und konkurrierenden Grundrechten, in die der Staat im aktuellen Fall eingreifen muss, resultiert für die Bürger in selektiv verteilten Zumutungen an die Bereitschaft, Beistand und Hilfe zu leisten.

Welche Konsequenzen ergeben sich für das Verfassungsrecht aus diesem Dilemma? Die erwähnten juristischen Stellungnahmen legen die Interpretation nahe, dass die einfachgesetzliche Regelung dieses Katastrophenfalls den Gerichten im Falle der vorliegenden Kollisionen zwischen staatlichem Gesundheitsschutz und Eingriffen in eine Vielfalt von wichtigen Grundrechten nichts anderes erlaubt als die übliche Praxis der Abwägung zwischen Grundrechten, von denen keines gegenüber anderen privilegiert ist. Damit erledigt sich aber nicht die Frage nach der Verpflichtung des Staates zur Organisation staatsbürgerlicher Solidarleistungen sowie die Frage nach der Grenze ihrer rechtlichen Erzwingbarkeit. Auch wenn wir der Praxis der Rechtsprechung in Corona-Fällen eine implizite Antwort entnehmen können, fehlt die Explikation des Maßstabs für Art und Umfang der Solidarleistungen, die der demokratische Rechtsstaat seinen Bürgern in der Pandemie zumuten darf. Und darf er diese auch strafbewehrt vorschreiben?

Darf die Regierung eine vermeidbare Steigung der Übersterblichkeit in Kauf nehmen?

Der während der Pandemie von den Gerichten im Allgemeinen praktizierte Vorrang des staatlichen Gesundheitsschutzes erklärt sich nicht per se aus der Notwendigkeit, dass der Staat die Pandemie nicht ohne den solidarischen Beistand der Bürger bekämpfen kann. Denn normativ betrachtet, ergibt sich ein solcher Vorrang erst unter der Voraussetzung, dass es mit der Verfassung eines demokratischen Rechtsstaats unvereinbar ist, angesichts pandemischer Herausforderungen eine vermeidbare Steigerung von „naturwüchsigen“ Infektions- und Todesraten in Kauf zu nehmen. Wir haben gesehen, dass namhafte Verfassungsrechtler das sehr wohl für unbedenklich halten. Allerdings überzeugen mich die dafür angeführten Beispiele nicht.

So soll etwa die Bundesregierung im Falle der Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer durch die RAF bewusst in Kauf genommen haben, „dass Menschen aufgrund staatlicher Entscheidung von fremder Hand sterben“.[11] Zwar mag die Zurückweisung der erpresserischen Forderungen nach einem Austausch der RAF-Gefangenen für die Terroristen ein Grund dafür gewesen sein, so zu handeln, wie sie gehandelt haben; aber die Regierung hat die Terroristen durch ihre Ablehnung keineswegs zu dieser Konsequenz genötigt. In diesem Fall lag kein ursächlicher Zusammenhang vor, wie er dann vorläge, wenn die Regierung als voraussehbare Folge ihrer eigenen politischen Entscheidungen eine vermeidbare Anzahl individuell unbestimmter Erkrankungen und Todesfälle in Kauf nähme. Das Verbot der Rettungsfolter verrät vielmehr die Logik, wonach es dem Staat versagt ist, die Gefährdung von Gesundheit und Leben eines Bürgers als Folge eigenen politischen Handelns in Kauf zu nehmen. Wenn der Staat im Falle eines Bankraubes das Leben von Geiseln nicht ohne die Gefährdung des Lebens eines Geiselnehmers retten kann, greift er ein, um seiner Pflicht zu genügen, das Leben eines unschuldigen und aktuell schutzbedürftigen Bürgers zu gewährleisten.

In unserem Zusammenhang kommt es überhaupt auf etwas anderes an. Denn die Pflicht des Staates, das von dritter Seite bedrohte Recht einer Person auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu gewährleisten, bezieht sich wie bei fast allen anderen Grundrechten auf die Rolle des Staates, die Individualrechte seiner Bürger zu schützen. Demgegenüber ist das staatliche Handeln bei der politischen Verfolgung kollektiver Ziele selbst an Pflichten gebunden, unter anderem an die Pflicht, alle Strategien auszuschließen, bei denen er Gefahr läuft, die wahrscheinliche Gefährdung von Leben und körperlicher Unversehrtheit einer vorhersehbaren Anzahl unschuldiger Bürger in Kauf zu nehmen, also selber zu verursachen.

Dementsprechend greift der Staat im Falle des „finalen Rettungsschusses“ als der neutrale Hüter des Rechts in einen lebensgefährlichen Streit zwischen einzelnen Personen ein, während er heute in der Rolle eines politischen Akteurs bei der Verfolgung kollektiver Ziele die Verantwortung für mögliche Nebenfolgen des eigenen Handelns trägt; in dieser Rolle hat er die Pflicht, nach Möglichkeit alles zu vermeiden, was das Leben von Bürgern aufs Spiel setzt. Denn die Rechtmäßigkeit, an die das politische Handeln des Verfassungsstaates gebunden ist, begründet sich aus seinem eigenen, auf Grundrechten basierten Rechtssystem. Dieses Recht deckt sich zwar weder dem Inhalt noch der Form nach mit dem der Moral; bei weitem nicht alles, was die Moral gebietet, findet Eingang in das Medium des Rechts, weil dieses nicht länger auf Pflichten, sondern auf subjektiven Rechten aufgebaut ist. Andererseits darf jedoch nichts, was rechtlich geboten ist, gegen moralische Gebote verstoßen. Das ergibt sich zwingend aus dem bemerkenswerten Umstand, dass die Grundrechte, auf denen dieses Recht basiert, zwar die Form subjektiver Rechte, aber einen moralischen Inhalt haben – sie zeichnen sich nämlich vor den übrigen Rechtsnormen dadurch aus, dass sie mit Hilfe moralischer Gründe allein gerechtfertigt werden können.

Gleichwohl wehren sich die erwähnten Verfassungsrechtler nicht ohne Grund gegen eine Privilegierung des staatlichen Lebens- und Gesundheitsschutzes; denn dieser verlangt von der Bevölkerung ungleich verteilte solidarische Leistungen, die nur um den Preis tiefer und unausgewogener Eingriffe in eine erhebliche Anzahl konkurrierender Grundrechte durchzusetzen sind. Der Prima-facie-Vorrang eines Rechts, und sei es noch so hochrangig wie das auf Leben und Gesundheit, blockiert – für die Dauer einer solchen Katastrophe – die vorbehaltlose Abwägung zwischen allen grundsätzlich gleichmäßige Berücksichtigung beanspruchenden Grundrechten, obwohl die staatlich sanktionierte Gewährleistung der Grundrechte in ihrer Gesamtheit die Raison d‘être des Rechtsstaates ist.

Der demokratische Rechtsstaat ist keine moralische Anstalt, sondern ein mit Mitteln des modernen Zwangrechts verfasstes Gemeinwesen. Es gehört zum intrinsischen Sinn der rechtsstaatlichen Verfassung, dass sich die Bürger als individuelle Angehörige nach allgemeinen Gesetzen genau die Rechte gegenseitig zugestehen und legal gewährleisten, die den Kern ihrer jeweils eigenen subjektiven Freiheiten bilden. Dies ist letztlich auch der Grund, warum die ungleichmäßig verteilten Einschränkungen und Leistungen, mit denen der Staat in der Pandemie seine Bürger belastet, auch dann, wenn sie aus funktionalen Gründen verordnet werden müssen, von Haus aus den eigentümlichen Charakter eines freiwilligen Beitrags des Einzelnen zur kollektiven Bewältigung einer von allen befürworteten politischen Aufgabe behalten!

Solidarität des Staatsbürgers und Privatautonomie der Rechtsperson

Am intrinsisch freiwilligen Charakter dieser Leistung ändert die Hülle des Rechtszwangs, in die der erwartete Solidarbeitrag eingekleidet wird, nichts. Eine Solidaritätserwartung unterscheidet sich von einer moralischen Pflicht, die der Adressat, ohne Ansehung nachteiliger Folgen für sich selbst, befolgen soll; sie ist auch keine ethische Wertorientierung, die Freunde, Familienmitglieder oder Nachbarn, also Angehörige eines informellen sittlichen Lebenszusammenhanges miteinander teilen. Das solidarische Verhalten, das Staatsbürger voneinander erwarten dürfen, wird vielmehr getragen von dem reziproken Vertrauen auf die Bereitschaft des anderen, sich in Zukunft ebenso zu verhalten, sobald sich eine ähnliche Situation mit anderer Rollenverteilung ergeben sollte. Wie alle normativen Bindungen überbrückt auch die Solidarität einen Zeitenabstand; aber sie gründet sich auf die Erwartung eines reziproken Verhaltens, zu dem der andere in einer unbestimmten Zukunft bereit sein wird.

Die Aporie zwischen Rechtszwang und Solidarität ergibt sich daraus, dass in der Pandemie eine in der Verfassung selbst angelegte Spannung zwischen den beiden tragenden Verfassungsprinzipien aufbricht – zwischen der Volkssouveränität einerseits und der Herrschaft der Gesetze, die subjektive Freiheiten gleichmäßig gewährleistet, andererseits. Freilich manifestiert sie sich in Ausnahmesituationen nicht in Gestalt jener von Tocqueville herausgearbeiteten Spannung zwischen demokratischem Mehrheitswillen und unveräußerlichen subjektiven Rechten. Angesichts einer ungewöhnlichen akuten Herausforderung der kollektiven Handlungsfähigkeit des Staates wird vielmehr die Gemeinschaft der Staatsbürger in besonderem Maße beansprucht; dadurch entsteht eine Asymmetrie zu den selbstbezogenen Ansprüchen, zu denen sich dieselben Bürger in ihrer Rolle als privatautonome Rechtsgenossen im Besitze ihrer grundrechtlich gewährleisteten subjektiven Freiheiten berechtigt fühlen. Es ist nun wichtig zu sehen, dass diese beiden Momente mit der Gründung der Verfassung, also im Akt der ursprünglichen demokratischen Vergemeinschaftung, eine fortwirkende Verbindung eingehen; denn alle folgenden Generationen setzen diesen Gründungsakt fort, indem sie das Recht zur Auswanderung ausschlagen. Damit bekräftigen sie implizit ihre Zustimmung zur Verfassung und verpflichten sich, unter jeweils veränderten historischen Umständen den normativen Gehalt der geltenden Verfassungsprinzipien angemessen auszuschöpfen.

Was in unserem Zusammenhang interessiert, ist der Umstand, dass in dieser Bereitschaft beides gleichursprünglich angelegt ist: Einerseits enthält die im Gründungsakt und dessen Fortsetzung implizit bezeugte Bereitschaft zum politischen Zusammenleben auch das Bekenntnis zu der Solidarität, die sie sich als Bürger ihres politischen Gemeinwesens über das hinaus schulden, wozu sie in ihrer Rolle als private Rechtsgenossen verpflichtet sind. Das manifestiert sich unter anderem darin, dass eine Demokratie schon bei jeder normalen Wahl von ihren Bürgern ein Moment gemeinwohlorientierten Handelns, in wie kleiner Dosierung auch immer, erwarten muss. Andererseits ist das wesentliche politische Ziel der ursprünglichen Vereinigung die Gründung einer staatlich sanktionierten Rechtsordnung, die allen Bürgern genau jene subjektiven Freiheiten gewährleistet, die sie sich demokratisch selber gegeben haben. Dadurch gewinnt jede Person eine rechtlich gesicherte Sphäre privater Autonomie, innerhalb deren sie ohne irgendeine Verpflichtung zu kommunikativer Rechenschaft tun und lassen kann, was sie will.

Dieses komplementäre Verhältnis zwischen der Selbstermächtigung der Staatsbürger zur Gemeinsamkeit des politisch autonomen Handelns einerseits und der privaten Freiheit der Rechtspersonen, zu tun und zu lassen, was sie wollen, andererseits, wird jedoch in Ausnahmesituationen gestört. Und zwar immer dann, wenn der Staat zur Bewältigung einer außergewöhnlichen kollektiven Anstrengung über das übliche Maß hinaus auf Solidarleistungen seiner Bürger angewiesen ist.

In der Pandemie ist es der Vorrang des staatlichen Gesundheitsschutzes, der zum Nachdenken über das Verhältnis von Politik und Recht nötigt. Während das Recht das Medium zur Gewährleistung subjektiver Freiheiten ist, ist die Politik das Mittel der kollektiven Zielverwirklichung, das in der Ausnahmesituation Vorrang beansprucht. Dann müssen freilich die Bürger auf die Stabilität der Verfassung vertrauen dürfen – also darauf, dass die Regierung das gesundheitspolitisch begründete Regime der gesetzlich verordneten Solidaritätsleistungen nicht über die aktuelle Gefahrensituation hinaus verstetigt; denn in der komplementären Ergänzung und gegenseitige Stabilisierung der beiden Verfassungsprinzipien liegt das Geheimnis jenes demokratischen Rechtsstaates, der durch politische Vergemeinschaftung der Bürger zugleich deren Individualisierung ermöglicht.

Ohne die Möglichkeit der Rückversicherung des zwingenden Rechts in der Solidarität der Bürger kann der demokratische Rechtsstaat keinen politischen Bestand haben. Demgegenüber muss der Staat im Kriegs- oder Katastrophenfall, oder wenn es sich wie in der Pandemie um eine Herausforderung vonseiten unbeherrschter Naturprozesse handelt, gegen eine von außen kontingent einbrechende und das Kollektiv – als ganzes oder in Teilen – überwältigende Gefahr außerordentliche und gegebenenfalls asymmetrisch beanspruchte solidarische Kräfte der Bürger aufbieten.

Dann freilich sind diese außerordentlichen Solidarleistungen der Bürger als solche kaum noch zu erkennen. Zwar werden sie immer noch als staatsbürgerlicher Beitrag zu einer demokratisch beschlossenen kollektiven Anstrengung anerkannt; aber sie verlieren ihren freiwilligen Charakter, weil sie vom Staat, wenn auch mit gesetzlicher Ermächtigung, schon allein aus funktionalen Gründen mit Rechtszwang „erhoben“ werden müssen. An der Legitimität dieser zwingend vorgeschriebenen Solidarleistungen ist kein Zweifel, wenn ein vom Gesetzgeber legitimierter Wille darüber entscheidet, welchen Bürgern welche Belastungen zugemutet werden müssen, um nicht eine vermeidbare Steigerung von Infektions- und Todesraten in Kauf nehmen zu müssen.

Wie ist der Vorrang des staatlichen Lebens- und Gesundheitsschutzes zu verstehen?

Bei Betrachtung der aktuellen Ausnahmesituation ist ebenso wenig daran zu zweifeln, dass der Staat die außerordentliche kollektive Anstrengung der Bürger mit einem temporären Rückfall unter das rechtliche Niveau reifer Demokratien erkauft. Da nun das Grundgesetz für den Fall einer solchen Ausnahmesituation keine Notstandsregelungen kennt, bleibt noch die Frage, ob und wie sich der zeitlich begrenzte Prima-facie-Vorrang des staatlichen Lebens- und Gesundheitsschutzes auf rechtsdogmatischem Wege begründen lässt.

Ich kann in dieser Hinsicht, da ich kein Jurist bin, nur eine Anregung geben. Die Grenze, die die Persönlichkeitsrechte in der Pandemie an gesetzlich vorgeschriebenen Solidarleistungen finden, dürfte kaum mit einem aus dem Individualrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit abgeleiteten staatlichen Lebensschutz gerechtfertigt werden können. Denn der Auslöser für die Intervention des Staates ist nicht die Gefährdung von Leben und Gesundheit eines jeweils bestimmten Individuums, sondern ein statistisch abzuschätzendes Infektions- und Sterberisiko für die Bevölkerung im Ganzen, das den Staat zum Handeln nötigt.

Nach meiner Vorstellung aktiviert eine solche Gefahr nicht ein bestimmtes Persönlichkeitsrecht, sondern ruft in Erinnerung, wozu ein auf Menschenrechte basiertes staatliches Regime überhaupt eingerichtet worden ist. In der Tradition des Vernunftrechts sollte dieses Ziel plastisch mit dem Übergang vom Natur- zum Gesellschaftszustand beschrieben werden. Für Hobbes ist der gewaltsame Tod das größte Übel, für Locke sind es die Gefahren für Leben, Freiheit und Eigentum; die Staatsgewalt soll also mit dem Rechtszustand die Sicherheit und den Bewegungsspielraum aller Personen und des gesellschaftlichen Verkehrs im Ganzen gewährleisten. Rousseau und Kant moralisieren und verrechtlichten die zunächst empiristisch begriffenen Größen der politischen Macht und der Rechtsperson, so dass fortan die rechtliche Anerkennung und der rechtlich gewährleistete Schutz der Autonomie und Würde aller Personen als der Kern eines Menschenrechtsregimes bestimmt wird. So bilden denn auch die Menschenwürde und die zwingende Verbindlichkeit der Grundrechte den Inhalt von Artikel 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Er verbürgt die Unantastbarkeit der Würde jedes Menschen und die Unveräußerlichkeit der Menschenrechte als Grundlage jeder menschlichen Gesellschaft. Das ist der normative Kern einer Lebensform, die im Medium des Rechts Individuierung durch politische Vergemeinschaftung gewährleisten soll.

Diese vernunftrechtliche Sublimierung des Sinns der politischen Vergemeinschaftung schließt aber den handfesten Schutz der physischen Unversehrtheit des Menschen als Basis der Unantastbarkeit der Menschenwürde der Person ein – die eine impliziert die andere: Man kann nicht die Würde einer Person schützen wollen und deren Physis versehren lassen. Die im ersten Satz des Grundgesetzes gewährleistete Unantastbarkeit der Menschenwürde bliebe ein flatus vocis, wenn sich diese nicht in Personen aus Fleisch und Blut – als Trägern von Grundrechten – verkörperte. Daher setzen die in den folgenden Artikeln 2 ff. im einzelnen genannten Grundrechte, die die Unantastbarkeit der Würde der Person ausbuchstabieren, die Schutzwürdigkeit des Lebens dieser Person voraus. Diese begriffliche Implikation kommt freilich in ihrer distinkten, vom Persönlichkeitsrecht der einzelnen Person auf Leben (Art. 2, Abs. 2) unterschiedenen Bedeutung einer staatlichen Schutzpflicht erst in dem Maße zu Bewusstsein, wie der Fortschritt der medizinischen Wissenschaft und die Entwicklung eines hochkomplexen und leistungsfähigen Gesundheitssystems die staatlich mobilisierbaren Vorsorge- und Behandlungsmöglichkeiten radikal erweitert haben. Dieser Umstand wirft die rechtsdogmatische Frage auf, wie man den Wortlaut des Grundgesetzes verstehen will: ob man die Pflicht des Staates zum Lebensschutz seiner Bürger wie bisher indirekt (und wie sich heute zeigt, auf missverständliche Weise) als „Aktivierung“ aus Artikel 2, Absatz 2, Satz 1 begründet, oder ob man diese mit Hinweis auf eine historische Entwicklung, die auf geltende normative Gehalte ein neues Licht wirft und wesentliche Konsequenzen dieser Entwicklung heute erst sichtbar macht, als begriffliche Implikation aus Artikel 1, Absatz 1, Satz 2 ableitet.[12] Die derart für den Zeitraum der Pandemie gerechtfertigten Maßnahmen könnten wohl nur von Corona-Leugnern als Auswuchs einer Biopolitik verteufelt werden.

Die Langfassung dieses Beitrages wird voraussichtlich 2022 in einem von Klaus Günther und Uwe Volkmann herausgegebenen Sammelband mit dem derzeitigen Titel „Freiheit und/oder Leben: Das Abwägungsproblem der Zukunft?” im Suhrkamp Verlag erscheinen.

[1] Natürlich ist der Spielraum des staatlichen Gesundheitsschutzes vom Entwicklungsstand eines Landes abhängig – vom Fortschritt der medizinischen Wissenschaft wie dem Aufbau eines leistungsfähigen Gesundheitssystems. Erst mit diesen Kapazitäten kommen die staatlich mobilisierbaren Vorsorge- und Behandlungsmöglichkeiten politisch zu Bewusstsein. Und erst in dem Maße, wie sich der gesundheitspolitische Spielraum erweitert, hat das früher als natürlich geltende Risiko, verletzt zu werden oder sich anzustecken und an einer Krankheit zu sterben, in vielen Fällen – und so auch in der gegenwärtigen Pandemie – seine schicksalhafte Unabwendbarkeit verloren. Erst unter diesen Voraussetzungen wird die Politik der Nichtintervention, die dem Naturschicksal der ungehinderten Verbreitung des Virus seinen Lauf lässt, zu einer unter mehreren Optionen.

[2] Vgl. den jüngsten Bericht des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes; dazu Reiner Burger, Extremismus der Mitte, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ), 23.6.2021.

[3] Zu den Ausnahmen gehört Thomas Assheuer, Menschenopfer für den Kapitalismus, in: „Die Zeit“, 21.4.2020.

[4] Dietrich Murswiek, Die Corona-Waage – Kriterien für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Corona-Maßnahmen, in: „Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht“, 5/2021, S. 1-15, S. 3 ff.

[5] Ebd., S. 3 Spalte 1: „Die Verhältnismäßigkeit Freiheiten einschränkender Maßnahmen lässt sich nur in Bezug auf das jeweils mit ihm verfolgte Gemeinwohlziel beurteilen. Die Überlastung des Gesundheitssystems (also vor allem die Überlastung der Intensivstationen mit der Folge von Triage-Situationen) zu vermeiden, ist ein anderes Ziel als die Minimierung der Zahl der Corona-Toten.“

[6] Hans Michael Heinig, Thorsten Kingren, Oliver Lepsius, Christoph Möllers, Uwe Volkmann, Hinnerk Wißmann, Verfassungswissenschaft in Zeiten der Corona-Krise, in: „Juristenzeitung“, 18.9.2020, S. 861-912, hier S. 864.

[7] Ebd.

[8] Die folgenden exemplarischen Angaben sind das Ergebnis einer groben Internetrecherche.

[9] Darunter war interessanterweise auch ein Eilantrag mit dem Ziel, eine Regelung für Triage-Situationen herbeizuführen, den das BVerfG zu Recht abgewiesen hat, weil es schon aus moraltheoretischen Gründen überhaupt keine verbindlichen Lösungen für tragische, also für solche Fälle geben kann, die moralisch „schuldloses“ Handeln ausschließen.

[10] Neben einzelnen Verwaltungsgerichtsurteilen, die Corona-Verordnungen aufgehoben haben, ist es wohl vor allem die fehlende Regelung solcher Ausnahmesituationen, die den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann zu einem unglücklichen Vorstoß für die Einsetzung einer Enquete-Kommission des Bundestages veranlasst haben, die über situationsabhängige Ermöglichung „allgemeiner Grundrechtseinschränkungen“ beraten solle. Sein Motiv ist ebenso berechtigt, wie der Vorschlag selbst juristisch in die Irre führt: „Wenn wir frühzeitig Maßnahmen gegen die Pandemie ergreifen, die sehr hart und zu diesem Zeitpunkt womöglich unverhältnismäßig gegenüber den Bürgern sind, dann können wir eine Pandemie schnell in die Knie zwingen.“ (FAZ vom 26.6.2021).

[11] Heinig u.a., a.a.O.

[12] Diese Interpretation des staatlichen Lebensschutzes als Implikation des gebotenen Schutzes der menschlichen Würde haben Klaus Günther und ich gemeinsam entwickelt; in: „Die Zeit“, 7.5.2020.

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