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Tscherkassy – Hitler und Stalin nannten es Sieg

Nachdem die Rote Armee 1944 mehrere Divisionen bei Tscherkassy-Korsun eingeschlossen hatte, befahl Hitler das Halten der „Festung“. Stalin verlangte ein zweites „Stalingrad“. Der Rest war Propaganda.
Freier Autor Geschichte

Am 8. März 1944 berichtete die „Deutsche Wochenschau“ gleich in zwei Filmbeiträgen über die Kämpfe bei Tscherkassy. In beiden Fällen schwang Siegespathos mit. Propagandaminister Goebbels ließ sich von Stoßtruppkämpfern berichten, wie sich ihre Einheit nach dreiwöchiger Einschließung „in ihrer Gesamtheit“ zu den deutschen Linien durchgekämpft hätten. Und dem wallonischen SS-Führer Léon Degrelle wurde bescheinigt, maßgeblich an der Befreiung der deutschen Kampfgruppe bei Tscherkassy beteiligt gewesen zu sein.

Zwei Wochen zuvor, am 20. Februar, hatte Stalin Iwan Stepanowitsch Konew als ersten Front-General zum Marschall der Sowjetunion ernannt, weil er, wie es hieß, genau das hatte verhindern können. „Kein einziger deutscher Soldat ... (sei) nirgendwo an der äußeren und inneren Front durchgekommen“, behauptete Konew noch in seinen Memoiren. Während die sowjetische Propaganda das Bild eines „Stalingrad am Dnjepr“ verbreitete, erfuhren die deutschen Truppen, die die Kämpfe überlebt hatten, dass sie einen „großen Sieg erfochten“ hätten.

Erst nach der Öffnung der sowjetischen Archive in den Neunzigerjahren konnte diese gegensätzlichen Darstellungen plausibel aufgelöst werden. Die Deutschen hatten sich aus einer dramatischen Umklammerung lösen, die sowjetischen Truppen hatten verschiedene Entsatzangriffe der Wehrmacht abwehren können. Vor allem aber ging es Hitler und Stalin darum, ihre zum Teil grotesken Fehler zu kaschieren, die für die großen Verluste auf beiden Seiten verantwortlich waren.

Die Schlacht von Tscherkassy-Korsun – oder, wie sie in der sowjetischen Geschichtsschreibung heißt, die Korsun-Schwetschenkiwskyjer-Operation – war eine der zahlreichen Offensiven, mit denen die Rote Armee im Winter 1943/44 die deutsche Ostfront zum Einsturz zu bringen suchte. Dabei unterstützte sie der deutsche Diktator nach Kräften. Nachdem es den sowjetischen Truppen auf breiter Front gelungen war, die „Panther-Linie“ am Dnjepr zu durchstoßen, war der rund 70 Kilometer lange „Frontbalkon von Kanew“ nordwestlich von Tscherkassy der einzige Abschnitt, der von der Wehrmacht am westlichen Flussufer noch gehalten wurde. Von hier aus wollte Hitler im Frühjahr eine Großoffensive Richtung Kiew eröffnen.

Was Clausewitz „Friktionen“ nannte

Obwohl das Oberkommando der deutschen Heeresgruppe Süd alles tat, um den „Führer“ von dieser „völlig irrealeen“ Absicht abzubringen, befahl dieser, den Abschnitt unter allen Umständen zu halten. Diese Aufgabe fiel zwei ausgedünnten Armeekorps zu, gegen die die Stawka, das sowjetische Hauptquartier, zunächst 336.000 Soldaten, 524 Panzerkampfwagen und 1054 Flugzeuge zusammenzog, die zudem laufend verstärkt wurden. Mit jeweils einer Front, also einer Heeresgruppe, sollte der „Frontbalkon“ von den Flanken her abgeschnürt werden. Am 24. Januar begann der Angriff, wenige Tage später waren die deutschen Einheiten in einem Kessel von 70 Kilometern Durchmesser eingeschlossen. Bitten um rechtzeitigen Rückzug hatte Hitler verworfen.

Umgehend häuften sich die Friktionen, wie der preußische Militärtheoretiker Carl von Clausewitz die unvorhersehbaren Schwierigkeiten im Kriege genannt hat. Die sowjetische Führung ging davon aus, dass sich im Kessel zehn Divisionen mit 230 Panzern befinden würden, und agierte entsprechend vorsichtig. Tatsächlich waren es nur sechs ausgedünnte Divisionen mit gut 50.000 Mann und 40 einsatzbereite Panzer und Sturmgeschütze. Zahlreiche Verbände hatten sich vor der drohenden Einschließung in Sicherheit bringen können.

Während der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Süd, Erich von Manstein, einen begrenzten Entsatz der Eingeschlossenen vorbereitete, erklärte Hitler den Kessel Tscherkassy-Korsun zur „Festung am Dnjepr“ und befahl, mit einer weiträumigen Großoffensive die sowjetischen Heeresgruppen zu umfassen und zu vernichten. Anstatt der deprimierenden Realität des Frühjahrs 1944 ins Auge zu blicken, hatte sich der Diktator in die Gedankenwelt von 1941 verirrt, wo derartige Kesselschlachten auf deutscher Seite noch möglich waren, schreibt der Historiker Karl-Heinz Frieser. Dennoch blieb es dabei. Bis zum Angriff sollten die Truppen aus der Luft versorgt werden.

Das war bekanntlich schon in Stalingrad gescheitert, und da hatte die Rote Armee noch nicht die Luftüberlegenheit besessen. Tatsächlich gelang es in den folgenden Wochen nur, 78 statt der erforderlichen 150 Tonnen Nachschub in den Kessel zu fliegen.

Bereits im Februar kam der Schlamm

Auch die Truppen, mit denen Manstein seinen Angriff führen sollte – zwei Panzerkorps mit neun Panzer-Divisionen, darunter Einheiten mit „Tiger“- und „Panther“-Panzern – verfügten über eine beachtliche Papierform. Der Nachteil war nur, dass sie an anderen Stellen im Einsatz waren, um drohende Durchbrüche zu verhindern. Längst war die Rote Armee nämlich in der Lage, an verschiedenen Stellen der Front Schwerpunkte zu bilden – eine Fähigkeit, die die Wehrmacht seit ihrem Scheitern vor Kursk im Sommer 1943 längst verloren hatte.

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Als der deutsche Angriff begann, spielte das Wetter auf einmal nicht mehr mit. Bereits Anfang Februar stieg das Thermometer über Null Grad, die gefürchtete Schlammperiode, die normalerweise erst im April einsetzt, begann. Normalerweise kamen während der Rasputica die Kämpfe zum Erliegen. Nun aber quälten sich die Panzer durch den Schlamm. Man hat errechnet, dass ein „Panther“ für vier Kilometer seinen Tankinhalt von 730 Liter verbrauchte. Der Nachschub musste zu Fuß in Kanistern herangeschafft werden, wobei die Soldaten oft im Schlamm ihre Stiefel verloren.

Auch Stalin hatte seine Probleme. Weil die Liquidation des deutschen Kessels, deren Vollzug die Propaganda bereits gemeldet hat, auf sich warten ließ, nahm er das großspurige Angebot General Konews an, der seine Generalskollegen als unfähig desavouierte und sich anheischig machte, allein mit seiner 2. Ukrainischen Front die „Gruppierung bei Korsun“ zu vernichten. So kam es, dass große Teile der sowjetischen Truppen gar nicht in die entscheidenden Kämpfe eingriffen.

Nachdem der Frost zurückgekehrt war, begann der deutsche Vormarsch, lief sich jedoch am Abend des 16. Februar vor der sogenannten „Höhe 239“ fest, weil den Panzern der Treibstoff ausging. Daraufhin gab Manstein, ohne sich bei Hitler rückzuversichern, den Eingeschlossenen den Befehl, „aus eigener Kraft“ auszubrechen. Acht Kilometer trennten sie von den deutschen Linien. Dazwischen lag die Höhe, die die Rote Armee mit Panzern und Geschützen bestückt hatte, um einen Ausbruch der Deutschen zu verhindern.

Auf diese Truppen trafen die Wehrmachtseinheiten, die in der Nacht vom 16. auf den 17. Februar Richtung Südwesten strömten. Mit ihren Handfeuerwaffen hatten sie gegen die schweren Waffen der Roten Armee keine Chance. Die Folge war ein Blutbad, das sich fast zu einer Katastrophe ausweitete.

„Keine Zeit, Gefangene zu machen“

Erst der Angriff einiger „Tiger“-Panzer am Morgen, für die genügend Treibstoff hatte herangeschafft werden können, bereinigte für einige Zeit die Lage. Dennoch ertranken viele Soldaten beim weiteren Rückzug in einem Fluss, Hunderte Verwundete wurden niedergemacht. „Es gab keine Zeit, Gefangene zu machen. Es war ein Blutrausch“, berichtete ein sowjetischer Major, der damit die Rachemotive in Worte fasste, die die deutsche Vernichtungsstrategie provoziert hatte.

Dennoch war das, was sich bei Tscherkassy-Korsun ereignete, kein zweites Stalingrad. Eher das Gegenteil. Von den rund 55.000 eingeschlossenen Soldaten der Wehrmacht konnten sich rund 36.000 retten, gut 4000 waren zuvor ausgeflogen worden. Hinzu kamen gut 3000 Verluste des III. Panzerkorps, das die Hauptlast des Entsatzangriffs getragen hatte.

Dagegen waren die Verluste der Roten Armee mit rund 80.000 Mann und 728 Panzern mehr als fünfmal so groß. Dabei zeigte sich einmal mehr die Überlegenheit der neuen deutschen Panzer. Ihre Verluste – rund 150 Stück – gingen überwiegend auf Spritmangel zurück, so dass die Tanks von den Besatzungen gesprengt wurden.

Der Rest war eine Sache der Propaganda, die Siege proklamierte, wo im Grunde keine gewesen waren. Eine lebenslange Feindschaft hinterließ die Schlacht bei den Sowjet-Marschällen Konew und Georgi Schukow, dem späteren Sieger von Berlin. Von Stalin auf Konews Einwirken hin zum Statisten degradiert worden zu sein, ging noch in Schukows Memoiren ein: „Ich meine, dass dies ein unverzeihlicher Fehler des Obersten Befehlshabers war.“ Als er das zu veröffentlichen wagte, war Stalin allerdings schon 16 Jahre tot.

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