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Warum eine Volkspartei gebraucht wird und wie die SPD wieder eine werden kann

Ist die SPD noch eine Volkspartei oder muss sie erst wieder eine werden? Und was ist das überhaupt, eine Volkspartei? Ein Gespräch mit Raed Saleh, Fraktionsvorsitzender der SPD im Berliner Abgeordnetenhaus, über Bauchgefühle, Vertrauen und Versöhnung.
von Benedikt Dittrich · 4. Oktober 2019
„Wenn sich die Menschen wieder auf uns verlassen können, dann gewinnen wir auch wieder Wahlen“, sagt Raed Saleh, Fraktionsvorsitzender der SPD im Berliner Abgeordnetenhaus
„Wenn sich die Menschen wieder auf uns verlassen können, dann gewinnen wir auch wieder Wahlen“, sagt Raed Saleh, Fraktionsvorsitzender der SPD im Berliner Abgeordnetenhaus

Was heißt es für Sie, Volkspartei zu sein?

Für mich ist eine Volkspartei die Partei, die verschiedene Gruppen in der Gesellschaft miteinander versöhnt. Volkspartei bedeutet, die Sichtweise eines Polizisten und die Sichtweise eines Sozialpädagogen zu verstehen. Alle Menschen, egal ob arm oder reich, ob mit Job oder Hartz4-Empfänger, ob gesund oder mit Beeinträchtigung sollen sagen können: Ich vertraue der SPD. Die werden schon das Richtige empfehlen. Das war immer die Stärke der SPD. Wir haben immer den Menschen etwas zugemutet, aber immer wieder hatten wir das Vertrauen der Menschen. Es geht darum, dass sich Menschen mit einem guten Gefühl hinter der SPD versammeln können. 

Die SPD soll also zu einer Wohlfühl-Partei werden?

Dieses gute Gefühl ist uns leider abhanden bekommen. Wir vermitteln dieses Bauchgefühl nicht mehr, dass wir das Gesamtinteresse eines Landes im Blick haben, mit all seinen Herausforderungen. Auch bei den jüngsten Entwicklungen. Wir müssen den Menschen erklären, beispielsweise in der Migrationspolitik, dass wir den Menschen helfen müssen. Gleichzeitig sagen wir, dass die, die zu uns kommen, unsere Regeln und Werte akzeptieren müssen. Dann können wir auch wieder mehr Menschen für unseren Weg begeistern.

Es gibt in Deutschland aber ganz viele verschiedene Interessen – ob beim Klimaschutz, der Wohnungspolitik, der Migrationspolitik. Wie lassen sich diese Interessen vereinen?

Es geht nicht um Partikularinteressen oder einzelne Maßnahmen. Das Bauchgefühl ist jenseits von konkreten Maßnahmen. Natürlich muss man dieses Gefühl irgendwie untermauern, zum Beispiel mit einem starken Staat, der seine Bürger schützt, der keine Willkür duldet. Willkür wäre immer das Recht des Stärkeren. Das Bauchgefühl ist immer dann da, wenn man sagen kann: Ich habe Vertrauen in die handelnden Personen.

Offenbar ist dieses Vertrauen in die SPD aber verloren gegangen, immer weniger Menschen wählen die SPD.

Wir müssen genau prüfen, was schiefgelaufen ist, warum uns die Wähler abhandengekommen sind. Es geht nicht darum, die Partei nach rechts zu rücken, ganz im Gegenteil. Für mich ist Sicherheitspolitik eine werteorientierte Politik, eine linke Politik. Dafür brauchen wir einen neuen Heimatbegriff. Jeder soll die Möglichkeit haben, Deutschland als sein Heimatland zu betrachten. Nicht so wie die Nazis, die AfD und die anderen Rechtspopulisten, die Heimat über Ausschluss und Abgrenzung definieren. Für uns ist Heimat das genaue Gegenteil, nämlich bunt, weltoffen, freundlich und solidarisch. Wenn wir es nicht schaffen, diese Themen anzupacken, dann werden wir den Charakter einer Volkspartei auf Dauer verlieren.

Nochmal konkret: Wie lassen sich die Interessen von Mietern und Vermietern in Berlin so vereinen, dass beide bei der nächsten Wahl die SPD wählen?

Wir müssen den Mietern helfen, weil es Unternehmer gibt, die die Situation in Berlin drastisch ausnutzen. Nicht alle, aber es gibt sie. Wirtschaftlich vernünftig und sozial gerecht ist ein Miet-Moratorium. Fünf Jahre dürfen erstmal die Mieten nicht erhöht werden. Bei energetischen Sanierungen können die Mieten zwar noch um einen bestimmten Wert erhöht werden, aber eine drastische Reduzierung der Mieten per Gesetz wäre wirtschaftsfeindlich und würde der Stadt Berlin schaden. Wenn wir die Prozesse dahinter erklären, dann kommen auf einmal sogar Vermieter zu uns und sagen: Damit können wir leben. Sozialdemokratie heißt alle Sichtweisen in der Bevölkerung, die notwendig sind, mitzudenken und zu Ende zu denken, bevor wir entscheiden. 

Manche Sichtweisen sind aber geradezu konträr: Es gibt derzeit Menschen, die den menschengemachten Klimawandel leugnen, andere gehen für einen besseren Klimaschutz auf die Straße. Wie lassen sich diese Sichtweisen vereinen?

Die Grünen hatten in Brandenburg mit ihrer Haltung „Klimaschutz um jeden Preis“ keinen Erfolg, jedenfalls nicht so wie in den Umfragen prognostiziert. Ich glaube, die Menschen erwarten zu Recht, dass man erklärt, was Klimaschutz am Ende für sie bedeutet. In meiner Familie, in meinem Umkreis, ist Umweltbewusstsein schon immer ein Thema. Die Frage ist, wie wir Umwelt, Klima und Nachhaltigkeit mit sozialer Gerechtigkeit vereinbaren können.

„Wir müssen Maßnahmen zu Ende denken“

Inwiefern erreicht man damit diejenigen, denen der Klimaschutz nicht so wichtig ist?

Ich sag’s mal so: Natürlich können wir jede Menge Maßnahmen treffen. Aber wir müssen die Zeit und die Kraft haben, diese Maßnahmen zu Ende zu denken. Deswegen wird die SPD dringender gebraucht denn je. Weil andere Parteien genau das nämlich nicht erfüllen: verschiedene Interessen zu vereinen, zusammen zu denken, sich nicht nur als Nischenpartei zu sehen. In Berlin diskutieren wir etwa gerade das Thema Parkraumbewirtschaftung. Das ist erstmal sinnvoll. Wir erhöhen die Preise für Parkplätze, es gibt weniger Autos in der Stadt. Diejenigen, die aber aufs Auto angewiesen sind, denen geht’s ans Portemonnaie. Eine Kellnerin, die im Stadtzentrum arbeitet, kann in der Nacht nicht mehr mit der Bahn in Richtung Spandau nach Hause fahren, weil dann keine Bahn mehr fährt. Soll sie also auf ihre Arbeit verzichten oder die Parkuhr mit ihrem Lohn füttern? Das ist nicht sozial gerecht.

Dieser Anspruch hat aber zuletzt nicht dabei geholfen, Wahlen zu gewinnen.

Doch! Bei den Bürgermeister-, bei den Oberbürgermeisterwahlen. Da bekommen wir teilweise noch 60 Prozent oder mehr. Weil die Menschen bei diesen Personen noch das gute Gefühl haben: Der oder die setzen sich noch für unsere Interessen ein. Als sozialdemokratische Volkspartei muss man sich auf uns verlassen können. Wenn sich die Menschen wieder auf uns verlassen können, dann gewinnen wir auch wieder Wahlen.

Autor*in
Benedikt Dittrich

war von 2019 bis Oktober 2022 Redakteur des „vorwärts“.

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