Die Schönebergerin Inge Freifrau von Wangenheim: Nachbarschaftsheim Schöneberg e. V., Berlin

Zur Orientierung für Menschen mit Behinderungen

Freizeit und Kultur im Nachbarschaftsheim

02.03.2011 / Menschen in Schöneberg

Die Schönebergerin Inge Freifrau von Wangenheim

Portrait der Schauspielerin, Schriftstellerin und SED-Funktionärin von Tim W. Donohoe.
Inge von Wangenheim, Photoreproduktion mit freundlicher Genehmigung des Thüringischen Staatsarchivs Rudolstadt / Dieter Marek, Archivdirektor
Motzstraße, Zeichnung von Inge von Wangenheim [1981]

Ein warmer Spätsommertag im Jahre 2010. Sie finden den Autor dieses Beitrags bei seinem „Sonntagssport“: bummeln auf dem Flohmarkt am John-F.-Kennedy-Platz vor dem Rathaus Schöneberg. Dort ist fast immer ein altersgrauer Büchertrödler zu finden, der bei Insidern für seine günstigen Preise bekannt ist. „Jedes Buch kostet fünfzig Cent“, ruft er Woche für Woche gellend laut, „beim Kauf von fünf gibt’s eins geschenkt.“ Der Händler hat mindestens vier Tischreihen aufgestellt; die antiquarischen Bestände befinden sich zu Hauf in aufgestellten Pappkisten.

Also ran an die Arbeit. Sechs Bücher aussuchen, bloß fünf bezahlen. Gar nicht so einfach, die Spreu vom Weizen zu trennen bei einem reichhaltigen Angebot an Romanen von Harold Robbins oder Heinz Konsalik (oder ähnlichem). Doch nach einiger Zeit stößt der Reporter auf einen außergewöhnlichen Band. „Schauplätze: Bilder eines Lebens“ heißt er, 1983 im ehemaligen volkseigenen Betrieb Greifenverlag erschienen. Nach erstem Durchblättern des Buchs war klar, es handelt sich um die selbst-illustrierte Autobiographie einer gewissen Inge von Wangenheim. Hier war der Reporter kurz davor, den Band wieder in die Kiste zurückzuwerfen, wenn er nicht auf der siebten Seite unter einer abgebildeten Wasserfarbenzeichnung folgende Schrift gefunden hätte: Motzstraße [I.v.W. 1981].

Motzstraße? Die kennt man doch! Der Reporter liest in den Text hinein, findet heraus, dass es sich um dieselbe Motzstraße, die vom „Nolli“ bis zum Prager Platz verläuft (und in der er selbst in den 90er Jahren wohnte), handelt. Dargestellt sind einige Altbauten; mittendrin ein Konfektionsgeschäft. Weitere Bilder im Werk zeigen andere Berliner Szenerien, sowie Stadt- und Landschaftsmalerei. Die Arbeiten zeigen insgesamt  unterschiedliches maltechnisches Können. Jetzt wird die Sache für den Autor klar. Das Buch wurde das sechste Ausgesuchte – und damit als „Geschenk“ ergattert.

Daheim schlägt der Reporter den Band wieder auf, zunächst das Bild „Motzstraße“. Die in Pastelltönen angefertigte Zeichnung fasziniert durch ihr laienmalerisches Detail. Wer aber war eigentlich die in der Autobiographie dargestellte Person? Zu Beginn des ersten Kapitels schrieb die Autorin folgendes:

„Ich bin Berlinerin.
Das war einmal ein besungener Typus, und meine Laufbahn nahm ihren Anfang im ebenfalls besungenen Schöneberg. Genauer: in der Motzstraße. Ein kurzes Stück Alt-berliner Westen zwischen Victoria-Luise-Platz und Hohenstauffenstraße. Am Barbarossaplatz stand meine spätere Schule, das Chamisso-Lyceum. Insgesamt eine Gegend der patriotischen „Anführungen“ á la Nettelbeck und Tauentzien … jener altpreußischen Militärs eben, die dem Napoleon schließlich die Lust an den Preußen gründlich verdarben.“*

„‚Zur Welt’“, erzählte sie weiter, „freilich kam ich etwas weiter draußen, in Steglitz – in einem Entbindungsheim für ledige Mütter. Ich war nicht gewollt, sondern „passiert“. Anläßlich der „Kaiser-Manöver“ im Oktober 1911 übrigens zu Gera. Preußens Glorie umwitterte mich sozusagen noch vor meinem ersten Auftritt, bestimmt mit Plakaten, Ansichtskarten, Blaskapellen, Orden, Tressen, Epauletten – mit all dem Tschingbum der Kaiserzeit – meine Gemütsverfassung.“*

Die als Ingeborg Franke Geborene erblickte am 1. Juli 1912 die Welt als Tochter einer unverheirateten „Modistin“, wie die Mutter sich selbst bezeichnete. Das erste Kapitel des Buchs beschreibt ausdrücklich die bescheidenen Verhältnisse, in denen sie aufwuchs: das fensterlose Hinterzimmer einer Ladenwohnung in der Motzstraße 55, das als Schlaf-, Koch-, und Sanitärraum diente. Das Fenster mit der Schneiderbüste, das in ihrer Zeichnung „Motzstraße“ abgebildet ist, gehörte vermutlich zur Boutique ihrer Mutter.

Ihre Spielkameraden aus der Nachbarschaft waren aus vornehmeren Verhältnissen; die meisten Familienväter aus der Gegend waren leitende Angestellte oder Angehörige freier Berufe – oder auch Offiziere. Von Wangenheim beschreibt eine von ihr bezeugte Konfrontation im Laufe des Aufruhrs vom November 1918, in dem ein General von aufständischen Matrosen vor dem Laden ihrer Mutter „auseinandergenommen“ worden war, als „die für meine Zukunft wohl doch wichtigste Episode, die meiner frühen Kindheit von der Geschichte überhaupt anzubieten war“. Obwohl die Autobiographie liebvoll von der „Universität der Motzstraße“ spricht, schildert sie auch schonungslos die Hungersnot, die der Erste Weltkrieg nach Berlin brachte; öfter teilten sich Mutter und Tochter nur eine Handvoll Walnüsse zum Abendbrot. Doch das Fehlen eines Vaters fiel im Zuge des Ersten Weltkriegs nicht besonders auf – zahlreiche Kinder, auch die aus wohlhabenderen Familien, mussten ohne ihren Papa auskommen.

Das strebsame Fräulein aus Schöneberg besuchte das örtliche Mädchengymnasium und absolvierte anschließend eine Schauspielaus-bildung. Sie heiratete, über ihrem Stand, 1931 den siebzehn Jahre älteren Ingo Clemens Gustav Adolf Freiherr von Wangenheim. Ihr Ehegatte war ebenfalls Schauspieler – und dazu überzeugter Kommunist. Im selben Jahr trat auch Inge von Wangenheim in die KPD ein.

1933 floh das Ehepaar nach Moskau; zwei Söhne wurden in der UdSSR geboren. Die Familie wurde 1941 östlich der Wolga evakuiert. Unterwegs verstarb einer der Söhne. (Der zweite Sohn, Friedel von Wangenheim, wurde ebenfalls Schauspieler; er beging 2001 Selbstmord.)

Nach redaktionellen Tätigkeiten für das Nationalkomitee Freies Deutschland (NKFD) in der Sowjetunion kehrte die Schauspielerfamilie 1945 zurück nach Berlin. In der Motzstraße – oder in Schöneberg – hat Inge von Wangen-heim nie wieder gelebt. Sie, ihr Mann und ihr verbliebener Sohn arbeiteten im Ostteil der Stadt im Bühnen- und Filmgeschäft. Zudem war Inge von Wangenheim Buchautorin. Sie wurde Vorstandsmitglied des Schriftstellerverbandes der DDR, und bis zu Ihrem Tod am 6. April 1993 in Weimar verfasste sie selbst nahezu dreißig Bücher. Einige ihre Werke, mit Titeln wie „Kalkutta liegt nicht am Ganges“ (1970) oder „Der goldene Turm. Eine Woche Paris“ (1988), befassen sich mit ihren privilegierten (Welt-) Reisen, auf denen sie auch Illustrationen anfertigte. Sie erhielt mehrere Auszeichnungen in der DDR, unter anderem den Heinrich-Heine-Preis des Ministeriums für Kultur der DDR, den Vaterländischen Verdienstorden und den Karl-Marx-Orden.

Die Lebensmaxime von Inge von Wangenheim war: „Der Kopf ist zum Denken da, nicht zum Merken“. Dem folgend merkt der Reporter an, dass sein „Sonntagssport“ – eben auf den lokalen Flohmärkten herumzustöbern, ihm jede Menge Stoff zum (Nach-) Denken einbringt.

T. W. Donohoe


„Schauplätze – Bilder eines Lebens“, wird, wie alle im volkseigenen Betrieb Greifenverlag veröffentlichten Werk von Wangenheims, demnächst in dem neugegründeten Greifenverlag zu Rudolstadt & Berlin eG als Wiederauflage erscheinen.

* Textausschnitte und Ablichtung der Illustration mit freundlicher Genehmigung des Greifenverlags zu Rudolstadt & Berlin eG / Holger H. Elias, Verlagsleiter

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