Gayatri C. Spivak: „Kant braucht unsere Hilfe“
Aufgrund rassistischer Äußerungen, eines vermeintlich veralteten Vernunftkonzepts und eines ausgrenzenden Universalismus steht Kant zunehmend in der Kritik postkolonialer Theorien. Im Gespräch geht Gayatri C. Spivak auf die Vorwürfe ein und erklärt, warum Kant nach wie vor eine unverzichtbare Lektüre darstellt.
Lesen Sie hier eine ausführlichere Version des Interviews, das in gekürzter Form in unserer gedruckten Ausgabe erschienen ist.
Frau Spivak, glauben Sie, dass Kant ein Rassist war?
Unterschwelliger Rassismus ist das, was die Welt am Laufen hält. Deshalb bin ich nicht daran interessiert, mich mit Fragen wie „War Kant oder Marx ein Rassist?“ zu beschäftigen, und habe das auch nie getan. Ich denke, jeder war und ist mehr oder weniger ein Rassist. Aber es gab nur einen Kant und einen Marx. Warum sollte man sich also die Mühe machen, über ihren Rassismus zu diskutieren? Diese großen Denker einfach als Rassisten abzustempeln und nichts von ihnen zu lernen, ist nutzlos. Ich bin ein großer Bewunderer von Kant und folge ihm.
Aber in Ihrem Buch Kritik der postkolonialen Vernunft kritisieren Sie Kant dennoch.
Ich habe zwei Dinge gesehen: Erstens erkannte ich, dass Kant in der Kritik der Urteilskraft, um die Antinomie im Abschnitt über die teleologische Vernunft zu lösen, gezwungen war zu sagen, diese sei nicht zu lösen, solange die „Wilden“ auch als Menschen betrachtet werden. Es war ihm nicht möglich zu beweisen, dass die Welt für den Menschen geschaffen wurde, wenn er sie in Betracht zog. Meine zweite Erkenntnis bezog sich auf das Konzept des Erhabenen: In der Begegnung mit dem Erhabenen wird man daran erinnert, dass man ein moralisches Wesen ist. Die durch die Konfrontation mit der Natur entstehende Angst verschwindet, wenn auch nur durch Erschleichung. Zu diesem besonderen Phänomen, so Kant, habe der rohe Mensch keinen Zugang. Ich erkannte also, dass Kant, um seine Theorie zu entwickeln, aus der Gesamtheit der Menschen eine Gruppe ausgrenzen musste, die in diesen beiden sehr wichtigen Bereichen nicht ganz menschlich war.
Warum glaubt Kant, dass Nichteuropäer keinen Zugang zum Erhabenen hätten?
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Kommentare
Meiner Einschätzung nach könnte es den "Subalternen" in Indien und vielerorts vielleicht besser gehen, wenn dort ein Zweiparteiensystem mit zwei gut konzipierten Parteien versucht würde. Meine Vorstellung für die beiden Parteien sind eine Partei für Befreiung für das Dorf/die Welt und eine Partei für das Beste für alle durch das Dorf/die Welt. Meiner Meinung nach im besten Kant'schen Sinne.
Ich danke für den Artikel und die Möglichkeit, zu kommentieren.
Frau Spivak behauptet zu Beginn des Interviews, sie sei eine Bewunderin Kants und folge ihm. Dann endet das Interview mit der Behauptung Menschenwürde existiere nicht und Menschenrechte seien nicht unveräußerlich. Ich bekomme das auch nach der Lektüre des Mittelteils nicht zusammen. Aber vielleicht kann es mir jemand erklären?