Hubertus Heil bei Hart aber Fair: The European

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Sind diese Menschen alle „bescheuert“, Herr Heil?

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Hubertus Heil hält alle für „bescheuert“, die wegen der geringen Differenz zwischen Bürgergeld und ihrem Lohn den Job kündigen. Dabei gibt es immer mehr, die das tun. Warum es falsch ist, das Thema als Spinnerei Einzelner abzutun.

Hubertus Heil, Quelle: Picture-Alliance
Hubertus Heil bei Hart aber Fair.

Montagabend bei „Hart aber fair“. Es geht um Löhne, um Arbeitszeit und um die Frage, wie viel Motivation zum Arbeiten die Deutsche noch haben. Der Runde wird ein TikTok-Video gezeigt. Eine junge Frau beschreibt ihren „größten Nervenzusammenbruch ever“, weil sie ein Job-Angebot für 36.000 Euro Jahresgehalt erhielt. Die Berufseinsteigerin wimmert und fragt „wie man überleben soll?“ Ihr Antwort: „Lasst mich in Ruhe für 36.000 Euro und frisches Obst!“ Die erste Reaktion von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) nach der Beschau des TikToks-Videos? „Kopfschütteln“, wie er zugibt.

Hendrik Ambrus, Chef eines Dachdecker-Betriebes, sitzt auch in der Runde und äußert Verständnis bei dem tarif: „Wenn man arbeitet, statt Bürgergeld zu nehmen, kommt man sich veräppelt vor.“ Das will SPD-Minister Heil natürlich nicht so stehenlassen. „Arbeit lohnt sich mehr als das Bürgergeld“, entgegnet er. Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, sieht das aus der Brille des Volkswirtschaftsexperten. „Das System ist überprüfungswürdig.“ SPD-Politiker Heil will kontern: „Wenn jemand so bescheuert ist, wegen des Bürgergelds zu kündigen, bekommt er erst mal gar nichts.“

So einfach ist es dann aber doch nicht, wie die Wirklichkeit zeigt. Glasklare Aussagen von Arbeitgebern und Umfragen zum Beispiel aus der Reinigungsbranche zeigen: Die erneute Erhöhung des Bürgergelds vom nächsten Januar an um weitere zwölf Prozent auf 563 Euro hat schon jetzt Folgen: Immer mehr Beschäftigte kündigen und begründen das damit, dass sich die Plackerei nicht mehr lohne angesichts der kleiner werdenden Differenz zwischen ihrem Arbeitslohn und dem Bürgergeld. Ob dieser empirische Eindruck stimmt, wollte der Bundesinnungsverband des Gebäudereinigerhandwerks (BIV) genau ermitteln und befragte seine 2500 Mitgliedsunternehmen. Das Ergebnis: Knapp 30 Prozent der Unternehmen gaben an, dass bei ihnen „bereits mehrere Beschäftigte mit konkretem Verweis auf das Bürgergeld gekündigt oder eine Kündigung in Aussicht gestellt haben“. Weitere 40 Prozent haben Einzelfälle erlebt, wo das bereits passiert ist. Rund 700.000 Menschen sind hierzulande in der Branche tätig. Viele Firmen haben jetzt schon Müh und Not, an hinreichend verlässliches Personal zu kommen. Und nach neuesten Zahlen vergrößern sich ihre Sorgen in naher Zukunft zusätzlich.

Thomas Dietrich sieht darin einen Weckruf: „Dass das neue Bürgergeld bei sieben von zehn Unternehmen in Deutschlands beschäftigungsstärkstem Handwerk die Personalnot verschärft, sollte die Politik dringend alarmieren“, sagt der Bundesinnungsmeister der Gebäudereiniger: „Die Balance zwischen Fordern und Fördern sowie sozialem Ausgleich und Anreiz zur Arbeit darf nicht verloren gehen, sonst droht eine gefährliche Entwicklung für den Arbeitsmarkt, die Wirtschaft und die Leistungsfähigkeit unseres Standortes.“

Das neue Bürgergeld verschärft also bei sieben von zehn Unternehmen die Personalnot. Lohnt es sich, für die Differenz zwischen dem Gehalt und dem Bürgergeld noch arbeiten zu gehen? Diese Frage ist heiß diskutiert und hochbrisant, in Zeiten des Personalmangels in doppelter Hinsicht: Es gilt die Balance zu wahren zwischen sozialer Gerechtigkeit und dem Ausnutzen von Leistungen zu Lasten der Allgemeinheit inklusive der Unternehmen.

Hubertus Heil gerät immer stärker unter Druck, weil er das SPD-Prestigeobjekt durchsetzen muss. Die Geldleistungen für eine Familie mit drei Kindern steigen zum beispiel von bisher 1988 Euro ab dem nächsten Jahr auf 2230 Euro – plus die Kostenübernehmer einer Wohnung. Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz erkennt „ein Problem mit dem Lohnabstandsgebot“. Und die FDP verlangt lautstark, die Arbeitsanreize für Sozialleistungsbezieher zu verbessern – was übrigens auch im Koalitionsvertrag steht. Dagegen steht die Front der Sozialverbände unterstützt vom arbeitnehmernahen Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW).

Sozialverbände, Arbeitnehmervertreter und Teile der Politik argumentieren: Dann erhöht doch die Löhne, allen voran den Mindestlohn! Der steigt im Januar von 12 auf 12,41 Euro. Doch so einfach ist es nicht, wie das Beispiel Gebäudereiniger zeigt: Die Branchenmindestlöhne auch für einfache Hilfskräfte gelten in der Gebäudereinigung für praktisch alle Betriebe, sie steigen zum 1. Januar 2024 von 13 auf 13,50 Euro und liegen damit deutlich über dem Mindestlohn. Fachkräfte und Beschäftigte in der Glas- und Fassadenreinigung von Januar 2024 an mindestens 16,70 Euro. 

Doch Rechenspiele sind das eine. Die Frage, unter welchen Bedingungen sich die Arbeit auch lohnenswert anfühlt, ist etwas anderes. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) hat dazu kürzlich eine Studie veröffentlicht mit einer plakativen Rechnung: Im Vergleich zu einem Arbeitslosenhaushalt kommt die Familie, in der ein Elternteil arbeitet und mit Bürgergeld aufstockt zu Mehreinnahmen von 378 Euro. Mal angenommen, dass er oder sie dafür 38 Stunden arbeitet, entspräche das einem rechnerischen Nettostundenlohn von 2,30 Euro meht. 

Das fühlt sich nicht nur für Beschäftigte in der Reinigungsbranche wenig an. Die sind laut der Bewertungsplattform Kununu übrigens bei weitem nicht die Berufsgruppe, die am schlechtesten verdient und am unzufriedensten ist. Hier sieht es in Bäckereien und Friseursalons besonders schlecht aus. Letztere haben ohnehin mit steigenden Preisen zu kämpfen und müssen derzeit auch noch Corona-Hilfen zurückzahlen. Das neue Bürgergeld macht vielen nun zusätzlich Sorgen. „Die Schere zwischen Vollarbeit und Bürgergeld wird immer kleiner. Viele überlegen sich, ob es sich überhaupt noch lohnt, Vollzeit arbeiten zu gehen“, sagt Jens Schmidt, Obermeister Friseurinnung Heilbronn-Öhringen. Das höre er „durch die Blume“. Der Mix aus Minijob, Schwarzarbeit und Bürgergeld sei für viele sehr attraktiv. Ähnliches hört man von Handwerkskammern. Ulrich Bopp, Präsident der Handwerkskammer Heilbronn-Franken, meint: Das Problem beim Bürgergeld sei, dass der Abstand zwischen den Nettolöhnen und den erhöhten Sozialleistungen immer kleiner werde. Das sei nicht hinnehmbar, Arbeit müsse sich lohnen. Sozialverbände argumentieren dagegen: Wer Bürgergeld empfängt, zahlt nicht in die Sozialversicherung ein. Später bei der Rente würde sich das spürbar niederschlagen. „Arbeit lohnt sich immer“, kommentiert Hubertus Heil am Montag bei „Hart aber Fair“. Die Frage ist nur, ob da jeder heute schon dran denkt und man die, die es anders sehen, nicht ernst nehmen sollte.

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