Rede des Bundesministers für Arbeit und Soziales, Hubertus Heil,

Rede des Bundesministers für Arbeit und Soziales, Hubertus Heil,

  • Bundesregierung ⏐ Startseite
  • Bulletin

  • Schwerpunkte

  • Themen   

  • Bundeskanzler

  • Bundesregierung

  • Aktuelles

  • Mediathek

  • Service

Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Stellen Sie sich vor: blutige Schweinekadaver im Akkord zerlegen, Schulter an Schulter mit Kollegen, ohne Schutz vor Corona, zwölf Stunden am Stück malochen, manchmal aber auch 16, an sechs oder sieben Tagen in der Woche, am Abend eingepfercht in einen kleinen Bus ohne Schutz, dann Kasernierung in einer kleinen Bruchbude – und das Einzige, das du hast, ist eine schimmelige Matratze, die dich mehrere Hundert Euro im Monat kostet, und vielleicht noch ein Foto von deiner Familie, die tausend Kilometer entfernt lebt.

Das klingt wie eine finstere Beschreibung des Manchester-Kapitalismus im 19. Jahrhundert. Es ist aber Realität im 21. Jahrhundert, leider auch mitten in Deutschland. Deshalb sage ich: Diese Ausbeutung ist eine Schande für unser Land. Wir werden damit aufräumen.

Natürlich rede ich von Zuständen, die teilweise, aber in erheblichem Umfang in der deutschen Fleischindustrie herrschen. Das ist jetzt nicht ausgedacht. Das besagen Kontrollen der Arbeitsschutzbehörden des Landes Nordrhein-Westfalen; das besagen Kontrollen des Zolls, des Bundes. Hier arbeiten Menschen, überwiegend aus Mittel- und Osteuropa, deren Rechte und Würde mit Füßen getreten werden. Die Coronakrise hat diese Missstände schonungslos offengelegt. Ich muss einmal persönlich sagen: Es ist schlimm, dass es einer Pandemie bedurfte, damit das ins öffentliche Bewusstsein gelangt. Das war vorher schon nicht in Ordnung. Ich sage aber auch: Wann, wenn nicht jetzt, ist es Zeit, die Verhältnisse grundlegend zu ändern?

Mit dem Arbeitsschutzkontrollgesetz, das wir heute in erster Lesung im Deutschen Bundestag beraten, machen wir genau das.

Es geht erstens darum, im Kerngeschäft der Fleischindustrie Werkverträge und Leiharbeit zu verbieten. Wir wollen dafür sorgen, dass die Arbeiter in dieser Industrie direkt beim Unternehmen angestellt sind. Das gilt übrigens – bei allen Gerüchten – nicht für den Dorfmetzger, der seine eigene Schlachtung betreibt, sondern das gilt für die Fleischfabriken; denn da ist das Problem. Und nein, ich habe dem Grunde nach nichts gegen den Einsatz von Werkverträgen in unserer Wirtschaftsordnung. Wenn ein großes Unternehmen einen Handwerker beauftragt, eine Sicherheitsanlage einzubauen, ist das ein ganz normaler Werkvertrag. Aber wir haben in dieser Situation erlebt, dass Werkverträge und Fremdarbeit mit Ausbeutung verwechselt wurden. Wenn 80, 90 Prozent der Beschäftigten nicht mehr angestellt sind, dann geht es um organisierte Verantwortungslosigkeit von Unternehmen, dann geht es um Lohndrückerei, dann geht es um mangelnden Arbeitsschutz, und das müssen wir beenden.

Zweitens: Auf den Schlachthöfen gilt künftig eine elektronische Arbeitszeiterfassung, damit die Unternehmen bei der Arbeitszeit nicht länger tricksen und jede geleistete Stunde auch anständig bezahlt wird. Wer gegen Arbeitszeitregeln verstößt – das gehört zur Arbeitszeiterfassung dazu –, der wird auch deutlich stärker zur Kasse gebeten.

Drittens: Es wird in allen Branchen mehr Arbeitsschutzkontrollen geben, aber vor allen Dingen dort, wo Gefährdungspotenziale besonders hoch sind, wie beispielsweise in der Fleischindustrie. Noch mal: Die Kontrollquoten gelten für alle Unternehmen in Deutschland. Das ist auch notwendig, nachdem in den Bundesländern leider oft die Arbeitsschutzbehörden in den letzten Jahrzehnten kaputtgespart wurden. Wir brauchen das Personal. Denn unsere Erfahrung in dieser Branche ist: Wenn nicht hingesehen und kontrolliert wird, dann wird missbraucht.

Viertens: Wir machen Schluss mit Gammelunterkünften. Künftig gelten Mindeststandards für die Unterbringung der Beschäftigten. Das gilt übrigens auch nicht nur für die Fleischbranche, sondern auch für andere Bereiche. Denn egal ob die Sammelunterkünfte in der Fleischbranche oder in der Landwirtschaft sind, sie müssen menschenwürdig sein.

Fünftens: Die Arbeitgeber müssen künftig genau dokumentieren, wo ihre ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eingesetzt und untergebracht werden, damit die Behörden das eben auch kontrollieren können.

Jeder Mensch, der in Deutschland arbeitet, egal wo er geboren ist und welche Sprache er spricht, jeder, der zum Erfolg dieses Landes beiträgt, jeder, der fleißig ist, hat ein Anrecht darauf, vernünftig und anständig behandelt zu werden. Egal ob er oder sie die deutsche Sprache spricht oder nicht: Jeder Mensch hat das gleiche Recht auf Würde. Es darf keine Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zweiter Klasse geben.

Deshalb haben wir das Entsendegesetz geändert. Deshalb haben wir auf europäischer Ebene im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft eine Initiative zum Schutz von Saisonarbeitskräften gestartet. Deshalb haben wir als Koalition mit dem Projekt "Faire Mobilität" dafür gesorgt, dass die Menschen in ihrer Muttersprache auch über ihre Rechte als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Bescheid wissen. Nun kommt das Arbeitsschutzkontrollgesetz, ein weiterer wichtiger Baustein auf diesem Weg.

Ich will das zum Schluss nicht verschweigen: Sie werden jetzt alle nach der ersten Lesung erleben – es hat ja schon angefangen –, dass eine Riesenmasse von Lobbyisten hier in Berlin versuchen wird, dieses scharfe Gesetz aufzuweichen. Wir werden erleben, dass Vertreter organisierter Konzerninteressen mit sehr, sehr viel Geld in einer milliardenschweren Branche Rechtsgutachten bestellen und Sie in Ihren Wahlkreisen aufsuchen werden. Meine Bitte ist: So wichtig wirtschaftlicher Erfolg in diesem Land ist, an dieser Stelle geht es um die Würde von Menschen und nicht die Interessen einiger Konzerne. Lassen Sie sich von diesem Lobbyismus im Verfahren nicht beeindrucken.

Lassen Sie uns geschlossen für Gerechtigkeit und Menschenwürde eintreten. Ich bitte Sie um Zustimmung zum Arbeitsschutzkontrollgesetz und freue mich auf die weiteren Beratungen. Wir müssen dafür sorgen, dass diese Krise nicht missbraucht wird nach dem Motto "War ja nicht so schlimm; wir machen wieder Freiwilligkeit". Dieses Katz-und-Maus-Spiel hat dieser Deutsche Bundestag zu oft mit dieser Branche erlebt. Deshalb ist meine Bitte, dass wir tatsächlich zur Verabschiedung dieses Gesetzes kommen. Wir müssen dafür sorgen, dass wir die Verhältnisse in diesem Bereich neu ordnen.

Herzlichen Dank.