Ostfrau erster Generation: Selbstbewusst zwischen Traumberuf, Kindern und Karrieremann

Ostfrau erster Generation: Selbstbewusst zwischen Traumberuf, Kindern und Karrieremann

Wie die Dolmetscherin Irmingart Lemke den Dreikampf des Lebens bewältigte und wie sie Männer wie Fidel Castro und Erich Honecker erlebte.

Ein noch nie veröffentlichtes Bild aus dem September 1984: Fidel Castro plaudert privat mit Konrad „Konni“ Naumann (l.). Fidel redet und redet. Irmingart Lemke (r.) dolmetscht und folgt dem Comandante bis in die Fingerbewegung.
Ein noch nie veröffentlichtes Bild aus dem September 1984: Fidel Castro plaudert privat mit Konrad „Konni“ Naumann (l.). Fidel redet und redet. Irmingart Lemke (r.) dolmetscht und folgt dem Comandante bis in die Fingerbewegung.Privatsammlung Irmingart Lemke

Ein Mädchen aus Bülzig macht 1955 Abitur in Wittenberg, und anstatt risikoarm und ortsverhaftet Lehrerin zu werden, erhält sie unerwartet die Chance, Spanisch und Englisch zu studieren statt Russisch. 20 Jahre später erklimmt sie die Höhen des Dolmetscherfachs. Sie übersetzt offizielle und – viel interessanter – informelle Treffen mit Fidel Castro und DDR-Spitzenpolitikern. Sie weiß von Erich Honecker und seiner Frau Margot, der DDR-Bildungsministerin, aus dem Nähkästchen zu plaudern.

Viele Delegationen hat sie auf Reisen ins sozialistische Kuba, nach Spanien und Lateinamerika als Dolmetscherin begleitet – ein Traum für eine junge Frau aus der DDR. Aber sie war eben einfach gut in ihrem Fach.

Irmingart Lemke, geboren 1937, hat neben dem anspruchsvollen Beruf eine Tochter und einen Sohn großgezogen und den Haushalt für einen ebenso viel beschäftigten wie viel abwesenden Mann bewältigt, einen passionierten Außenhändler, der in den letzten DDR-Jahren zum stellvertretenden Außenhandelsminister aufgestiegen war. Eine Ostfrau der ersten Generation. Wie hat sie das gemacht? War das eher Last oder mehr Lust? Und was hat sie von den Begegnungen mit charismatischen Welt-Persönlichkeiten wie Fidel zu erzählen?

Fidel Castro privat: Wie der Comandante ein Nashorn erledigte

Ihre Lieblingsgeschichte bestätigt, was man über den kubanischen Revolutionsführer, Partei-, Staats- und Regierungschef Kubas so hörte. Sie geht so: Konrad Naumann, Konni, volkstümlicher SED-Parteisekretär der DDR-Hauptstadt, reiste vom 6. bis zum 14. September 1984 nach Havanna, Irmingart Lemke an seiner Seite. Sein Gegenüber war der Bürgermeister Havannas, aber: „Keiner durfte heimkommen, ohne nicht wenigstens einen kurzen Termin bei Fidel Castro nachweisen zu können, sonst galt die Reise als nicht richtig erfolgreich“, erinnert sich die Dolmetscherin.

Tatsächlich hatte Konrad Naumann seinen offiziellen Termin beim Revolutionsidol in dessen Palast der Revolution; man redete unter anderem über den Nato-Raketenbeschluss: „Konni Naumann tat so, als wisse er viel mehr als andere über die Stationierung; Fidel wusste gar nichts.“

Am späten Abend rollte eine Autokolonne vor die Residenz der DDR-Delegation. Ins Haus trat der bärtige Comandante sehr entspannt in seiner Arbeitskleidung, der grünen Uniform. Er wolle mehr erfahren, sagte er, um dann unablässig selbst zu sprechen. Er lud alle – auch das Küchenpersonal – zum Zuhören ein.

Irmingart Lemke im Frühjahr 2024
Irmingart Lemke im Frühjahr 2024Maritta Tkalec/BLZ

Irmingart Lemke hat unter die Bilder in ihrem Fotoalbum geschrieben: „Er redete und redete“ – über die Vorbereitung der Expedition mit der „Granma“ (das Schiff, das die ersten 82 kubanischen Kämpfer 1952 von Mexiko nach Kuba brachte) und wie sie die Gewehre besorgt hatten. Oder die Macho-Schnurre à la Hemingway von einem Nashorn, das beim Umzug des Zoos von Havanna vom Auto gesprungen war und er, der Comandante en jefe, das Tier persönlich „erledigte“. Angeregt plauderte Fidel über Treibjagden, die der damalige sowjetische Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow für ihn organisierte oder über das Gämsenschießen in der ČSSR.

Die Dolmetscherin hatte zu tun. Man muss eine sehr strapazierfähige Stimme haben in diesem Beruf und eine noch stabilere Konzentration – zumal beim Simultandolmetschen. Drei Stunden ging das so, Fidel immer die Havanna-Zigarre in der Hand. Dann stand er auf und teilte gut gelaunt mit, er habe sich „wunderbar entspannt im Kreise von Freunden gefühlt“.

Irmingart Lemke war schwer beeindruckt: „Er war enorm locker, natürlich auch ein Selbstdarsteller, aber man konnte sich der Ausstrahlung nicht entziehen.“ Und sie war stolz, dass Fidel sie als Dolmetscherin zugelassen und nicht den mitgebrachten eigenen gewählt hatte. Im Nachhinein wertet sie Fidel als tragische Persönlichkeit mit historischer Bedeutung, die ihr Leben lang für die Verwirklichung einer Vision gekämpft habe, die sie wohl im hohen Alter selber als „so, wie versucht, nicht realisierbar“ erkannt habe.

Aber zurück zu den Anfängen. Die Geburt der Tochter, ein ungeplantes Kind, bremste zunächst den Start in den Beruf. Anfang der 1960er stand den Paaren die Pille noch nicht zur Verfügung, die kam 1965. Auch Krippen waren selten. „Da saß ich mit dem Kind zu Hause und sah jeden Morgen Frauen und Männer zur Arbeit gehen.“ Sie empfand das als eine harte Zeit: „Ich hatte die Ausbildung, ich wollte arbeiten. Der Wunsch hat uns – ohne jede Ideologie – geprägt“, erinnert sie sich: „Wir waren eben eine neue Generation.“ Der Beruf als Dolmetscherin – als Dienstleisterin – habe perfekt zu ihrem Charakter gepasst.

Wie die DDR „eigentlich alles“ an Kuba verschenkte

Sie hatte allerdings zu jener Zeit schon eine erste, zum Süchtigwerden taugende Erfahrung: An ihrem ersten Arbeitsplatz, einem Außenhandelsbetrieb, waren 1960, kurz nach der Revolution, die ersten Kubaner aufgetaucht und baten um Hilfe. Die Berufsanfängerin wurde zum Dolmetschen in den Bereich Feinmechanik-Optik gebeten („Da saß mein späterer Mann und hat mich umgehend abends zum Essen eingeladen“) und kurz darauf ging es mit einer Gruppe von Ingenieuren und Händlern (darunter ihr späterer Mann) nach Kuba –„ein absolutes Wunder“, sagt sie.

Was für Wege man damals flog! Über Amsterdam, die kapverdische Insel Sal und das karibische Curaçao nach Havanna. Sie erlebte, wie die DDR an das junge Kuba „eigentlich alles verschenkte“: Straßenbaumaschinen, Krankenhausausrüstung, Zusagen auf Kredit. Mit hochfliegenden Gefühlen spazierte sie durch Havanna, ihre erste große Stadt außerhalb der Heimat. Auf der Treppe der Uni hörte sie die flammende Rede eines jungen Mannes: „Ich hatte keine Ahnung, dass das Fidel Castro war.“

Dann saß sie wieder im Ost-Berliner Büro, übersetzte „brav und mühsam mit Wörterbuch, jede Seite maschinengetippt, drei Durchschläge mit Blaupapier“. Das Kind kam, sie fand, es war zu früh. Der wenig geliebte Ausweg: „Was man heute Homeoffice nennt und damals Heimarbeit hieß.“ Ein Kollege brachte zu übersetzendes Material in die AWG-Neubauwohnung in Friedrichsfelde und holte es fertig wieder ab. Etwa vier Jahre lang ging das so. Das Kind saß neben ihr im Ställchen. „Das war Stress.“

Hat sie mit ihrer Situation gehadert? „Ja, ich dachte schon, dass ich gerade zu kurz komme.“ Und dann kam „der Lichtblick“: Gamal Abdel Nasser, der erste Präsident des unabhängigen Ägyptens, hatte DDR-Chef Walter Ulbricht eingeladen. Es ging um Handelsverträge. So reiste Irmingart Lemke im Februar 1965 nach Kairo und übersetzte auf der Reiseschreibmaschine. Sie sah die Pyramiden – Ulbricht und Nasser leider nicht.

Angesichts der zweiten Schwangerschaft und der Perspektive, weiter zu Hause zu hocken, beschloss sie: „So geht’s nicht weiter.“ Sie drängte ihren Mann, der eine Karriere in seinem Betrieb in Aussicht hatte, für beide „was im Ausland“ zu suchen. Wo man Spanisch spricht, das konnte der Außenhändlergatte nämlich auch ganz ordentlich.

Ausnahmeleben in Havanna

So kam er als Handelsattaché nach Kuba und sie als fest angestellte Mitarbeiterin der Dolmetscherabteilung des Außenhandelsministeriums. Die vierjährige Tochter ging in den deutschen Kindergarten, das sechs Monate alte Baby wurde in die Obhut einer jungen Kubanerin gegeben. „Sie war den ganzen Tag bei uns, gewissermaßen eine Haushälterin, froh über den Verdienst. Ein unglaublicher Luxus.“

War es schwer, den Mann zu überzeugen, seiner Frau zuliebe die Laufbahn zu ändern? „Das hat gedauert“, sagt sie, „aber letztlich hat er positiv reagiert.“ Eine partnerschaftlich getroffene Entscheidung. 1965 – das war zwölf Jahre, bevor in der Bundesrepublik das Gesetz aufgehoben wurde, das Frauen die Arbeitsaufnahme nur nach Genehmigung durch den Gatten erlaubte.

Freundschaften und Spannungen bei Intertext

Als wunderbare Zeit erlebte sie die Jahre in Havanna, nur dass sie sich immer wieder für Empfänge schick aufbrezeln musste: „Das war nicht mein Ding.“ Fotos zeigen die junge Irmingart Lemke mit einer feschen blonden Kurzhaarfrisur, eine attraktive, sportliche Frau. Offenkundig aufs Praktische orientiert.

Nach drei Jahren folgte der Ehemann einem Ruf in sein künftiges Ministerium. Sie landete beim parteieigenen Sprachmittlerbetrieb Intertext, Anfang der 1970er wurde die Abteilung Auslandsinformation geschaffen, für alle Weltsprachen. Ihr unterstanden 15 bis 20 Leute der Spanischgruppe, darunter Muttersprachler, ins DDR-Exil geflüchtete Chilenen zum Beispiel. „Da entstanden viele Freundschaften“, sagt die damalige Gruppenleiterin. Spannungen habe es allerdings auch gegeben – zwischen jenen, die reisen durften, und den anderen.

Irmingart Lemke als Sprachmittlerin zwischen Luis Corvalán (l.) und Erich Honecker
Irmingart Lemke als Sprachmittlerin zwischen Luis Corvalán (l.) und Erich HoneckerPrivatsammlung Irmingart Lemke

Jetzt begann das Dolmetschen auf politischer Ebene: Damals kamen viele Persönlichkeiten aus Lateinamerika in die DDR, Menschen wie Luis Corvalán, Generalsekretär der KP Chiles, nach langer Haft in Pinochets Gefängnis freigekämpft, und seine Frau Lily oder Rodney Arismendi, Chef der KP Uruguays, „ein Intellektueller, beeindruckend“. Etwa 40 Gespräche dieser Kategorie mit Erich Honecker hat Irmingart Lemke gedolmetscht.

Wie war das mit Erich Honecker? „Eine sehr einfache Sprache, meist Floskel an Floskel, leicht zu übersetzen, aber langweilig.“ Sie hat den Mann, der mehr als zwei Jahrzehnte die Geschicke der DDR bestimmte, als höflichen, aber sehr steifen Menschen erlebt, der, so vermutet sie, seinen Mangel an Bildung und die folglich „dünne Sprache“ durch Förmlichkeit überspielte.

Die beiden Kinder waren inzwischen als Teenager selbstständig genug und ganz froh, dass nicht ständig einer zu Hause war. Beklagt hätten sie sich nie, nur der Sohn habe dem Vater mal vorgeworfen, er sei zu wenig da. „Sie haben sich beizeiten ein eigenes Leben gebaut.“ Doch der Haushalt klebte im Wesentlichen und recht traditionell an der Frau: „Wenn ich eine Woche auf Reisen war, füllte sich der Wäschekorb, da wurde nur das Allernötigste gemacht.“ Aber die Kinder profitierten auch von den Reisen der Mutter. Die sparte sich nämlich das zur Verpflegung gedachte Tagegeld (in Devisen) vom Munde ab und brachte begehrte Schallplatten oder schicke Klamotten mit.

Jetzt ist Irmingart Lemke 86 Jahre alt, pflegt den Garten um das Häuschen in einem Berliner Vorort. Der Sohn ist ein erfolgreicher CEO, die Tochter lebt in Chile, deren Tochter bereitet sich auf ein Informatik-Studium in Potsdam vor. Die frühere Dolmetscherin hat ihre Erinnerungen in Alben geordnet. Wie oft wohl ihr blonder Schopf neben den Männern auf der Seite 1 des Neuen Deutschland war – und damit auch in der Berliner Zeitung? Natürlich ohne Namensnennung – wer kennt schon die Dolmetscher? Immerhin verdiente sie sich den Vaterländischen Verdienstorden in Bronze (1987) und den Orden Banner der Arbeit Stufe III (1984). Diese Information muss man im Archiv suchen, ihr selbst ist das nicht der Rede wert.

Zu Besuch bei Honeckers in Chile

Als die Lemkes nach der Wende regelmäßig zur Tochter nach Chile flogen, besuchten sie dort auch die Honeckers. Irmingart hatte auch für die als arrogant geltende Margot gearbeitet, sie zum Beispiel nach Nicaragua begleitet. Im persönlichen Umgang sei sie gar nicht hochnäsig gewesen, aber bis zum Schluss vom bevorstehenden Sieg des Kommunismus überzeugt.

Beim ersten Besuch in dem kleinen Häuschen in Santiago lebte Erich Honecker noch: „Er kam im eleganten Morgenmantel herbei und scherzte, er bekäme mehr Rente als seine Frau, weil er ja schon als 14-Jähriger gearbeitet habe.“ Er sei freundlich, aber kühl und unpersönlich geblieben, auch im Umgang mit den Chilenen, denen er doch eigentlich nahestand. Die Margot, so berichtet die Besucherin, sei ihrem Enkel eine gute Oma gewesen.

Rückblickend sagt Irmingart Lemke: „Ich bin meinem Mann und seiner beruflichen Entwicklung gefolgt“, allerdings mit wachsendem Selbstbewusstsein. In der nächsten Generation gab es Pille, Krippen, Kindergärten; qualifizierte Frauen waren keine Seltenheit mehr. Aber sie führten dieselben Diskussionen. Heutige Paare handeln ihr Leben mit größerer Selbstverständlichkeit aus: Wer steckt wann zurück, wer bringt den Müll runter, wer geht zum Elternabend? Die Ergebnisse des Aushandelns haben sich zugunsten der Frauen verschoben. Hoffen wir mal.