Stimmt irgendwie und stimmt wieder nicht. Aber allemal im Gebrauch, der grobe Kompass der Erinnerung. Weist die Philosophie der Antike zu, die Kunst am liebsten der Renaissance, die Wissenschaft jedenfalls der Neuzeit, die Technik der Moderne. Voraus soll der Mythos gegangen sein. Und nun ist die Welt zu Ende gedacht, zu Ende getan. Und dass sich das alles im europäischen „Abendland“ abgespielt hat, ist ohnehin selbstverständlich.
Einsprüche gab es immer. In Wahrheit seien die Dinge doch viel komplexer. Aber keine Kritik, weder der reinen noch der praktischen Vernunft, hat verhindern können, dass die Denkdisziplinen immer weiter auseinanderdrifteten, und sich Natur- und Geisteswissenschaft bald nichts mehr zu sagen hatten. Vielleicht ist ja das unversöhnliche Lagerdenken der Exaktheit geschuldet.
Vielleicht kann man keinen Quantenrechner zu Höchstleistungen programmieren und zugleich über unlösbaren Seins-Geheimnissen ins ontologische Grübeln kommen. Vielleicht ist Fortschritt überhaupt nur mit Spezialisierung zu haben. Wer Wissenschaft treibt, macht keine Kunst. „Einspruch“, sagt jetzt eine große, ehrgeizige Ausstellung im Frankfurter Liebieghaus.
Maschinenraum der Götter
Alles ganz anders. In Wahrheit seien Menschen von Anfang an Erfinder gewesen. Und bis hinein in die überirdischen Zuständigkeiten hätte man nach Problemlösungen gesucht, die die Lebensdinge zugleich schöner und dienlicher machten. Wird ein Olympier wie Hephaistos nicht als genialer Waffenschmied und -dekorateur in einer Profession beschrieben? Also hinein in den „Maschinenraum der Götter“.
Eigentlich ist man doch im Kunstmuseum. Das Liebieghaus ist eine fantastische Skulpturensammlung, wo man von der archaischen Plastik bis zur Elfenbeinschnitzerei durch alle Glanzzeiten der Bildhauerei geführt wird. „Maschinenraum“, das hört sich jedenfalls nicht nach Schatzhaus an, eher nach Gerätekeller. Nur die „Götter“ vertrösten einen, versprechen ein Erlebnis der erhabenen Gattung.
Dabei formuliert der Titel knapp und präzise das ganze Programm der Ausstellung, die sich weich in die bestehende Sammlung fügt und sich so durchs ganze Haus schlängelt. Es geht ihr um eine Engführung von Wissenschaft und Kunst, um den Nachweis, dass sich die Disziplinen miteinander gebildet haben, und dass beide ungeschieden aus Neugier und Nachdenken entstanden sind.
Man könnte an Aristoteles erinnern, der nicht nur über den Himmel und die Seele gehandelt, sondern acht dicke Bücher „Physik“ geschrieben hat, die sich auch nach zweitausend Jahren noch immer nicht als Bettlektüre empfehlen. Doch der Auftakt ist viel unscheinbarer. Unversehens steht man vor einer handtellergroßen Tonscherbe aus Mesopotamien, auf der der berühmte „Satz des Pythagoras“ verzeichnet ist. Anfang des zweiten Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung!
Wenn die Keilschrift-Experten richtig dechiffriert haben, dann gehört die zutreffende Weltbeschreibung zu den Ursprungshandlungen der Weltbewohner. Und es muss ein mathematisches Gen geben, eine spezielle Gehirndisposition, die schon früheste Kulturen dazu animiert hat, nach geometrischen und algebraischen Gesetzmäßigkeiten zu forschen und daraus technische Überlegenheit zu gewinnen.
Universalist, der er war, hat Platon an seiner „Akademie“ Mathematik gelehrt. Thales hat den Leuten das rechtwinklige Dreieck auf dem Kreisdurchmesser gezeigt, und sie haben nur die Köpfe geschüttelt. Während Archimedes mit einem Zirkel im Sand saß, als er von einem törichten römischen Soldaten erschlagen wurde.
Prometheus und die Drohne
Die Ausstellung erzählt sie alle noch einmal, die alten Geschichten, vom Pritzker-Preis-würdigen Baumeister und Flugkünstler Dädalus, vom frevelnden König Ixion, den sie an ein Rad gebunden haben, das ewig im Weltraum kreist, oder die schlimme Mär vom drohnenartig ferngesteuerten Raubvogel, der dem Prometheus immerzu an der Leber knabberte – berühmte Erzählungen, die allesamt die menschheitsursprüngliche Tateinheit von Systematik und Fantasie belegen.
Vielleicht ist es ja doch so, dass Abstraktion und Sinnlichkeit nur zwei Ausdrucksformen desselben Erkenntnismotivs sind. Jedenfalls ist sich Vinzenz Brinkmann, der Kopf der Ausstellung, ganz sicher, dass mit wissenschaftlicher Problemlösung immer das Bedürfnis einhergegangen ist, die Dinge angenehmer, gefälliger, schöner zu machen. Oder beweglicher.
Ein überaus plausibles Beispiel rekonstruiert eine Art antikes Daumenkino. Die römische Bronzefigur eines Knaben, der sich vorstreckt, um ein Rebhuhn zu fassen, existiert in zwei Versionen, deren minimale Abweichungen auf die Varianten einer Bewegungssequenz deuten. Wenn man die Modelle mithilfe des 3D-Druckers zum Set erweitert und sie in einem Zylinder mit Sehschlitzen anordnet, dann scheint der Knabe tatsächlich Fanganstrengungen zu unternehmen, ohne freilich den Vogel zu erreichen. Haben dafür die Römer der Kaiserzeit Eintritt bezahlt?
Sehr elegant, anschaulich, ohne alle volkshochschulmäßige Beflissenheit führt die Ausstellung von einem antiken Labor zum anderen. Und kommt dabei weit herum weit über Griechenland hinaus, nach Ägypten, ins alte Zweistromland, nach China. „Nach unserem heutigen Wissensstand“, meint Brinkmann, „erscheint das Konzept des forschenden Intellekts als eine Entdeckung des asiatischen Kulturraums.“
Von wegen Abendland
Wobei das Konzept des forschenden Intellekts wohl dem Umstand zu danken ist, dass der Mensch schon immer auf dem Rücken lag und in den Himmel geguckt hat. Fernrohre waren gar nicht erforderlich, um an verdämmernden Abenden, in langen Nächten und bei tröstlichen Sonnenaufgängen Regelmäßigkeiten und Unregelmäßigkeiten zu entdecken und aus den Wiederholungen zutreffende Schlüsse zu ziehen. Und weil der Sehraum dort oben halt von kuppelartiger Gestalt ist, hat die „sphaira“, die Kugel zum Basiselement der Weltbeschreibung werden müssen.
Was der Sternenhimmel an raffinierten Apparaturen mit feinst mechanischer Präzision hervorgebracht hat, das ist wirklich erstaunlich. Besonders stolz darf Frankfurt auf den abschließenden Forschungsbericht zum rätselhaften „Mechanismus von Antikythera“ sein. In generationenlanger Arbeit ist aus verwitterten Scherben, die man im Meer vor der griechischen Insel geborgen hat, eine hoch komplizierte Apparatur ungezählter Zahnräder rekonstruiert worden, mit der sich von den Bewegungen von Sonne und Mond bis zu den Planetenbahnen so ziemlich alle berechenbaren Geschehnisse der Himmelssphäre zeigen ließen. Man muss nicht viel verstehen, allein die Computeranimation in der Ausstellung ist eine Sensation.
Schon möglich, dass es mal so gewesen ist: Die einen genossen beste Unterhaltung beim vergeblichen Rebhuhn-Fang, die anderen standen vor dem gebückten Atlas, einem schwer muskulösen Mannsbild aus Marmor, der – mythisches Schicksal, das er nie losgeworden ist – auf seinen Schultern das ballförmige Weltall stemmt mitsamt den Sternbildern, die langsam an einem vorbeizogen, wenn sich die Figur auf ihrem Rollenlager im Kreis bewegte.
Und es gehört zu den schönsten Pointen der Entdeckungsgeschichte, dass ausgerechnet ein Universalgelehrter wie Aristoteles vor der Dreh-Figur falsche Schlüsse zog. Man sähe doch deutlich, dass der Atlas die Achse sei, um die der Himmel kreise, während die Erde unbewegt bleibe. Es hat dann noch einmal tausend Jahre gebraucht, bis das geozentrische Weltbild endgültig verblasste.
Mit Zahnrädern allein und plausiblen Schaubildern war die Wissenssucht auf Dauer nicht zu befriedigen. Es hat schon auch mit der animierenden und mobilisierenden Funktion prosperierender Lebensverhältnisse zu tun, dass die exakten Wissenschaften immer exakter wurden und sich von den ökonomischen Bedürfnissen treiben ließen. Spielerisch hat das Entdecken nicht bleiben können, irgendwann ist es zum systematischen Erforschen geworden.
Geblieben ist der Algorithmus als harte Währung. Aufbegehren hat nie viel genützt. Noch Goethe, den Meister aller Klassen, hat man wegen seiner Newton-skeptischen Farbenlehre allenfalls milde belächelt. Als wildere er auf einem Gebiet, das ihn, den Dichter, nichts anzugehen habe.
Mag ja sein, dass die Künste schon dabei sind, mit Bots und Robots eine ganz neue techno-ästhetische Zukunft zu begründen. Vorerst sieht die künstlerische Nutzanwendung der programmierten Tools noch sehr gebastelt aus. Und die „Renaissance 3.0“, die der verstorbene Medienkunstexperte Peter Weibel als „Basislager für neue Allianzen von Kunst und Wissenschaft“ ausgerufen hat, will nicht so recht beginnen. Jedenfalls verspricht der Aufenthalt im „Maschinenraum der Götter“ ungleich mehr klugen Charme.
„Maschinenraum der Götter. Wie unsere Zukunft erfunden wurde“, Liebieghaus Frankfurt/Main, bis zum 10. September 2023