Auch 40 Jahre nach seinem Abschied von der politischen Bühne bleibt Henry Kissinger die überragende Persönlichkeit der amerikanischen Außenpolitik. Das liegt nicht nur daran, dass er in seinen acht Jahren als nationaler Sicherheitsberater und Außenminister wie kein anderer in der US-Geschichte die Weltpolitik bestimmt hat – und das in einer besonders turbulenten Zeit. Vor seiner Berufung in Richard Nixons Weißes Haus 1969 war Kissinger einer der bekanntesten Experten für Sicherheitspolitik. Und seit 1977 prägt der inzwischen 92-Jährige als hochbezahlter Berater, Buchautor – auch mehrerer autobiografischer Wälzer – und ständiger Kommentator alle weltpolitischen Debatten in den USA mit.

Über Kissinger und seine Politik wurden schon dutzende Bücher geschrieben, die zumeist die ideologischen Einstellungen des Autors widerspiegeln. Die Ausnahme ist die hochgelobte Biografie von Walter Isaacson (1992), der vollen Zugang zu Kissinger hatte und dennoch ein recht kritisches Porträt schrieb. Sonst neigt die Kissinger-Literatur zu einer Spaltung in schmeichelhafte Hagiografien und Anklageschriften.

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Henry Kissinger zu Gast beim chinesischen Premier (re.) Deng Xiaoping im Jahr 1974.
Foto: AP

Das gilt auch für die beiden aktuellen Werke am Markt. Der linksgerichtete US-Historiker Greg Grandin von der New York University hat mit Kissingers langer Schatten versucht, einen Bogen von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen der Nixon/Kissinger-Jahre zu George W. Bushs Irakkrieg zu spannen. Der Brite Niall Ferguson, Professor für Geschichte in Harvard, wo einst auch Kissinger lehrte, und eine führende Stimme der Konservativen, geht in Kissinger: Der Idealist auf volle Konfrontation mit den Kritikern seines Helden und spricht ihn zumindest von einem altbekannten Vorwurf frei, den etwa Seymour Hersh und Christopher Hitchens gegen Kissinger erhoben haben.

Dieser lautet, dass Kissinger im Herbst 1968 auf dem Höhepunkt des Vietnamkriegs Geheiminformationen über eine Friedensoffensive von Präsident Lyndon Johnson an das Team des republikanischen Präsidentschaftskandidaten Richard Nixon weitergab. Damit habe er einen Friedensschluss hintertrieben, der dem Demokraten Hubert Humphrey zum Wahlsieg verholfen hätte, und sich selbst den Posten von Nixons Sicherheitsberater gesichert.

Geheimnisverrat an Nixon

Fergusons Zurückweisung dieser abenteuerlichen Geschichte ist glaubwürdig; die Chancen auf ein Abkommen mit Nordvietnam waren damals gering, und Kissinger war bloß ein renommierter Professor, der nicht viel mehr wissen konnte, als man in den Zeitungen las. Die Vorwürfe beruhen auf Aussagen von Männern, die mit Kissinger Rechnungen offen haben. Für jene, die Kissinger jedes Verbrechen zuschreiben, ist diese Argumentation eine Weißwaschung.

Sonst bietet Ferguson wenig Angriffsfläche. Das liegt daran, dass er auf den rund 1000 Seiten Kissingers Werdegang nur bis zu dem Augenblick erzählt, als dieser in Nixons Stab eintritt. Doch diese Geschichte erzählt er umso detailreicher und spannender.

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Archivbild aus dem Jahr 2013
Foto: AP Photo/Jason DeCrow, File

Es ist das Schicksal eines deutschen Juden, der im Alter von 15 Jahren mit seiner Familie aus der bayerischen Industriestadt Fürth nach New York flüchten muss und dort aus bitterer Armut in das Zentrum der Macht aufsteigt. Im Zweiten Weltkrieg ist Kissinger Soldat, erlebt die Befreiung von Konzentrationslagern mit und beschäftigt sich mit Entnazifizierung. Dank eines staatlichen Stipendiums kann er so wie viele andere Ex-Soldaten studieren, wird in Harvard aufgenommen und schreibt dort die längste Diplomarbeit der Universität über die "Bedeutung von Geschichte".

Kissinger bleibt an der Uni, kämpft um Posten und Anerkennung und erzielt seinen Durchbruch durch Aufsätze und Bücher über Nuklearstrategie, mit denen er die Doktrin der Eisenhower-Regierung von der "massiven Vergeltung" kritisiert. Er findet kluge und einflussreiche Förderer, tritt regelmäßig in den Medien auf und sucht unter den Präsidenten John F. Kennedy und Johnson meist vergeblich Einlass in die Korridore der Macht. Seine Hoffnungen ruhen auf seinem Freund Nelson Rockefeller, der reiche Erbe und moderate republikanische Politiker, der sich vergeblich um die Präsidentschaftskandidatur bemüht. Dass der verhasste Nixon Kissinger dann zum zweitmächtigsten Mann der Nation macht, ist mehr Zufall als Schicksal.

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Henry Kissinger zwischen dem deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt (re.) und Außenminister Hans-Dietrich Genscher (li.).
Foto: AP

In Fergusons Buch erlebt man die Höhen und Tiefen des Kalten Kriegs aus der Sicht eines scharfen Beobachters, der etwa schon früh die Hoffnungslosigkeit des Vietnamkriegs erkennt. In den langen zitierten Passagen aus Kissingers Feder fragt man sich allerdings immer wieder, ob dieser Mann wirklich so viel Weisheit hatte, wie ihm zugeschrieben wurde, oder ob er einfach nur geschickter und zielstrebiger war als andere um ihn herum. Kritische Worte sind – bis auf Beschreibungen von Kissingers Jähzorn – jedenfalls rar.

Was die beiden Bücher verbindet, ist der Versuch, das weitverbreitete Bild Kissingers als machiavellistischer Machtpolitiker zu zertrümmern. Ferguson betont den Kontrast zu den Vertretern der Realisten wie Hans Morgenthau, die jede Ideologie in der Außenpolitik ablehnen. Kissinger sei ein Idealist in der europäischen Tradition Immanuel Kants und nicht der amerikanischen von Woodrow Wilson, heißt es immer wieder; deshalb auch der etwas überraschende Untertitel. Für ihn sei der Kampf gegen den Kommunismus eine Lebensaufgabe gewesen. Doch so wirklich überzeugend wird Fergusons These nicht. Kissingers Interesse an Metternich und Bismarck zeigt seine starke realpolitische Ader.

Mehr Jähzorn als Weisheit

Grandin zeichnet Kissinger hingegen als pessimistischen Metaphysiker in der Tradition von Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes, der immer noch glaubt, durch kühnes Handeln allein das tragische Schicksal der Welt abwenden zu können. Auch dies wirkt etwas bemüht.

Grandins Buch ist das kürzere und schwächere der beiden Werke. Die philosophischen Betrachtungen sind langatmig, und für eine überzeugende Darstellung des langfristigen Einflusses Kissingers auf die US-Politik fehlt ihm das Verständnis für die Dynamik der Politik. So ist es seltsam, dass der Kalte Krieg, das prägende Muster in Kissingers intellektuellem Leben, bei Grandin kaum vorkommt. Er lässt auch außer Acht, wie sehr Kissinger als Architekt der Entspannungspolitik mit der Sowjetunion und der Annäherung an Maos China zum Feindbild der republikanischen Rechten wurde.

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Henry Kissinger mit seiner Frau Nancy bei einem Staatsempfang im Weißen Haus 2015.
Foto: EPA/CHRIS KLEPONIS/POOL

Im Mittelpunkt des Buches steht die geheime Bombardierung von Kambodscha, die 1970 begann und allgemein als größter Sündenfall seiner Laufbahn bekannt ist. Der Zorn über diese illegale und brutale Militäraktion, die im Kampf gegen Nordvietnam nichts brachte, aber den Roten Khmer letztlich zur Macht verhalf, ist verständlich, aber schon oft beschrieben worden. Grandin macht Kissinger für die Massaker der indonesischen Armee bei der Besetzung von Osttimor verantwortlich und für das Morden der pakistanischen Militärs in Ostpakistan, dem späteren Bangladesch. Hier verfällt er der Versuchung, den USA alles Übel der Welt zuzuschreiben. Zumindest begeht er nicht wie andere den Fehler, Kissinger als Drahtzieher des Putsches gegen Chiles linken Präsidenten Salvador Allende darzustellen, was er nicht war.

Kissinger war wohl weniger außergewöhnlich, als ihn Bewunderer und Feinde sehen. Seine acht Jahre an der Macht waren von Kontinuität in der US-Außenpolitik der Nachkriegszeit geprägt. Er war und ist vor allem ein begnadeter Selbstdarsteller – eine Rolle, die vielleicht auch Ferguson anstrebt. Man kann mit Spannung auf seinen zweiten Band warten, in dem es um die Jahre an der Macht geht. Dort muss er sich entscheiden, ob er Historiker oder Pressesprecher sein will. (Eric Frey, 17.4.2016)