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Ausland Henry Kissinger

Henry, „der Deutsche“, Kissinger

Ehemaliger US-Außenminister Henry Kissinger gestorben

Im Alter von 100 Jahren ist der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger – einer der einflussreichsten Diplomaten des 20. Jahrhunderts – gestorben. Der im fränkischen Fürth geborene Kissinger starb in seinem Haus im US-Bundesstaat Connecticut, wie seine Beratungsfirma mitteilte.

Quelle: WELT TV

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Henry Kissinger ist tot. Seine Außenpolitik hatte stets auch Kritiker. Doch am Ende hat der Anti-Idealist große außenpolitische Erfolge erreicht und eine Ära geprägt. Vor allem die Angst der Mächtigen hat Kissinger aufgrund seiner Erfahrungen in Deutschland sehr gut verstanden.

Gefragt, welche Parallele er zur Weltlage sehe, brachte Kissinger in einem Gespräch mit der „Financial Times“ das Thema auf seine Kindheit. Im März 1938 wurde über die Juden in Fürth am Tag des Österreich-„Anschlusses“ Hausarrest verhängt. „Es gab eine Ausgangssperre, und überall waren Soldaten“, erinnerte Kissinger sich 80 Jahre später in New York. „Es war eine traumatische Erfahrung, die mich nie mehr verlassen hat.“

Es ließe sich denken, dass der nun gestorbene Heinz Kissinger, 1923 in Fürth geboren, am 9. November 1938 mit seiner Familie über London nach New York entkommen und als Henry Kissinger weltberühmt geworden, Deutschland innerlich den Rücken gekehrt, ja es sogar gehasst hätte. Das Gegenteil war der Fall. Unmittelbar nach dem Krieg hielt er nicht den besiegten Landsleuten, sondern seinen Eltern ein unerträgliches Freund-Feind-, Schwarz-Weiß-Denken vor. Für kurze Zeit schien es, als spiele er mit dem Gedanken, nach Deutschland zurückzukehren. Und seine ganze Außenpolitik, sein ganzes weltumspannendes Denken entsprang letztlich dem Umstand, dass er sich nicht als Amerikaner aus Deutschland fühlte, der alle Brücken abgebrochen hatte, sondern als Deutscher in Amerika.

Er fremdelte mit der Seele der USA. Der „Financial Times“ sagte er im Juli 2018 über das amerikanisch-britische Sonderverhältnis unter Margaret Thatcher: „Ich bin ein Verfechter der Sonderbeziehung, weil ich glaube, dass Amerika eine psychologische Balance braucht, und dies ist eine naturgegebene Beziehung, basierend auf der Geschichte – keine, die bloß auf Zusammenarbeit beruht.“ Kissinger hielt Amerikas Seele für zu jung, für geschichtlich zu jugendlich, um der immensen Verantwortung zum Beispiel des Atomwaffenbesitzes bereits gewachsen zu sein.

Daraus entwickelte er seine Vorstellung einer Weltordnung, in die Amerika zum eigenen Besten genauso eingebunden sein sollte wie die anderen Großmächte. Ohne seine deutsche Herkunft, ohne seine heimliche Liebe zum Land und zum Kontinent der Kindheit, dem er so knapp entkommen war, hätte er diese Weltordnung nicht mit solcher Stringenz und solcher Energie voranzutreiben versucht.

Nazis ermordeten 23 Verwandte Kissingers

Die Nazis haben nachweislich 23 Verwandte Kissingers ermordet, wahrscheinlich sogar mehr, aber die Spuren anderer verlieren sich im Holocaust. Als Kissinger Deutschland verlassen musste, standen an nicht wenigen fränkischen Dorfeinfahrten Schilder wie „Juden sind hier unerwünscht“. Als er Jahrzehnte später von Manhattan zu seinem Landhaus in Kent/Connecticut fuhr, standen an der Zufahrtsstraße zu diesem Ort zeitweilig Schilder wie „Wir wollen hier keinen Kriegsverbrecher“. Gemeint war Kissinger.

Die Pazifistengruppe „Code Pink“ und andere Aktivisten versuchte seine öffentliche Auftritte bis zuletzt durch Proteste zu stören. Für die amerikanischen Demonstranten war das alles eine freie Meinungsäußerung über seine Außenpolitik, die Diktatoren begünstigt, Massenmord zur Folge gehabt und Amerika auf Abwege geführt habe. Für Kissinger waren die Schilder ein Beweis dafür, wie historisch blind politisches Gerechtigkeitsempfinden sein kann – und wie wenig etliche Amerikaner eben tatsächlich verstehen, was Weltmachtpolitik bedeutet.

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Als ob Henry Kissinger nicht besser als die meisten seiner späteren Kritiker aus eigenem Erleben gewusst hätte, was Diktaturen und politische Verbrecher anrichten können. Im April 1945 war er einer der Befreier des KZ-Außenlagers Ahlem bei Hannover. Darüber hat er erst gesprochen, als 2015 ein Soldat aus seiner Einheit Fotos zugänglich machte, auf denen der junge Kissinger zu sehen war. Der britische Historiker Niall Ferguson zitiert in seiner Biografie des Außenministers eine Notiz, die Kissinger damals über den ersten Anblick eines KZ-Häftlings schrieb – erschüttert, bewegt, fassungslos.

Das konnte Kissinger nur deswegen aufschreiben, weil er im Dezember während der Ardennenoffensive um Haaresbreite einem deutschen Artillerieüberfall überlebt hatte, dann im Januar und Februar 1945 nördlich von Aachen das Feuer deutscher Scharfschützen und im April am Mittellauf der Elbe mit viel Glück die Geschossgarben eines russischen Tieffliegers. Dessen Pilot glaubte, der einsam auf der Landstraße fahrende Wagen der US-Armee sei ein deutsches Fahrzeug.

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„Ich stoppe den Jeep“, schreibt Kissinger also nun über den Anblick im KZ. „Kleidung scheint vor meinen Augen vom Körper zu fallen, der Kopf steckt auf einem spindeldürren Stock, die wohl mal ein Hals gewesen ist. Stangen spießen rechts und links heraus, die eigentlich Arme sein sollten, Stangen sind die Beine. ,Wie heißen Sie?‘ Und die Augen des Mannes bekommen einen wolkig-verhangenen Ausdruck, und er nimmt die Kappe ab, in Erwartung eines Schlags. ,Folek… Folek Sama.‘“ Kissinger hatte ihn auf Deutsch angesprochen, der Sprache der SS. Er sagte ihm: „Behalten Sie Ihre Mütze auf. Sie sind jetzt frei.“

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Wäre Kissinger trotz all solcher Erlebnisse beinahe wieder in Deutschland geblieben? Bis in den Herbst 1945 jagte er als Unteroffizier der Militärspionageabwehr Gestapo-Mitglieder, erst in Krefeld, dann in Hannover, dann in Bensheim an der Bergstraße. Für die Zerschlagung einer Hannoveraner Gestapo-Untergrundzelle bekam der knapp 22-Jährige einen Orden.

Amerika muss beweisen, „dass Demokratie tatsächlich eine funktionsfähige Alternative ist“

In Bensheim sorgte er dann für die Entlassung aller NS-belasteten Beamten. Damals schrieb er an die Eltern in New York: „Lieber Vater, Du sagst, ich solle mit den Deutschen hart umspringen. Das ist, wie jede Allgemeinheit, eine Platitüde. Ich bin hart, sogar mitleidlos hart, mit Parteimitgliedern. Aber irgendwo muss dieser Negativismus auch enden, irgendwann müssen wir etwas Positives vorweisen können, oder wir müssen hier auf ewig als Wächter über das Chaos bleiben.“

Amerika müsse beweisen, „dass Demokratie tatsächlich eine funktionsfähige Alternative ist.“ Die Entnazifizierung, setzte er an anderer Stelle hinzu, „erfordert Verantwortungsbewusstsein, psychologisches Einfühlungsvermögen und einen Sinn für Verhältnismäßigkeit“. Es war für ihn leichter, die Psyche gescheiterter Nazi-Anhänger zu erspüren, als es vielleicht scheinen mag.

Acht Monate nach der Ankunft in New York hatte er 1939 an ein ebenfalls entkommene deutsche Freundin geschrieben: „Die acht Monate hier haben mich vom Idealisten zum Skeptiker gemacht.“ Nachdem 95 Prozent seiner früheren Ideale „Schiffbruch erlitten“ hätten, verfolge er „nicht so sehr ein dauerhaftes Ideal, wie ich überhaupt eins zu finden versuche.“ Fast genauso haben sich ehemalige HJler oder Waffen-SS-Soldaten geäußert, die nach 1945 allmählich einen klaren Kopf bekamen.

Kissinger wollte Deutschland nicht zerstören, sondern aufbauen. Aus Bensheim ging er als Dozent an die neue US-Militärschule Oberammergau. Als die Eltern erfuhren, ihr Sohn habe am Alpenrand eine deutsche nichtjüdische Freundin, wurden sie nervös. Der Sohn schrieb seinen Eltern zu dieser Liebe einen geharnischten Brief, den Ferguson zitiert (und der sehr viel später auch eine Stellungnahme Kissingers zu seiner Außenpolitik an die Adresse seiner Kritiker hätte sein können). „Für mich gibt es nicht Schwarz oder Weiß, sondern viele Schattierungen dazwischen. (…) Wahre Dilemmata sind eine Zerrissenheit der Seele, die Agonien heraufbeschwören, von denen ihr in eurer Schwarz-Weiß-Welt nicht den Schimmer einer Ahnung habt.“ Er stritt sich im besiegten Deutschland nicht mit den besiegten Landsleuten, er stritt sich mit seinen dem Holocaust entkommenen Eltern.

Kissinger kam erst im Frühsommer 1947 wieder nach New York, und damit ist auch die unterschwellig infame Frage beantwortet, ob er seinen Aufstieg zum Weltpolitiker eigentlich Hitler zu verdanken gehabt habe. Nein, das hatte er nicht, denn er kam als halb Fremder. „Ich ging in die Armee als Flüchtling, und als Immigrant komme ich nun wieder nach Amerika zurück“, schrieb er nach seiner zweiten Deutschlandzeit. Er blieb ein Immigrant, erst in New York, dann im amerikanischen Hochschulwesen, dann in der Politik und schließlich in der amerikanischen Wirtschaft. „Den Deutschen“ nannten ihn Richard Nixons Mitarbeiter im Weißen Haus, als Kissinger dort 1969 bis 1973 Nationaler Sicherheitsberater war. Henry, der Deutsche. Mit der Oberammergauer Freundin blieb er zeitlebens in Verbindung.

Urplötzlich konnte er hochfahren und mit deutschen Akzent „Bull-Shit!“ schreien

Kissinger war empfindsam, fast wie ein Künstler. Die Fürther Journalistin Evi Kurz hat beschrieben, wie bewegt Kissinger am Grab seiner Großeltern stand, in seiner verlorenen fränkischen Heimat, wie sehr er kleine Gesten schätzte, die erkennen ließen, dass ein Gesprächspartner um diese Gefühle zwar nicht wusste, sie aber erahnte. Zugleich trat der begeisterte Bücherliebhaber und Denker von Jugend an auf wie ein jähzorniger Internet-Nerd.

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Ein Armeekamerad hat das später so geschildert: „Er las Bücher nicht einfach, er aß sie mit seinen Augen, seinen Fingern, er aß sie in permanenter Bewegung, ob auf dem Sessel oder auf dem Bett, und murmelte in ständigem Selbstgespräch. Urplötzlich konnte er hochfahren und mit indigniertem, schweren deutschen Akzent „Bull-Shit!“ schreien, und dann nahm er die These des jeweiligen Autors auseinander, meistens mit Schimpfworten, und gab dem Gelesenen einen, nämlich seinen Sinn.“

So hochfahrend war er auch auf dem Zenit seiner Karriere – immer darauf bedacht, nicht von der eigenen Zerrissenheit, ja manchmal Agonie nicht überwältigt zu werden. Die groteske Einsamkeit im Augenblick schwerer, nur im Nachhinein scheinbar einfacher politischer Entscheidungen hat er wahrhaftig kennengelernt. Wer die psychologischen, die immateriellen Kategorien des Umgangs mit der Macht übersieht, wird scheitern – aber die richtige Antwort darauf, glaubte Kissinger, war selten das scheinbar Naheliegende.

Eitelkeit kannte er. Aber er hatte auch immer Beispiele dafür parat, wie Eitelkeit in der Geschichte Unheil heraufbeschwor. Die alliierte Luftlandung bei Arnheim im Herbst 1944, deren Scheitern die Westfront noch einmal stabilisierte und so Kissingers Einsatz in der Ardennenoffensive mitverursachte, hat er als Resultat der Feldherren-Eitelkeit des britischen Marschalls Bernard Montgomery betrachtet.

Die Seele verstehen, nicht in Schwarz-Weiß-Denken verfallen, die andere Seite verstehen – manchmal wurde dieser Henry Kissinger sichtbar. Der „Zeit“-Begründerin Marion Gräfin Dönhoff widmete er einen ungewöhnlichen, einen fast zärtlichen Nachruf; ihr, der vertriebenen Ostpreußin im Widerstand gegen Hitler, der Vertreterin des geistigen Deutschlands, aus dem er stammte, stand er nahe. Man könnte meinen, Kissinger sei wegen seiner Einfühlungsgabe und aufgrund seiner Lebenserfahrung dazu prädestiniert gewesen, eine moralgestützte amerikanische Außenpolitik zu formulieren. Das Gegenteil war der Fall. Kissinger wurde auch wegen seiner Jugenderfahrungen zum Anhänger einer strikten Nichteinmischungspolitik bei humanitären Fragen. Warum?

Weil er sah, welch furchtbare Macht Diktatoren mit der Atomwaffe nun besaßen, eine Waffe, mit der sie den USA im Gegensatz zu Hitlers Wehrmacht wirklich gefährlich werden konnten. Kissinger glaubte deshalb, dass die Einhegung solcher nuklear bewaffneter Diktatoren nur dann gelingen könne, wenn Amerika jeden Anschein vermeide, einen Regimewandel anzustreben – und zugleich versuche, ein Weltsystem zu schaffen, in dem keine Atommacht Aussicht auf einen Sieg erblicken könne.

Dann siegt der Selbstmörder, nicht der Idealist

Menschenrechtsverletzungen betrachtete Kissinger ausschließlich unter dem Aspekt, ob Washingtons Haltung ihnen gegenüber die weltweite Machtbalance zugunsten der USA verändern würde oder nicht. Die innere Ordnung eines Landes war kein Thema für die USA, solange das Land als Partner der Weltordnung stabil blieb. Der entscheidende Grund war die Atombombe. Sie veränderte in Kissingers Augen alles – und Amerika war für den Besitz einer solchen Waffe gefährlich jung. Viel zu idealistisch, viel zu leicht moralisch erregbar, viel zu schnell bereit, sich um der guten Sache willen in Abenteuer zu stürzen.

Ende der 50er-Jahre veröffentlichte Kissinger sein Buch „Kernwaffen und Außenpolitik“, das ihn auf einen Schlag bekannt machte und ein Bestseller wurde. Der Grundgedanke war: Wenn Staaten einander vernichten können, darf es niemals zum Showdown ohne jeden Ausweg kommen. Denn dann siegt der Selbstmörder, nicht der Idealist. Deshalb müssen Atomwaffenstaaten den kühlen Blick behalten – auch dann, wenn Gefühle hochkochen.

In einer Atomwaffenwelt verhindert man Konfrontation nur durch außenpolitische, und das hieß auch: durch geistige Beweglichkeit. Um sie zu besitzen, dürfen keinerlei Dogmen und Prinzipien die Bewegungsmöglichkeit einschränken. Als Kissinger die Hebel der Macht mitbedienen durfte, handelte er entsprechend. Den Militärputsch in Chile 1973 ließ er geschehen und traf sich später mit Augusto Pinochet. Südvietnam überantwortete er 1975 den Kommunisten. Es gab für ihn Wichtigeres – das Verhältnis zu den Atommächten Sowjetunion und China.

Vietnam war ein Paradebeispiel für Kissingers Denken. Dort setzte Amerika seiner Auffassung nach die weltpolitische Autorität wegen der inneren Ordnung eines strategisch völlig bedeutungslosen Landes aufs Spiel. Kissingers Angst davor, was das bedeute, ging aber in eine völlig andere Richtung als bei pazifistischen, religiösen oder ideologisch motivierten Kriegsgegnern. Kissinger hatte Angst, dass wegen Vietnam die russische Atomrüstung außer Kontrolle geraten könnte.

Er glaubte nicht an den bevorstehenden Kollaps der UdSSR. Als Moskau ab 1965 in großem Stil aufrüstete, um die nukleare Parität zu Amerika herzustellen, sah Kissinger deshalb die Gefahr, dass das Politbüro aus Eitelkeit, ideologischer Aggressivität und die Gewöhnung an technische Erfolge die eigene Aufrüstungspolitik nicht mehr würde anhalten können – selbst dann nicht, wenn die Wirtschaftslage es diktieren müsste. Eine außer Kontrolle geratene russische Rüstungsspirale aber würde in Westeuropa und Amerika unabsehbare psychologische Folgen haben.

Henry Kissinger im Jahr 1976 in Frankreich
Mit KPdSU-Chef Leonid Breshnew 1974 in Moskau
Quelle: AFP/-

Deshalb drängte Kissinger vehement auf ein Raketenbegrenzungsabkommen, auf strategische Entspannung zwischen Moskau und Washington. Dafür wäre ein Mindestmaß an gegenseitigem Vertrauen notwendig. Das würde es nicht geben, solange Ost und West am Mekong einen Stellvertreterkrieg führten – ja sogar, solange Amerika den Sturz des Kommunismus als politisches Ziel verkündete. Deshalb, nur deshalb musste der Vietnamkrieg enden – der Frieden, das Ende der furchtbaren Fernsehbilder, das alles war willkommenes Beiwerk.

Strategisches Vertrauen der Weltmächte zueinander bedeutete vor allem die gegenseitige Anerkennung weltpolitischer Stärke und Prioritäten – ähnlich wie nach dem Wiener Kongress, als sehr unterschiedliche europäische Großmächte ein Bündnissystem als Machtbalance gegen die Wiederkehr eines revolutionären Napoleon schufen. Darüber hatte Kissinger promoviert, und dafür den Nachweis zu erbringen, dass ein solches System auch in der Atomwaffenzeit funktionieren könne, war Kissinger zu vielem bereit.

Die Invasion Kambodschas 1970, um dort Hanois Nachschubwege in den Süden abzuschneiden, die Treffen mit Chinas Diktator Mao Tse-tung, Amerikas Stillhalten beim Putsch in Chile oder beim grausamen Vorgehen der indonesischen Junta gegen Separatisten auf der Insel Timor – viele der Entscheidungen, die Kissingers Kritiker gegen den „Kriegsverbrecher Kissinger“ ins Feld führen, sollten Moskau und Peking zeigen: Wir sind kalten Auges berechenbare Partner.

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Ein Foto aus dem Jahr 1976
Quelle: AFP/-

Menschenrechtspolitik als Außenpolitik hieß in Kissingers Augen, dass der Erfolg der USA davon abhängen würde, ob fremde Machthaber Amerikas Idealen zuliebe abdanken würden. Natürlich würden sie das niemals tun. Und deshalb würden die USA binnen kurzem zum gefesselten Ankläger auf der Weltbühne werden, unfähig, eigene Interessen auch nur ansatzweise zu wahren. Kissinger erregte sich maßlos darüber, dass im US-Kongress mit Blick auf Moskaus Menschenrechtslage das Wort vom „Regimewandel“ fiel. Solche Kanzelsätze würden Moskau und Peking nur argwöhnisch machen, ohne irgendetwas in den Ländern selber zu ändern. Realpolitik bedeutete für ihn, Gegnern die Grenzen ihrer Macht vor Augen zu führen, ohne ihnen die innenpolitische Machtfrage zu stellen.

Für viele Amerikaner hat „dieser Deutsche“ mit einer europäischen Sicht der Weltpolitik vergiftet

Für viele Amerikaner hat „dieser Deutsche“ die USA deshalb mit einer europäischen Sicht der Weltpolitik vergiftet, mit einem Denken in Machtallianzen und imperialen Maßstäben, das jede Moral hintanstelle. Ein Zitat aus einem Tonbandmitschnitt im Weißen Haus macht seit Anfang des Jahrhunderts die Runde, auf dem Kissinger als Außenminister zu Präsident Richard Nixon sagt: „Wenn die Sowjetunion Juden vergast, ist das kein amerikanisches Problem. Das ist kein Außenpolitikthema. Es ist vielleicht ein humanitäres Thema.“

Der jähzornige Kissinger hatte das Vorhaben mehrerer Senatoren gemeint, Fortschritte bei der jüdischen Emigration aus der UdSSR und bei der Menschenrechtslage zur Bedingung jeder weiteren Abrüstungsvereinbarung mit Moskau zu machen. Die jüdische Gemeinde New Yorks reagierte entsetzt auf das Zitat. Kissinger war kaum weniger entsetzt über den in seinen Augen verheerenden Versuch, mit moralischen Tagesforderungen eine Vereinbarung zu torpedieren, von der aus seiner Sicht das Schicksal Amerikas abhängen könnte. 2013 thematisierte ein amerikanischer Autor eine in seinen Augen ähnlich verdammungswürdige amoralische Haltung Kissingers mit Blick auf Massaker in Bangla Desh. Auch dafür gibt es einen Tonbandmitschnitt.

Kissinger setzte sich zur Wehr: Er habe Nixon mit Blick auf das US-Parlament den Unterschied zwischen Außenpolitik und Werteentscheidungen drastisch illustrieren wollen. Für Kissinger bedeutete ein Junktim zwischen Abrüstung und Menschenrechten, Amerikas Autorität den Boden zu entziehen. Warum? Weil Nixons Republikaner bei dem Thema gespalten wären und der Präsident deshalb als jemand bloßgestellt würde, dem seine eigene Partei nicht folgt. Einen Präsidenten, dessen Partei nicht fest hinter ihm stünde, würden die Kommunisten nicht ernst nehmen.

Gegenüber dem maoistischen Terrorregime in China trat er darum mit einer Feinfühligkeit und Vielschichtigkeit auf, die ihresgleichen sucht. Als Lotse, der China zurück in die internationale Gemeinschaft holte, ist Kissinger weltberühmt geworden. Im kommunistischen China glaubte er ein Land gefunden zu haben, das bei aller innenpolitischen Grausamkeit den Wert außenpolitischer Selbstbegrenzung verinnerlicht habe, aus historischen, psychologischen, kulturellen Gründen. In Premierminister Zhou Enlai sah er einen kongenialen Geist. Mit dessen Tod 1975 drohte China den Linksradikalen anheimzufallen. Kissinger geriet in helle Aufregung. Er witterte russische Antwortschachzüge gegen China, die die Abrüstungsdynamik wieder bremsen könnten.

Der Nahe Osten war für ihn eine Wiederkehr des 30-jährigen Krieges

An Syrien hat Kissinger sich in den 70ern bis zur Erschöpfung verbissen, es hat nur zu einem politischen Atemholen gereicht. Sein damals legendärer, heute fast vergessener Pendelflugverkehr zwischen Damaskus, Kairo und Jerusalem nach dem Jom-Kippur-Krieg 1973 führte zum Waffenstillstand, mittelbar auch zum ersten Israelbesuch eines arabischen Staatschefs, dem Ägypter Anwar al-Sadat, und zu Präsident Jimmy Carters Camp-David-Abkommen. Aber Kissinger schaffte nicht die erhoffte Lösung der Gesamtproblematik. Der Nahe Osten war für ihn eine Wiederkehr des 30-jährigen Krieges, in seiner Unlösbarkeit potenziert durch die fehlende Bindung an eine antike Staatstradition.

Es war kaum verwunderlich, dass er seine politische Karriere Anfang der 50er-Jahre als Berater des „Komitees für Psychologische Kriegführung“ begann. Weltpolitik war für ihn ein System, das nur dann funktioniert, wenn man die Interessen und Seelenzustände aller Akteure sehr genau kennt und sehr bewusst in die Architektur einbaut. Seine eigene Rolle darin hat er mit viel Pathos beschrieben, einem Pathos, das auch die Unsicherheit des Immigranten hervorschimmern ließ.

Henry Kissinger lacht während einer Pressekonferenz nach der Unterzeichnung des Abschlusskommuniqués über die Umsetzung des Friedensabkommens für Vietnam durch Kissinger und den nordvietnamesischen Delegationsleiter Le Duc Tho
1973 in Paris
Quelle: AFP/-

Der Preis seiner Politik war ihm bewusst. Für den Mitbefreier des KZ Ahlem gab es die deutsche Melancholie der Macht, die Traurigkeit der Erkenntnis, bei eigenen Zielen von den Zielen, Gedanken und Launen anderer abhängig zu sein. Das hatte er in seiner Jugend erfahren, das erlebte er nun mit Mao, der ihn 1973 als „kleinen Pinscher“ einstufte, mit dem erratischen Richard Nixon, mit dem steinharten nordvietnamesischen Verhandlungspartner Le Duc Tho, mit der Tragik um Osttimor. Kissinger war nicht blind für die ungeheuren Opfer. Wie hätte er das nach 1945 je sein können.

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Aber rigoros war er bei der Frage, was es heißt, in Sekunden entscheiden müssen, ob ein falscher Schritt die nächsten 20 Jahre in eine völlig andere Richtung drehen könnte. Kissinger hatte die Schattierungen im Blick, die Grauzonen, die noch viel größeren Opfer, die ein anderes Handeln kosten könnte. Zumindest glaubte er das.

Es musste ja alles neu erfunden werden – sein eigenes Leben, dann Deutschland, Europa, die Weltpolitik im Schatten der Atomwaffe. In der sogenannten Dritten Welt hat Kissinger sich nie bewegt. Bill Clintons und Bill Gates‘ Idealismus ging ihm ab. Seine Welt war die Nordhalbkugel.

Im Zentrum von Kissingers Politik und Weltbild stand die Gefühlswelt von paranoiden oder gutwilligen Führern. Für ihn waren Diktatoren und Demokraten gleichermaßen Menschen in ihrem Befangensein, ihrer Tragik, ihrem Wahn, ihrer Angst.

Vor allem die Angst der Mächtigen hat Kissinger sehr gut verstanden. Mit ihr rechnete er. Er kannte sie ja nur zu gut selber.

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