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1 Einleitung

Eine Silberkugel mit dem Durchmesser eines Fahrradreifens gab den Startschuss für den strategischen Wettbewerb der Supermächte im Weltraum. In Folge des „Sputnik-Schocks“, der am 4. Oktober 1957 die westliche Welt in ungläubiges Staunen versetzte, begann das erste Zeitalter der Raumfahrt, das mit dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 endete, jedoch bis in die Gegenwart hinein historische Lehren für politische Entscheidungsträger und Entscheidungsträgerinnen bereithält.

In diese goldene Ära der Weltraumexpedition fallen die bis heute teuersten Projekte der Menschheitsgeschichte: im zivilen Bereich, der durch US-Präsident John F. Kennedy eingeläutete bemannte Wettlauf zum Mond; im militärischen Bereich, die von US-Präsident Ronald Reagan verkündete Strategische Verteidigungsinitiative, kurz SDI (Strategic Defense Initiative). Das Wissen um die genauen Erfolgskomponenten dieser Jahrhundertprojekte hält das Unwissen über zukünftige Weltraumunternehmungen in kalkulierbaren Grenzen. Für den amerikanischen Diplomatiehistoriker Hal Brands ist die Geschichte der Supermächtekonfrontation im 20. Jahrhundert gar der einzige Erfahrungsschatz, um die Bewegungsgesetze des strategischen Langzeitwettbewerbs im 21. Jahrhundert verstehen und zu seinem Vorteil nutzen zu können.Footnote 1

Die Frage, ob die Geschichte eine Lehrmeisterin für die Gegenwart sein kann, ist dabei so alt wie die Disziplin der Geschichtswissenschaft selbst. John Lewis Gaddis zufolge gleicht das Wissen um die Vergangenheit dem Blick in den Autorückspiegel: wenn man nur zurückschaut, landet man im Graben, aber es hilft zu wissen, woher man kommt und wer noch unterwegs ist.Footnote 2 Dabei ist die Geschichte zu jedem Zeitpunkt einzigartig, gibt auf konkrete Fragen stets mehrere, oft widersprüchliche Antworten und bildet die Blaupause, vor deren Hintergrund größere Trendentwicklungen, Momentumswechsel und günstige Gelegenheiten erkannt und genutzt werden können.Footnote 3 Glaubt man Winston Churchill, so ist die historische Erfahrung für den Staatsmann und die Staatsfrau die zentrale Bezugsgröße für die Gestaltung des Morgen: „Je mehr man in die Vergangenheit schaut, desto weiter sieht man in die Zukunft.“Footnote 4

2 Gut ist, was nützt

Die dynamische Anpassungsfähigkeit an die fortschreitenden Zeitumstände – die qualità dei tempi – betrachtete schon Niccolò Machiavelli als grundlegend für den Machterhalt.Footnote 5 Auch in der Raumfahrtgeschichte des 20. Jahrhunderts heiligte oftmals der Zweck die Mittel. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges besaßen deutsche Raketeningenieure neuesten Schätzungen zufolge einen Wissensvorsprung von mindestens zwanzig Jahren.Footnote 6 Unter Federführung von Wernher von Braun, der im Wissen um den Einsatz von Zwangsarbeitern die erste ballistische Langstrecken-Lenkwaffe der Welt entwickelte, hatte die moderne Raketentechnik im nationalsozialistischen Deutschland ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht.

Im Rahmen der Operation Paperclip wurde von Braun nebst 126 weiteren Forschern nach Kriegsende in die USA überführt. Der wohl größte Wissenstransfer der Raumfahrtgeschichte begann mit der Reinwaschung belasteter Lebensläufe.Footnote 7 Bei der Wandlung vom ehemaligen SS-Offizier (Schutzstaffel) zum amerikanischen Nationalhelden und „Propheten des Weltraumzeitalters“Footnote 8, wie ihn die New York Times später nannte, erwiesen sich von Brauns Wissen, Genialität und das gemeinsame Feindbild des Sowjetkommunismus stärker als seine zweifelhafte Vergangenheit. Nicht einmal 23 Jahre lagen zwischen der 15 m hohen V2-Rakete (Vergeltungswaffe 2), die am 20. Juni 1944 von Peenemünde aus erstmals das Schwerefeld der Erde verließ und ihrem 111 m großen Nachfolger Saturn V, die am 9. November 1967 in Florida abhob und zu Testzwecken in die schwarze Leere des Alls vordrang. Wernher von Braun war der Vater des „kraftvollste[n] je gebaute[n] Antriebsaggregat[s]“Footnote 9, das einer Montagehalle bedurfte, die den Kölner Dom noch um ein Vielfaches überragte. Der Triumph der Technik kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass schon die ersten Schritte auf dem Mond auch mit dem Leid und Leben Unschuldiger erkauft worden sind.

3 Erfolg hat einen hohen Preis – zahle ihn

„Gewinnen oder nicht verlieren“Footnote 10 lautete für Raymond Aron die Kernfrage der Supermächtekonfrontation im Kalten Krieg. Solche absoluten Ziele erforderten das absolute Opfer. Von den Rhesusäffchen „Albert“ (I bis V) über die Hündin „Laika“ bis hin zu den zahlreichen Testpiloten der bemannten Raumfahrt hat der strategische Wettbewerb im Weltraum immer wieder Leben gekostet. Der menschliche Verlust war ein Risiko, das von einem Großteil der NASA-Verantwortlichen (National Aeronautics and Space Administration) – vor allem in der Frühphase des Mercury-Programms – sehenden Auges einkalkuliert wurde.Footnote 11

Die Astronauten waren erfahren genug, um zu wissen, worauf sie sich einließen, wenn sie ihr Leben der Technik anvertrauten: „Wie würden Sie sich fühlen, wenn sie auf einer Maschine festgeschnallt wären, die aus tausenden Teilen besteht, von denen jedes einzelne das billigste Angebot war?“Footnote 12, kommentierte John Glenn mit einem Augenzwinkern und der stoischen Ruhe, die alle Astronauten auszeichnete, wenn es ernst wurde.

Durch eine offene Fehlerkultur konnten immer wieder teure Verluste von Wenigen in kostbare Gewinne für Viele umgewandelt werden. Als am 27. Januar 1967 während eines Routinetests ein Kabelbrand in der Kommandokapsel auf Cape Canaveral die ersten drei Opfer der amerikanischen Raumfahrt forderte, war es die schonungslose Selbstkritik der NASA, die dem tragischen Tod der Besatzungsmitglieder einen Sinn gab, indem die Sicherheitsvorkehrungen nachträglich verbessert und die Zukunft des Apollo-Programms auf diese Weise gesichert wurden.Footnote 13

Durch die Wandlung vom passiven Opfer (lat. victima) zum aktiven Opfer (sacrificium) wurden verunglückte Astronauten in öffentlichen Verlautbarungen zu nachahmenswerten Helden stilisiert, die ihr Leben in den Dienst einer guten Sache gestellt hatten. So war die „größte Katastrophe der amerikanischen Raumfahrt“Footnote 14, die Explosion des Raumtransporters Challenger am 28. Januar 1986, bei der alle Besatzungsmitglieder vor laufenden Kameras ums Leben kamen, für US-Präsident Ronald Reagan keineswegs ein Grund, das Shuttle-Programm einzustellen. Ganz im Gegenteil ließ er die Nation in einer Mischung aus mitfühlender Demut und amerikanischem Grundoptimismus wissen, dass „die Zukunft nicht den Zaghaften, sondern den Mutigen gehöre“Footnote 15. Die verstorbenen Astronauten hatten „die Fesseln der Schwerkraft gesprengt und das Antlitz Gottes berührt“Footnote 16. Nach zweijähriger Umstrukturierung des Shuttle-Programms nahm die Orbiterflotte wieder ihren regulären Dienst auf.

4 Ohne sie ist alles nichts: Persönlichkeit, Visionskraft und klare Ziele

Der politische Philosoph und Ideenhistoriker Isaiah Berlin hat einmal festgestellt, dass Individuen in entscheidenden Momenten den Verlauf der Geschichte maßgeblich beeinflussen können.Footnote 17 Diese Ausnahmeerscheinungen beflügeln die Träume der Menschen, indem sie ihnen einen Weg aus der Realität der Gegenwart hin zu einer visionären Zukunft weisen.

Das „große, neue, amerikanische Wagnis“Footnote 18, dass John F. Kennedy am 25. Mai 1961 vor beiden Kammern des US-Kongresses verkündete, war aus dem Stoff, aus dem moderne Heldenepen sind: „Ich glaube, dass diese Nation sich das Ziel setzen sollte, noch vor Ende dieses Jahrzehnts einen Menschen auf den Mond zu landen und ihn sicher wieder zur Erde zurückzubringen.“Footnote 19 Der Startschuss für den Wettlauf zwischen West und Ost, der vielen Zeitgenossen angesichts von Juri Gagarins erstem Weltraumflug nur wenige Tage zuvor etwas voreilig schien, gab dem ganzen Land einen klaren strategischen Kompass, ließ bei der praktischen Umsetzung jedoch ausreichend großen Handlungsspielraum. Das teuerste zivile Projekt der Menschheitsgeschichte etablierte einen offenen Zukunftsbegriff und hatte das Potential, den angeschlagenen amerikanischen Nationalstolz wiederherzustellen. Niemand könne garantieren, so Kennedy, „dass wir eines Tages die ersten sein werden, doch er könne garantieren, dass wir, wenn wir […] die Anstrengungen nicht unternehmen, die letzten sein werden.“Footnote 20

Für seinen Biographen Robert Dallek stand der Präsident – wie ein Großteil der amerikanischen Bevölkerung – der Erforschung des Weltalls anfangs skeptisch gegenüber. Die bemannte Raumfahrt unterstützte er dann schließlich doch – zuerst aus politischen Gründen, später weil Kennedy daran glaubte, dass die Nation dabei ihren heroischen Pioniergeist wiederfinden und über sich selbst hinauswachsen könne.Footnote 21 „Wenn wir uns vornehmen, noch in diesem Jahrzehnt auf den Mond zu fliegen“ so hielt er den Bedenkenträgern entgegen, „dann tun wir dies nicht, weil es leicht ist, sondern weil es schwer ist, weil dieses Ziel uns helfen wird, das Beste unserer Kräfte und Fähigkeiten zu mobilisieren und zu beweisen.“Footnote 22

Seine kühne Visionskraft und politische Unterstützung für den bemannten Weltraumflug hob John F. Kennedy ab von seinem Vorgänger Dwight D. Eisenhower. Für James Donovan machte ihn das zum „größte[n] Förderer der amerikanischen Raumfahrt“Footnote 23, wenngleich sein Vizepräsident und Nachfolger Lyndon B. Johnson, der entscheidend zur Gründung der NASA beigetragen hatte, „wie kein anderer [als] Architekt des amerikanischen Raumfahrtprogramms“Footnote 24 gelten musste.

5 Mit agilen Organisationsformen dem Unbekannten trotzen

Der strategische Wettbewerb im Weltraum war eine Auseinandersetzung mit hohem Einsatz und ungewissem Ausgang. Denn wer das Bekannte kennt und sich darüber bewusst ist, dass sich zugleich Unbekanntes seinem Wissen entzieht, der ist Donald Rumsfeld zufolge weiterhin blind für die „unknown unknowns“– „Dinge, von denen wir nicht wissen, dass wir sie nicht wissen“Footnote 25. So trug der strategische Wettbewerb im Weltraum ein unkalkulierbares Risiko in sich und glich oftmals einem Sprung ins Dunkle. „Wir versuchen und planen für das Unbekannte. Es ist das Unbekannte am Unbekannten, das uns beunruhigt“Footnote 26, konstatierte der NASA-Raumfahrtpionier Bob Gilruth, der wie kein Zweiter die vage Vision der Mondlandung mit den praktischen Zwängen eines solchen Großprojekts zu vereinen wusste.

Im beständigen Streit mit dem Ungewissen half allein das blinde Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Von John F. Kennedy über Lyndon B. Johnson bis hin zu Ronald Reagan waren alle US-Präsidenten vereint in ihrer Beherztheit, mit der sie trotz begrenzten Wissens, unvollständigen Informationen und wenig Zeit zu tragfähigen politischen Entscheidungen kamen. Das Mercury-Programm war begonnen worden, ohne zu wissen, wie sich die Schwerelosigkeit und die Belastungen durch eine große vertikale Beschleunigung auf den Menschen auswirkten. Die Mondlande-Geräte waren in ihren technischen Kernfunktionen entwickelt worden, ohne dass die NASA mit Sicherheit sagen konnte, wie sie überhaupt zum Erdtrabanten gelangen sollte. Und erst als am 20. Juli 1969 der erste Mensch den Mond betrat, herrschte letzte Gewissheit über die Beschaffenheit seiner Oberfläche: die zeitweilige Sorge einer dicken Staubschicht, in die die Mondlandefähre versinken könne, war gewichen zugunsten der Gewissheit einer festen Basaltkruste.Footnote 27

Die Erfahrung der bemannten Raumfahrt im 20. Jahrhundert lehrt, dass eine agile Organisationsform, welche flexibel auf stetig verändernde Rahmenbedingungen Rücksicht nimmt, oftmals zielführender ist als die zu weit in die Zukunft gedachte „Goldrandlösung“. Die mehr als 400.000 Menschen, die Ende der 1960er Jahre in der Industrie, den Universitäten und Forschungseinrichtungen für die NASA arbeiteten, wurden diesem Anspruch gerecht. Sie waren organisiert in flachen Hierarchien, in denen die unterste und oberste Ebene, Techniker und Manager, in direkten Austausch miteinander standen und Innovationszyklen auf diese Weise verkürzt wurden.Footnote 28

6 Nutze das Licht der Öffentlichkeit als Ansporn

Der strategische Wettbewerb im Weltraum besaß im 20. Jahrhundert Schau-Charakter: Er wurde vor der Weltöffentlichkeit und für sie ausgetragen. Doch im Kontrast zur UdSSR (Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken), wo jedes Raumfahrtunternehmen strengster Geheimhaltung unterlag, Raketenstarts erst triumphierend verkündet wurden als sie geglückt waren, und die Identität von Raketenchefkonstrukteur Sergei Koroljow der Bevölkerung vorenthalten wurde, betrieben die USA eine transparente Medien- und Informationspolitik.Footnote 29 Washington hatte sich, anders als Moskau, vor der Weltöffentlichkeit zu einer Mondlandung verpflichtet und damit seine Glaubwürdigkeit – die wichtigste psychologische Ressource der Macht – aufs Spiel gesetzt. Ebenso sein internationales Ansehen und den Anspruch auf technologische Vorreiterschaft.

Die Einhaltung des selbst auferlegten Ultimatums „bis Ende des Jahrzehnts“ sowie die Tatsache, dass den USA getreu ihrem demokratischen Ethos bei ihrer Mondmission vor den Augen der Öffentlichkeit kein Vertuschungsapparat zu Verfügung stand, zwangen sie zu anderen Maßnahmen, um das Risiko eines Scheiterns in kontrollierbaren Grenzen zu halten. Dazu gehörte das Mantra einer übermächtigen sowjetischen Existenzbedrohung im All. Ängste und Unsicherheiten waren wirkmächtige Triebfedern des strategischen Wettbewerbs im Weltraum. Von Kennedys viel beschworener „Raketenlücke“, die er für Wahlkampfzwecke frei erfunden hatte, bis hin zu „Webbs Riesen“, die furchterregende Drohkulisse in Gestalt einer großen sowjetischen Trägerrakete, die NASA-Leiter James Webb gegen Etatkürzungen ins Feld führte – stets ließen sich durch die Dramatisierung des sowjetischen Bedrohungspotentials einträgliche politische Gewinne erzielen.Footnote 30 Diese waren auch zwingend notwendig, schließlich veranschlagte die NASA für das Apollo-Programm – das teuerste Projekt, das die USA bis dato in Friedenszeiten unternommen hatten – rund 25 Mrd. USD. Das entsprach wöchentlich rund 50 Cent pro Kopf der amerikanischen Bevölkerung, während die Erfolgsaussichten der gesamten Mondmission zeitweise bei nur 50 bis 56 % lagen.Footnote 31

Der Erfolg gab dem umstrittenen Unterfangen Recht. Die Mondlandung war eine Mondlandung um ihrer selbst willen. Eine politische Machtdemonstration in Echtzeit, die vor dem größten Fernsehpublikum aller Zeiten die Überlegenheit des freien Westens gegenüber dem Sowjetkommunismus unter Beweis stellte. Wissenschaftliche Erkenntnisse waren dem politischen Triumph nachgeordnet.Footnote 32 Kein Pathos war groß genug, um die Symbolwirkung des Ereignisses in Worte zu fassen: Apollo, der antike griechische und römische Gott des Lichts und des Fortschritts, dessen pferdebespannter Streitwagen die Sonne über den Himmel zog, hatte unter amerikanischer Flagge sein Ziel erreicht.

7 Beherrsche den großen Bluff: Die Kunst des Tarnens und Täuschens

„Jede Kriegführung gründet auf Täuschung“Footnote 33, schrieb einst der Militärstratege Sun Tsu und nahm damit das Kalkül vorweg, das die USA mit ihrer SDI im letzten Jahrzehnt des Kalten Krieges verfolgten. Das weltraumgestützte Raketenabwehrsystem, welches US-Präsident Ronald Reagan am 23. März 1983 verkündete, hatte epochale Auswirkungen auf die transatlantischen Beziehungen, den Zerfall des Ostblocks und das friedliche Ende des Kalten Krieges.

Was mit dem politischen Schlagwort Star Wars seinerzeit auch populärkulturell überhöht wurde, symbolisierte das Scheitern der Sowjetunion, die bei elektronischer Datenverarbeitung und Laser- und Satellitentechnik mit den USA nicht mithalten konnte. Auf Grundlage neuester Forschungsergebnisse kann heute kaum noch bezweifelt werden, dass das hochentwickelte Technologieprojekt, das nie über die Forschungs- und Testphase hinausging, ein milliardenschwerer Bluff blieb.Footnote 34 Zu groß waren bis zuletzt die technischen Einwände und zu klein der inneramerikanische Konsens darüber, wie SDI am gewinnbringendsten einzusetzen sei. Während der Präsident persönlich das auf Nuklearwaffen basierende Gleichgewicht des Schreckens mit nicht-nuklearen Defensivmitteln zu überwinden versuchte, sahen es andere Administrationsmitglieder als unverhandelbares Druckmittel an, mit dem der Kremlführung ihre eigene Unzulänglichkeit vor Augen geführt werden sollte. Wieder andere betrachteten es als taktische Konzessionsmasse für die Erleichterung einer Einigung mit der UdSSR in anderen Bereichen.

Was im Endergebnis zählte, war weniger der genaue Daseinszweck des teuersten militärischen Rüstungsprojekts der amerikanischen Geschichte als vielmehr der sowjetische Glauben an dessen Funktionsfähigkeit. „Was der potenzielle Angreifer glaubt, ist entscheidender als das, was objektiv wahr ist. Abschreckung findet vor allem in den Köpfen der Menschen statt“Footnote 35, schrieb Henry Kissinger in einem seiner Grundlagenwerke über die Wahrnehmungsbedingtheit außenpolitischer Macht. Mithilfe inszenierter Waffenerprobungen wurde der Anschein eines technologischen Durchbruchs gewahrt und SDI vor versammelter Weltpresse schlagkräftiger dargestellt, als es in Realität war. Bei solchen Täuschungsmanövern spielte das Pentagon psychologisch mit den Befürchtungen der sowjetischen Militärs, die den USA einen technischen Durchbruch anfangs noch jederzeit zutrauten.

Die Kunst, die Wahrnehmung der Menschen so zu beeinflussen, dass sie ein verzerrtes Abbild der Realität als Wirklichkeit akzeptierten, machte den strategischen Wettbewerb im Weltraum zu einem Unterfangen, bei dem nicht immer trennscharf zwischen Schein und Sein sowie Wirklichkeit und Inszenierung unterschieden werden konnte.Footnote 36 Raum und Zeit waren die wichtigsten Kategorien der Irreführung im All. Dies betraf beispielsweise auch die genauen Koordinaten des streng geheimen sowjetischen Weltraumbahnhofs Baikonur. Sein Name führte absichtlich auf falsche Fährte, da sich das eigentliche Kosmodrom nicht in der gleichnamigen Bergarbeiterstadt, sondern rund 40 km weiter nördlich in den abgeschiedenen Weiten der kasachischen Steppe befand, worüber Washington seit 1957 durch U-2-Aufklärungsflüge (Lockheed Utility 2) Kenntnis besaß.Footnote 37 Das Timing der Mission Mercury-Redstone 3, die am 5. Mai 1961 Alan Shepard als ersten Amerikaner ins All brachte, lenkte politisch ab von der misslungenen Invasion der Schweinebucht auf Kuba, die die USA nur fünf Tage nach dem Orbitalflug Gagarins zusätzlich brüskiert hatte.Footnote 38

8 Ort der Begegnung: Kooperation und Inklusion im Weltraum

„Zum Teufel mit der Vergangenheit – wir machen es auf unsere Weise und bringen etwas zustande!“Footnote 39 Mit diesem Toast auf Michail Gorbatschow leitete Ronald Reagan das friedliche Ende des Kalten Krieges ein und bewies ganz nebenbei, dass es mit einem aufrichtigen politischen Willen auch immer einen Weg gab. Vom 1967 unterzeichneten Weltraumvertrag, der die Militarisierung des Alls und die Vereinnahmung des Mondes oder eines anderen Himmelskörpers durch die Supermächte untersagte, bis hin zum europäisch-amerikanischen Spacelab-Projekt hat es im Kalten Krieg immer wieder fruchtbare Formen der Kooperation im Weltraum gegeben. Einen ersten Durchbruch erreichte die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit mit den Helios-Programm, dessen Raumsonden Mitte der 1970er Jahre der Sonne näherkamen als irgendein anderes von Menschenhand geschaffenes Objekt bisher.Footnote 40 Der wiederverwendbare Raumtransporter Space Shuttle, dessen Entwicklung bereits Anfang der 1970er Jahre begonnen worden war, ebnete den Weg zu einer wirtschaftlicheren und nachhaltigeren Form der Raumfahrt, den das US-Unternehmen SpaceX mit seinen mehrfach nutzbaren Falcon-Raketen seit 2017 perfektioniert hat.Footnote 41

Ihren Höhepunkt erreichte die deutsch-amerikanische Kooperation im All im Rahmen des Weltraumlabors Spacelab, das in die Nutzlastbucht des Space Shuttles eingefügt und vor allem in den 1980er Jahren für zahlreiche Experimente genutzt wurde, die mehrheitlich die Auswirkungen der Schwerelosigkeit auf den Gebieten Fluidphysik, Materialforschung, Biologie und Medizin zum Ziel hatten. Das „ehrgeizigste Projekt der europäischen Raumfahrt“Footnote 42, wie es Günter Siefarth nannte, legte die Projektleitung und Montage in deutsche Hände und katapultierte die Stadt Bremen mit dem dort ansässigen Firmenverbund MBB/ERNO (Messerschmitt-Bölkow-Blohm/Entwicklungsring Nord) zeitweilig zum Zentrum der europäischen Weltraumforschung. „Gemeinsam bauen die freien Menschen der Welt mithilfe der Technologie eine Welt des Wohlstands und des Friedens auf, die noch vor wenigen Jahrzehnten unvorstellbar war“Footnote 43, erklärte Ronald Reagan in einer Ende 1983 übertragenen Live-Schaltung mit Helmut Kohl und dem Besatzungsmitglied der Columbia-Mission, Ulf Merbold, der nach dem DDR-Kosmonauten (Deutsche Demokratische Republik) Sigmund Jähn (1978) der zweite Deutsche im All war.

In der Leere dieses grenzenlosen Raumes verschwammen die Trennlinien, die sich die Menschen auf Erden selbst gesetzt hatten. Von Juri Gagarin, Sohn eines Kleinbauern, der am 12. April 1961 als erster Mensch die atmosphärische Hülle unseres Heimatplaneten durchdrang über die 26-jährige sowjetischen Textilingenieurin Walentina Tereschkowa, die im Juni 1963 als erste Frau in den Weltraum vorstieß, bis hin zur amerikanischen Grundschullehrerin Christa McAuliff, die 1986 auf tragische Weise bei der Explosion der Challenger ums Leben kam – stets hatte die bemannte Raumfahrt einen inklusiven Anspruch und transzendierte soziale Klassenunterschiede, wenngleich vielfach propagandistisches Kalkül dahintersteckte. Im Weltraum waren alle Erdenbewohner gleich – Abgesandte des homo sapiens.

Dem bemannten Raumflug kam deshalb ein schwer messbarer Eigenwert zu. Kritiker, die seinen Kostenaufwand angesichts drängenderer Probleme auf Erden infrage stellten, vergaßen allzu leicht, dass sich nicht alle menschlichen Unternehmungen an ihrem Nutzen messen ließen, wie ein Blick in die Welt der Kunst und Kultur verriet.Footnote 44 Ganz im Gegenteil. Erst als der Mensch seinen Heimatplaneten verließ, wurde ihm die Fragilität seiner Spezies bewusst, wie das ikonographische Foto vom „Erdaufgang“ bewies, das Astronaut William Anders 1968 während des Fluges von Apollo 8 aufnahm. Erstmals wurde dem Menschen sein Zuhause als eine vollkommene blau-weiße Kugel auf schwarzem Samt sichtbar. „Wir flogen bis zum Mond“, so Anders, „und das Wichtigste, was wir dabei entdeckten, war die Erde.“Footnote 45

9 Die sieben politischen Lektionen aus dem Kalten Krieg: Was sagen sie uns heute?

Vom Apollo-Programm bis zur Strategischen Verteidigungsinitiative war der Weltraum im 20. Jahrhundert ein kompetitiver Ort. Als Schrittmacher des Fortschritts erwies sich dort einmal mehr „der Krieg als Vater aller Dinge“Footnote 46. Kooperiert wurde ausschließlich von jenen, die nicht stark genug waren, ihre Ziele allein zu erreichen. Oder solchen, die die Kooperation um ihrer selbst willen betrieben. Handlungsleitend war für die politischen Entscheidungsträger und Entscheidungsträgerinnen einerseits das Streben nach strategischer Dominanz und Sicherheit. Anderseits der unbändige wissenschaftliche Erkenntnisdrang, der die Menschen über ideologische Grenzen hinweg vereinte. „Die Erde ist die Wiege des Geistes, aber man kann nicht ewig in dieser Wiege bleiben“Footnote 47, schrieb einst der russische Raumfahrtpionier Konstantin Eduardowitsch Ziolkowski und nahm damit weite Teile der Weltraumgeschichte nach 1945 vorweg. So war die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt von einem hoffnungsvollen Technologie- und Zukunftsoptimismus, der ganze Gesellschaften elektrisierte. Gleichzeitig jedoch wurden im Namen von Fortschritt und Überlegenheitsstreben immer wieder individuelle Opfer, menschliche und tierische, billigend in Kauf genommen. Schlussendlich ließen die im Spannungsfeld von Krieg und Frieden verorteten politischen Lektionen Überzeitliches erkennen: Auch im Weltraum waren der Wille und die Fähigkeit zur strategischen Selbstbehauptung nicht alles, aber ohne sie war alles nichts.

Die USA haben sowohl den Wettlauf zum Mond als auch die Supermächtekonfrontation insgesamt für sich entschieden. Die genauen Erfolgskomponenten für ihren Triumph waren mannigfaltig. Für Hal Brands lassen sie sich auf einen wichtigen Lehrsatz zurückführen: Hindere den Gegner am Fortschritt, lasse ihm jedoch stets einen gesichtswahrenden Ausweg – so lautet für ihn der machtpolitische modus operandi, mit dem strategische Rivalen auch in Zukunft an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gebracht werden können.Footnote 48

Längst bahnt sich der unstillbare Drang der menschlichen Neugierde neue Wege und bildet Allianzen mit geopolitischen Interessen. An die Stelle der Sowjetunion ist heute die Volksrepublik China getreten, die einen neuen Wettlauf ins All eingeläutet hat und Milliardensummen für ihr Raumfahrtprogramm aufwendet. Vor dem militärischen Charakter von Pekings Ambitionen, die nicht vorsehen, Forschungsergebnisse mit dem Rest der Welt zu teilen, hat NASA-Chef Bill Nelson wiederholt gewarnt.Footnote 49 Von einer permanenten Mondstation bis hin zur Rückführung von Marsgestein hat sich das Riesenreich noch in diesem Jahrzehnt ehrgeizige Ziele gesetzt. Ob der freie Westen ein zweites Mal über sich hinauswächst und die Mittel und Ziele aufbringt, um im strategischen Wettbewerb im Weltraum die Oberhand zu behalten, steht in den Sternen.