Am 27. Februar 1856, also vor 150 Jahren, starb Heinrich Heine. Heine zählt mit Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller zu den 3 weltweit bekannten deutschen Dichtern. Woran Heine gestorben ist, ist trotz intensiver Forschung bis heute nicht abschließend geklärt. Eigentlich könnten sich die Pathographen in einer komfortablen Situation wähnen. Denn die Leiden des 1797 geborenen und seit 1831 in Paris lebenden Dichters, Kritikers und Feuilletonisten sind ungewöhnlich gut dokumentiert.

Anfang der 1830er Jahre traten erste vorübergehende Lähmungen der linken Hand auf. Später verlor Heine zunehmend seine Sehkraft. Auch seine Augenlider konnte er zuletzt nur noch mit der Hand öffnen. Bereits 1847 war der Allgemeinzustand Heines so schlecht, dass in deutschen Zeitungen erste Todesmeldungen kursierten [2]. Seit seinem physischen Zusammenbruch im Mai 1848 konnte Heine bis zu seinem Tode die Wohnung nicht mehr aus eigener Kraft verlassen (Abb. 1). Zuletzt musste er in seiner sprichwörtlich gewordenen „Matratzengruft“ von einer Pflegerin getragen werden. Zu der fast vollständigen Lähmung der unteren Extremitäten traten schmerzhafte Koliken des Magen- und Darmtraktes und Krämpfe hinzu. Erschwert wurde dieses Martyrium durch hartnäckige Verstopfungen und in den letzten Lebensmonaten durch häufige und erschöpfende Hustenattacken.

Abb. 1
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Die Leiden Heines sind gut dokumentiert

Misslich ist, dass keiner der zahlreichen Ärzte Heines eine gesicherte Diagnose hinterlassen hat, die über die Hintergründe der Krankheit und die unmittelbare Todesursache aufklären würde. Allerdings dachten die praktischen Ärzte der damaligen Zeit noch weitgehend humoralpathologisch. Ihnen ging es weniger um eine Diagnose als um Prognose und Therapie. Misslich ist ferner, dass aus der Sicht heutiger Differentialdiagnosen keines der beschriebenen Symptome letztlich für eine bestimmte Krankheit ausschlaggebend wäre. Aus der Feder nachfahrender Pathographen gibt es daher ein fast unübersichtliches Spektrum unterschiedlicher Annahmen über Heines Krankheit, die von Montanus zusammengetragen wurden [14]: Venerische Infektion [8], multiple Sklerose, amyotrophische Lateralsklerose, akute intermittierende Porphyrie, Tuberkulose mit folgender Meningoenzephalitis. In jüngster Zeit kam eine Bleiintoxikation [9, 10] und wieder die Syphilis hinzu [17].

„Rückenmarkschwindsucht“

Gegenüber Freunden äußerte Heine häufig, an einer Tabes dorsalis erkrankt zu sein. Im Hintergrund steht die auf Hippokrates zurückgehende Lehrmeinung, die Tabes oder Rückenmarksschwindsucht sei die Folge eines geschlechtlich ausschweifenden Lebenswandels. Das Rückenmark als mutmaßliche Produktionsstätte des Spermas verliere wegen häufiger Ejakulationen an Substanz. Diesen unmittelbaren Zusammenhang von Rückenmark und Sperma behauptet neben dem Corpus Hippocraticum [12] noch Leonardo da Vinci (1452–1519) in seinen anatomischen Zeichnungen [13], (Abb. 2).

Abb. 2
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Sagittalschnitt eines Koitus von Leonardo da Vinci mit direkter Verbindung von Penis und Rückenmark

Auch Heines Therapie passt gut in diese humoralpathologischen Vorstellungen. Heine ließ Aderlässe an sich vornehmen, nahm Abführ- und Brechmittel ein und ließ sich Blutegel und Blasenpflaster ansetzen. Er unterzog sich auch weiteren klassisch humoralpathologischen und ableitenden Methoden, so etwa der Haarseil-Methode oder der Fontanelle: Zwei Verfahren, mit denen Wunden künstlich offen gehalten wurden, um seröse und eitrige Flüssigkeit abfließen zu lassen.

Neben Heines eigenem Verdacht einer Tabes samt den resultierenden Therapien schien auch sein Werk für eine Tabes zu sprechen. So führte Arthur Conan Doyle (1859–1930), der literarische Vater des für seinen Spürsinn berühmten Sherlock Holmes, in seiner medizinischen Doktorarbeit von 1885 (Abb. 3) Heinrich Heines Gedichtzyklus „Romanzero“ an. Die dort im Nachwort gemachten Beschreibungen Heines seien typisch für das Krankheitsbild einer syphilitischen Tabes dorsalis: „Here are the words of Heine the great German Jewish poet when after seven years of this torture he saw the shades of death gather round hist couch. They are interesting as showing the thoughts evolved by a great brain when linked to what was practically a dead body. ‚Do I really exist‘ he writes, my body is so shrunken that I am hardly anything but a voice. In my matress greave in the great city I hear early and late nothing but the noise of vehicles, hammering, quarreling and piano-strumming. A grave without repose, death without the priviledges of the death who at least need not spend any money nor write letters or books – that is indeed a pietiful condition‘“ [4].

Abb. 3
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Auszug aus der Doktorarbeit A. C. Doyles, in der er aus Heines „Romanzero“ zitiert. Das Original der handschriftlichen Dissertation liegt in der Universitätsbibliothek Edinburgh

Damit wurde nicht nur die syphilitische Tabes dorsalis als Diagnose innerhalb der Heine-Pathographik eingeführt. Vielmehr wurde auch der verhängnisvolle Weg beschritten, literarische Texte mit anamnestischer Würde zu umkleiden und hilfsweise heranzuziehen, um eine retrospektive Diagnose zu stellen.

Diagnose syphilitische Tabes dorsalis?

Der langjährig in seine Matratzengruft gebannte Dichter versuchte auch, seine eigene fatale Verdachtsdiagnose zu prüfen. In den „Heine-Erinnerungen“ schreibt Alfred Meissner anlässlich eines Besuches bei Heine im August 1854: „Er hatte in den letzten Jahren die ganze Physiologie, Anatomie und Pathologie seiner Krankheit auf das Fleißigste studiert und die Schriften von Hesse, Albers, Andral und vornehmlich von Romberg waren ihm ganz geläufig geworden. Aber er war es gewohnt, auch hier seine Kenntnisse zu ironisieren. ‚Meine Studien’, pflegte er zu sagen ‚werden mir wohl nicht viel helfen. Ich werde höchstens im Himmel Vorlesungen halten können, um meinen Zuhörern darzuthun, wie schlecht die Aerzte auf Erden die Rückenmarkserweichung kuriren‘“ [22].

Aus diesem Bericht geht noch einmal hervor, dass Heine zu der Zeit überzeugt war, an einer „Rückenmarkserweichung“ zu leiden, also Tabiker zu sein. Es wird aber v. a. deutlich, dass Heine sich selber medizinische Kenntnisse besonders über den Berliner Neuropathologen Moritz Heinrich Romberg (1795–1873) angeeignet hat. Mit Rombergs „Schriften“ ist das „Lehrbuch der Nervenkrankheiten des Menschen“ gemeint, das in erster Auflage 1840, in 2. Auflage 1851 und in 3., aber nicht mehr vollendeter Auflage 1857 erschienen ist [16]. Dieses „Lehrbuch der Nerven-Krankheiten des Menschen“ ist nun insofern von Bedeutung, als dass Romberg hier erstmalig das pathognomonische Zeichen der Tabes, das sog. Romberg-Zeichen, ein unvermeidliches Schwanken bei eng gestellten Füßen und geschlossenen Augen, beschreibt.

Die Lektüre dieses Handbuches konnte Heine in den Stand versetzen, mit dem Romberg-Zeichen eine Tabes differentialdiagnostisch auszuschließen. Und zwar eben dann, wenn er das Schwanken des Tabikers bei sich nicht beobachten konnte. Und tatsächlich vertritt Heine Ende der 1840er Jahren nicht länger ausschließlich die Selbstdiagnose einer Tabes. In einem offenen Brief an die „Berlinische Zeitung“ vom 15. April 1849 zeigt er sich unsicher, ob er an einem französischen „ramollissement de la moëlle épinière oder an einer deutschen Rückenmarksschwindsucht“ erkrankt sei, oder ob er an einer „Familienkrankheit oder Privatkrankheit“ leide.

Syphilis

Wollte eine Krankengeschichtsschreibung bei Heine eine Syphilis diskutieren, müsste sie zuerst nach Belegen von Geschwüren im Genitalbereich oder Hautausschlägen suchen. Bezeichnenderweise existiert in allen zeitgenössischen Berichten, die über Heines Krankheiten geschrieben wurden, kein diagnostisch eindeutig verwertbarer Hinweis auf eine Hautbeteiligung oder auf einen harten Schanker. Kenntnisse über dermatologische Syphilissymptome bestanden in der Heine-Zeit aber durchaus, und einem Arzt wären die Symptome nicht verborgen geblieben [1] (Abb. 4).

Abb. 4
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Abbildung aus dem zeitgenössisch sehr bekannten Hautatlas des Begründers der wissenschaftlichen Dermatologie, Thomas Bateman (1778–1821)

Gegen eine Syphilis muss auch sprechen, dass im überlieferten Quellenmaterial kein Hinweis auf die zeitgenössische Standardtherapie der (Spät-)Syphilis, eine Behandlung mit Quecksilber überliefert ist. Gegenteilig hatte 1997 eine Multielementenanalyse (total reflection x-ray fluorescence, TXRF) einer Haarlocke Heines ergeben, dass kein erhöhter Quecksilberwert vorliegt [9, 10].

Historische Syphilisnosologie

Damit stellt sich die Frage, warum die Heine-Pathographen bei so wenig Indizien und Belegen innerhalb der Krankengeschichte Heines und trotz des fehlenden kognitiven Charakters der Krankheit – denn Heine behielt bis zu seinem Tod seine intellektuellen Fähigkeiten – so häufig eine syphilitische Erkrankung Heines behaupten.

Eine Syphilisdiagnose bei einem historischen Patienten zu stellen ist durchaus problematisch. Denn die „Syphilis“ wurde nicht immer schon ätiologisch über ihren erst 1905 von Schaudinn und Hoffmann entdeckten Erreger Treponema pallidum definiert. Bereits im 15. Jahrhundert versuchte die Medizin aus einer Fülle von ununterscheidbaren Hautsymptomen mit wechselnden Lokalisationen und unterschiedlichen Auftrittsformen eine „Syphilis“ genannte Krankheitseinheit heraus zu identifizieren [6]. Ein Erklärungsversuch war astrologischer Natur. Entsprechend der kosmologischen Sicht der Zeit wurde angenommen, dass die Syphilis eine aus einer bestimmten Gestirnskonstellation von Saturn, Jupiter, Mars und dem Sternbild Skorpion hervorgegangene Krankheit sei (Abb. 5). Das Zeichen des Skorpions, dem die Geschlechtsteile unterstanden, erklärte, warum bei dieser Krankheit die Genitalien befallen waren. An diesen venerischen Charakter der Syphilis wiederum konnte sich die religiöse Überzeugung von der Krankheit als Strafe für das Fehlverhalten im Bereich der Sexualität anbinden: Syphilis als Strafe Gottes für sündige Lust.

Abb. 5
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Erste Darstellung eines Syphilitikers in einem Holzschnitt von Albrecht Dürer von 1496. Die Entstehung der Krankheit wird hier auf 1484 datiert

Neben diese Form von Krankheitserklärung trat die Auffassung, dass sich aus einer nahezu unüberschaubaren Anzahl von unterschiedlichen Hautaffektionen eine bestimmte Teilmenge durch eine erfolgreiche Quecksilbereinreibungskur abgrenzen ließ. Entsprechend dieser Erklärung war Syphilis diejenige Krankheitseinheit unter den vielen Geschlechtskrankheiten, die sich durch Quecksilber heilen ließ. Sowohl der astroreligiöse Standpunkt (Syphilis als Lustseuche) und der empirisch-therapeutische Standpunkt (Syphilis als eine durch Quecksilber heilbare Krankheit) konnte die Syphilis aber nicht von weiteren venerischen Krankheiten abgrenzen. Auch konnten nicht vererbbare Formen der Syphilis gedeutet, oder ihr Verhältnis zur Tabes dorsalis befriedigend erklären werden. Deshalb mussten weitere Erklärungsformen gesucht werden. So wurde in einem 3. Erklärungsansatz versucht, die Mechanismen der Krankheitszusammenhänge im Rahmen der Humoralpathologie als eine Folge des verdorbenen Blutes zu deuten. In dieser pathogenetischen Erklärungsweise wurde u. a. behauptet, der syphilitische Ansteckungsstoff sei eine dem Blute beigemischte ätzende Flüssigkeit, oder eine veränderte Chemie des Blutes, und der Hautausschlag der Versuch der Natur, den Krankheitsstoff über die Haut zu entfernen.

Syphilis ist eine durch Quecksilber heilbare Krankheit

Dieser nur sehr grob konturierte Abriss der Syphilisentdeckung nach Ludwik Fleck [6] macht deutlich, wie sehr die uneindeutigen und sich wechselseitig überlagernden Krankheitseinheiten „Syphilis“ in die jeweiligen mythischen, humoralpathologischen oder empirischen Vorstellungen der Zeit eingebunden waren. Wer nun versuchen wollte, bei Heinrich Heine eine Syphilis zu diagnostizieren, dürfte wegen der hier herausgestellten Geschichtlichkeit dieser Krankheitseinheit eine Diagnose nur in Rücksicht auf die jeweils gültige Erklärungsweise der Syphilis tun. Anders herum: In Berücksichtigung der Syphilisnosologie der Heine-Zeit könnte bei Heinrich Heine allenfalls eine nicht weiter spezifizierbare Geschlechtskrankheit festgestellt werden, die zwar den Namen „Lustseuche“ oder „Syphilis“ tragen, durchaus aber auch eine Gonorrhö oder ein Ulcus molle mitmeinen kann.

Damit wird deutlich, wie eine Heine-Pathographie verfährt, die nicht kritisch die medizinhistorischen Bedingungen prüft, unter denen eine Diagnosestellung zustande kommen muss. Denn die Diagnose, Heine sei ein Syphilitiker gewesen, erweist sich als eine unkritische Übernahme von Heines Selbstdiagnose Tabes, die ebenso unkritisch mit medizinischen Erkenntnissen jüngeren Datums zusammengebracht wird. Denn Alfred Fournier (1832–1915) erkannte erst 1867 den Zusammenhang der Tabes mit der Syphilis, sodass beide Informationen – Heines Selbstdiagnose und die Tabes als letztes Stadium einer syphilitischen Erkrankung – zu einem Urteil verschmolzen werden konnten. Der angebliche Nachweis von Heines Syphilis hat also folgende a-historische Schlussform: Heine vermutete, Tabiker zu sein. Tabes ist aber ein Stadium der Syphilis. Also hatte Heine die Syphilis.

Klischee der „jüdischen Syphilis“

Aber ist es nur das fehlende Wissen um die historische Bedingtheit einer Syphilisnosologie, das den Pathographen Heine eine Syphilis zuschreiben lässt? Offenkundig muss eine weitere, die Geschichtlichkeit einer Diagnose beeinflussende Größe diskutiert werden. Denn bei dieser Diagnosestellung spielen offensichtlich Klischees eine Rolle, die bestimmte Krankheiten ausgewählten Personen- oder Personengruppen zuordneten, ohne dass dafür ausreichende Indizien vorlagen.

Tatsächlich liegt mit der „jüdischen Geschlechtskrankheit“ ein solches populärmedizinisches Klischee des Antisemitismus vor, das die nicht nur die Differentialdiagnose des Arztes, sondern auch die historische Deutung des Pathographen entscheidend verfälscht. Ein früher und für die Rezeptionsgeschichte nachhaltiger Beleg für die rational nicht zu begründende Verbindung von Unzucht, Geschlechtskrankheit und Judentum findet sich bei Tacitus (um 55 bis nach 115), der behauptete, dass die Juden „ein der Unzucht überaus ergebenes Volck“ seien und „alle Unzucht für erlaubt“ hielten. Dieses Klischee zitiert bei Tacitus im 18. Jahrhundert Johann J. Schudt in seinem Werk „Jüdische Merckwürdigkeiten“, aus dem Heine seinerseits zwischen Mai 1824 und Juni 1825 ausführlich exzerpiert [18].

Einen tragenden Part in der Vermittlung der vorgeblich „jüdischen Syphilis“ in das 20. Jahrhundert übernahm der exzellenter Heine-Kenner, der Historiker Heinrich von Treitschke (1834–1896). So diffamierte er auf vielen Seiten in der „Deutschen Geschichte“ Heines Person und Werk v. a. über das antisemitische Stereotyp des hypersexuellen Juden. Dass Treitschke Heines Todesursache subtil, aber deutlich genug mit einer venerischen Erkrankung angab, war da zu erwarten [21].

Das antisemitische Nachschlagewerk „Semi-Kürschner“ übernahm genau diese Passagen und die Diagnose der venerischen Infektion Heines und behauptete weiterhin, dass die Juden für Tabes disponiert seien und die Geschlechtskrankheiten Schanker, Syphilis und Tripper von den Juden herstammten. Damit war das Klischee der jüdischen Syphilis als auch die Diagnose, Heine sei Syphilitiker gewesen, erfolgreich in die NS-Zeit verlängert [11].

Welche Schlüsse erlaubt nun die Zusammenschau des verfügbaren Quellenmaterials? Zunächst ist die von Heine überlieferte Verdachtsdiagnose Tabes dorsalis mit einer grundsätzlichen Skepsis zu betrachten. Denn die von ihm an sich selbst erhobene Symptomatik spricht keineswegs schlüssig für diese Erkrankung, und Heine selber erwägt differentialdiagnostisch die Nulloption, eben nicht an der Tabes erkrankt zu sein. Ein Gleiches gilt auch für die Verdachtsdiagnose der Syphilis, da Heine weder etwas über syphilitische Hautsymptome, noch von einer Quecksilbertherapie berichtet. Darüber hinaus muss klar sein, dass die literarischen Texte Heines ebenso wie die publizistischen oder literarischen Zeugnisse von Zeitgenossen keine hinreichende anamnestische Qualität besitzen. Literarische und biographische Texte können keine gesicherte ärztliche Diagnose ersetzen.

Ebenso prinzipiell ist auf den Unterschied zu verweisen, den eine retrospektive Diagnose von einer historischen Krankheitsdeutung trennt. Jeder Diagnoseversuch darf nur im Rahmen der zeitgenössischen Nosologie unternommen werden, jede Untersuchung, an welcher Krankheit der historische Patient Heinrich Heine gelitten hat, muss eine Rekonstruktion der Krankheit innerhalb der zeitgenössisch geltenden Krankheitslehre sein. Jede andere Vorgehensweise wäre methodisch anfechtbar und historisch nicht korrekt, weil sich Krankheiten, ihre Definitionen und Ursachenerklärungen mit der Zeit verändern und Konstrukte ihrer jeweiligen kulturellen Umgebung sind.

Tatsächlich nehmen große Teile der medizinischen Fachwelt bis in die späten 1830er Jahre an, dass Syphilis und Gonorrhö die identische Krankheit sei [5]. Erst der Pariser Venerologe Philippe Ricord (1800–1889) verhilft der Unterscheidung venerischer Erkrankungen in eine Syphilis und in eine Gonorrhö zur allgemeinen Anerkennung. Dass für Heinrich Heine offenkundig keine sichere Diagnose gefunden werden kann, muss angesichts der Überlieferungssituation hingenommen werden und ist für einen „historischen Patienten“ eigentlich erwartbar. Heines Grunderkrankung wird wohl auf Dauer ein Rätsel bleiben.

Heines Opiumabusus

Gleichwohl: Grunderkrankung und unmittelbare Todesursache sind zu unterscheiden. Woran also starb Heine? Es gibt eine naheliegende Erklärung für Heines Tod, die bislang nicht beachtet worden ist. Die Abdominalkrämpfe können leicht aus Heines Opiumkonsum erklärt werden: Tatsächlich ist in der Krankheitsgeschichte Heines seit 1848 nichts annähernd so ausführlich und detailliert von ihm selbst und seinen Zeitgenossen beschrieben worden wie sein Opiumkonsum. Heines Wort, die Religion sei geistiges Opium für das leidende Menschengeschlecht [23], das bekanntlich die prägnantere Formulierung von Karl Marx – Religion ist das Opium des Volkes – vorweggenommen hat, erhält von daher eine besondere Note.

Belegen lässt sich die Opiumtherapie einmal durch eine Behandlungsvorschrift, die anlässlich des Zusammenbruchs Heines im Frühjahr 1848 angefertigt und von den Ärzten Auguste-François Chomel (1788–1858), David Gruby (1810–1898), Léon Louis Rostan (1790–1866) und Leopold Wertheim (1819–1890) am 9. Oktober 1848 unterschrieben wurde. Auch sind 3 weitere Opiumrezepte überliefert, die am 2. Juli 1849 und am 4. März 1850 (Abb. 6) ausgestellt wurden. Das 3. Rezept, das auch von Dr. Gruby ausgestellt wurde, ist undatiert.

Abb. 6
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Rezept, das am 4. März 1850 von Dr. David Gruby ausgestellt wurde und „Acetatis morphii scrupulum unum et semis“ verordnet

Der Heine-Briefwechsel und die Gesprächsaufzeichnungen Dritter belegen, dass Heine Morphin mit perkutanen Brennkegeln appliziert wurde, dass Heine sich seit Juni 1854 täglich in eine am Hals offen gehaltene Wunde Morphin einstreuen ließ und Kataplasmen als Morphingabe in heißen Umschlägen bei sich anwendete [22]. Die häufigste Applikationsweise und wohl auch die bequemste war die perorale Gabe von Morphin. Es ist ebenfalls belegt, dass Heine häufig überhohe Dosen nahm [15].

Heine nahm überhohe Dosen Morphin

Todesursache

Tatsächlich könnte die unmittelbare Todesursache auf Morphinabusus zurückgeführt werden. Dabei ist daran zu erinnern, dass das Suchtpotential des Morphins erstmals im amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865), in Europa im deutsch-französischen Krieg 1870/71) bemerkt wurde. Heine war im August 1854 in ein zwar komfortableres, aber als feucht und kalt empfundenes neues Quartier umgezogen. Seitdem litt er an einer therapieresistenten Erkältung. Aus einer längeren Folge von Leidensbriefen kann ein krampfartiger Husten rekonstruiert werden, der Heine über einen Zeitraum von ca. 1,5 Jahre plagte [15]. Deshalb hat Heine vermutlich die hustenstillende Wirkung des Morphins geschätzt. Bei einem schmerzhaften und unproduktiven Husten kann noch heute die Gabe von Morphin indiziert sein. In der Heine-Zeit wurde die antitussive Wirkung des Opiums u. a. gezielt gegen „pleuritischen Stichen gleichkommenden Schmerzen, trockenen, sehr quälenden, Erstickung drohenden Krampfhusten“ eingesetzt. Morphin galt als „herrliches Palliativmittel, theils gegen den quälenden Husten“ und gegen „Brustbeklemmung mit stockendem Auswurf“ [19].

Todesursache Morphinabusus?

Wie der behandelnde Arzt Dr. Gruby am 17. Februar dem Bruder Heines schreibt, sei Heine nach seiner Auffassung „infolge von Schwäche durch ein heftiges Erbrechen herbeigerufen“ gestorben. Wie er später ergänzt, sei Heine nicht an den Folgen seines langjährigen Leidens, sondern an einer „zufälligen Unpässlichkeit“ gestorben [22]. Auch die Berichte über Heines letzte Stunden von seiner letzten Freundin, der „Mouche“ (Elise Krinitz, 1825–1896), und der Pflegerin stützen übereinstimmend die Vermutung Dr. Grubys: Heine sei an einer außer Kontrolle geratenen Brechkrise „durch die ungeheuren Dosen Morphine, welche er zuletzt nahm“ gestorben [22]. Und überdies: Dr. Gruby war am 15. Februar 1856 nicht erreichbar gewesen. In der Not wurde ein alter Arzt aus der Nachbarschaft herbeigerufen, der einen halbstündlich zu verabreichenden „Tee aus Orangenblüten und Wasser aus Vichy mit jeweils einem Tropfen Laudanum“ verordnete [22]. Laudanum ist bekanntlich ein Opiumpräparat. Der mit den Umständen nicht vertraute Arzt behandelte also möglicherweise eine Opiumüberdosierung mit einer Opiumgabe. Überlanger Opium- oder Morphinabusus kann zu einem paralytischen Ileus führen, der seinerseits starkes Erbrechen nach sich ziehen kann. Oder aber Heine hatte als chronischer Schmerzpatient trotz langjährigen Opiumkonsums keine oder nur eine geringe Toleranz gegenüber diesem Analgetikum ausgebildet und eine überhöhte Dosis eingenommen, die ebenfalls mit einer fatalen emetischen Wirkung einhergehen kann.

Präfinales Erbrechen ist unspezifisch und kann auf viele Ursachen zurückgeführt werden. Dass dieses Erbrechen hier auf Opiumabusus zurückgeführt wird, kann dadurch an Plausibilität gewinnen, dass sowohl der Opiumkonsum als auch akute Morphinvergiftungen mit nachfolgendem Erbrechen bei Heine von Freunden und Pflegepersonal sehr gut dokumentiert sind. Ein Vomitus von 3 Tagen führt – so aus heutiger Sicht – zu einer schweren Alkalose – und dies bei einem durch jahrelange Koliken und schwere Krankheit geschwächten Körper. Bei einer stoffwechselbedingten Alkalose besteht zumeist ein Mangel an Kalium. Muskelschwäche und eine gestörte Herzfunktion sind die Folgen. Der Körper versucht, die Alkalose über eine flache und langsame Atmung auszugleichen. Reizbarkeit, Schwindel, auch Bewusstseinsstörungen sind die Folge. So geriet Heines über Jahre ausgemergelter Körper in seinen letzten Tagen in eine Abwärtsspirale. Die Gabe von Laudanum machte jedem Entrinnen ein Ende.