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Die tiefen Brüche im Leben der Heike Drechsler

Heike Drechsler springt bei Olympia 2000 in Sydney zu ihrem zweiten Weitsprung-Gold Heike Drechsler springt bei Olympia 2000 in Sydney zu ihrem zweiten Weitsprung-Gold
Heike Drechsler springt bei Olympia 2000 in Sydney zu ihrem zweiten Weitsprung-Gold
Quelle: picture-alliance / dpa
Heike Drechsler feiert am Dienstag Ihren 50. Geburtstag. Die zweimalige Weitsprung-Olympiasiegerin spricht im großen „Welt am Sonntag“-Interview über Brüche im Leben, Vaterfiguren und spätes Glück.

Diese Frau ist eine Frechheit: Körperspannung wie die Trainerin aus dem Fitnessstudio und eine Stimme wie pure Lebensfreude. Man kann nicht sagen, dass Heike Drechsler unbedingt wie ein Mensch wirkt, der auf seinen Vorruhestand wartet. Der zweimaligen Olympiasiegerin im Weitsprung steht trotz ihrer Jugendlichkeit in dieser Woche ein besonderer Tag bevor, der etwas mit dem Älterwerden zu tun hat. Etwas, von dem der Schauspieler Joachim Fuchsberger einmal sagte, dass er nichts für Feiglinge sei.

Welt am Sonntag: Frau Drechsler, Sie feiern am 16. Dezember Ihren 50. Geburtstag. Haben Sie Bammel vor diesem Tag?

Heike Drechsler: Nein, wieso auch? Ich fühle mich fit und bin kämpferisch, was die zweite Hälfte meines Lebens angeht. Natürlich werde ich nicht mehr den Rückenwind der Jugend spüren, aber wenn mich nicht dauernd Leute anrufen würden, um zu fragen, was ich an diesem besonderen Tag vorhabe, würde ich wohl gar nicht merken, dass ich 50 werde.

Heike Drechsler
Heike Drechsler im Dezember 2014
Quelle: dpa

Welt am Sonntag: Ist es für Sie als ehemalige Topathletin besonders schwierig, dass das Leistungsvermögen mit zunehmenden Jahren schwindet?

Drechsler: Wenn man es gewohnt ist, ständig in seinen Körper hineinzuhorchen und mit ihm zu arbeiten, dann ist Altern schon etwas Spezielles. Aber ich fühle mich fit, sowohl physisch als auch psychisch. Nach 27 Jahren Leistungssport habe ich immer noch richtig Lust darauf, Sport zu machen, mich zu bewegen, zu laufen. Mein Körper liebt das, und ich fühle mich noch überhaupt nicht alt.

Welt am Sonntag: 50 ist das neue 35?

Drechsler: Na ja, nicht ganz. Wenn ich abends mal ein bisschen länger feiere, habe ich schon mal das Gefühl, ich brauch 'ne Woche Urlaub.

Welt am Sonntag: Sie sind die ersten 25 Jahre in der DDR aufgewachsen, leben nun 25 Jahre im vereinten Deutschland. Wie bewerten Sie die Hälften Ihres Lebens?

Drechsler: Ich bin froh, dass ich in beiden Systemen gelebt habe. Und durch diesen Bruch in meiner Biografie, durch diese gesellschaftliche Veränderung, habe ich eine Riesenentwicklung vollzogen. Die DDR gehört zu meiner Geschichte, und die Erfahrungen, die ich in dieser Jahre gemacht habe, beeinflussen mich noch heute. Dieser Blick zurück hilft mir, meine Zukunft zu gestalten.

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Welt am Sonntag: Was war das Schwierigste für Sie an dieser politischen Umbruchphase?

Drechsler: Mein Sohn Tony ist am 1. November geboren, und eine Woche später, am 9. November, fiel die Mauer. Ich hatte das Gefühl, es stürzte alles zusammen, was ich mir aufgebaut hatte, ich konnte das zuerst gar nicht begreifen und hatte schon den Entschluss gefasst, ganz mit dem Leistungssport aufzuhören.

Welt am Sonntag: Mit 25 Jahren?

Drechsler: Ja schon, ich kannte damals keine großen Sportler, die ihre Karriere erst mit 30 beendeten. Aber nach wenigen Tagen wuchs dann schnell der Gedanke: Warum nicht noch mal da anfangen, wo ich 1988 aufgehört hatte? Gemeinsam mit meiner Familie plante ich mein Comeback. Ich fühlte mich als junge Mutter so verantwortlich wie noch nie.

Welt am Sonntag: Wer und was hat Ihnen geholfen?

Drechsler: Meine Freundin Esther Zschieschow, die drei Jahre zuvor in den Westen nach Heilbronn übergesiedelt war, hat mich gleich nach dem Mauerfall angerufen – und wir beide haben erst mal Rotz und Wasser geheult. Mit Esther war ich schon als Kind zusammen auf der Sportschule in Thüringen. Dass wir uns auf einmal wieder hatten, war so emotional. Das hat mir Kraft und Mut verliehen.

Welt am Sonntag: Sie sind gerade als erste Deutsche mit Marita Koch in die Ruhmeshalle des Leichtathletik-Weltverbandes IAAF aufgenommen worden. Clemens Prokop, Präsident des deutschen Verbandes DLV, findet das unverständlich, weil Sie im DDR-Dopingsystem groß geworden sind.

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Drechsler: Dass Clemens Prokop indirekt behauptet hat, dass ich kein Vorbild für die Jugend sei, habe ich überhaupt nicht verstanden. Das hat mich hart getroffen, da erhoffe ich mir noch eine Entschuldigung. Ich habe auch in den zehn Jahren nach der Wende unter Aufsicht der Anti-Doping-Kontrollinstanzen meine Weltklasseleistungen gebracht, nicht gerade wenige Medaillen für die Bundesrepublik Deutschland gewonnen und damit dem DLV auch den einen oder anderen Arbeitsplatz und Förderzuschuss gerettet. In einer Zeit, als es der deutschen Leichtathletik nicht wirklich gut ging.

Welt am Sonntag: Sie klingen ziemlich sauer.

Drechsler: Ja, weil mich die Kritik von Clemens Prokop tief verletzt hat. Ich bin sehr stolz, dass ich diese Ehre erhalten habe, und ich glaube, der internationale Verband konnte und kann meinen Wert und meine Leistung auch richtig einschätzen.

Welt am Sonntag: Wie kommentieren Sie es denn, dass Sie in der DDR ins flächendeckende Doping eingebunden waren? Dokumente belegen, dass sie zumindest Anfang der 1980er-Jahre verbotene Anabolika erhalten haben.

Drechsler: Das zu erfahren, war ein großer Schock für mich. Ich habe nie willentlich und wissentlich gedopt. Und dann liest man die Aufzeichnungen, dass die Ärzte mir offenbar Mittel verabreicht haben, die sie mir gegenüber so nicht ausgewiesen hatten. Ich verurteile die Praktiken dieses DDR-System aufs Schärfste, dass das Vertrauen der Menschen und Sportler so schlimm missbraucht hat.

Welt am Sonntag: Ihnen muss doch aber aufgefallen sein, dass Ihnen leistungssteigernde Tabletten verabreicht wurden?

Drechsler: Als ich auf die Sportschule gekommen bin, waren die Ärzte für mich absolute Autoritäts- und auch Vertrauenspersonen. Es war für mich unvorstellbar, dass mir ein Arzt etwas Böses will oder mich gesundheitlichen Risiken aussetzt. Mit den heutigen Kenntnissen muss ich mir vorwerfen, die damaligen Vorgänge nicht genügend hinterfragt zu haben.

Welt am Sonntag: Nach all den Vorwürfen, die Sie nach der Wende begleitet haben, auch weil sie DDR-Volkskammerabgeordnete waren - wann sind Sie wirklich im vereinten Deutschland angekommen? Nach Ihrem Olympiasieg 1992?

Drechsler: Nein, in Barcelona befand ich mich eher in einer Trotzphase. Weil zu der Zeit so viel auf mich eingeprasselt ist, hatte ich mich im Vorfeld der Spiele extrem unter Druck gesetzt, wollte unbedingt allen beweisen, was für eine sportliche Qualität ich besitze – auch unter den neuen Bedingungen. 1992 bin ich hauptsächlich für mein Team und mich gesprungen.

Welt am Sonntag: Wie war es im Jahr darauf, als Sie Weltmeisterin wurden?

Drechsler: Ja, 1993 bei der WM in Stuttgart, da bin ich richtig angekommen in Deutschland. Ich hatte noch die einzigartige Atmosphäre von der Europameisterschaft 1986 in Erinnerung, diese tollen Zuschauer, man sprach die gleiche Sprache und fühlte echte Nähe. Und als die Zuschauer im Stadion nach meinem Sieg noch meinen Namen gerufen haben… Wahnsinn, da bekomme ich heute noch Gänsehaut, wenn ich daran denke.

Welt am Sonntag: Brüche und das Überwinden von Schwierigkeiten scheinen das Muster Ihres Lebens zu sein.

Drechsler: Ja, irgendwie schon. Das fing bereits als Kind an. Meine Eltern trennten sich, und meine Mutter zog mich, meinen älteren Bruder Uwe und meine jüngere Schwester Kerstin allein auf. Wir waren ziemlich wild dadurch, weil meine Mutter – trotz aller Fürsorge – einfach nicht genügend Zeit für uns aufbringen konnte, da sie neben der Familie noch im Schichtdienst bei der Post gearbeitet hat. Und dann, als ich zehn Jahre alt war, ist auch noch mein Vater tödlich verunglückt bei einem Arbeitsunfall.

Welt am Sonntag: War der Sport eine Flucht für Sie?

Drechsler: Mit 12, 13 war ich schon ein ziemlich eingeschüchtertes Mädchen, das große Schwierigkeiten hatte, vor Gruppen zu sprechen oder ein Referat zu halten. Der Sport hat mir dann das nötige Selbstbewusstsein gegeben. Damit wurden auch meine schulischen Leistungen langsam besser. Und dann kam ich ja auch nach Jena ins Sportinternat.

Welt am Sonntag: Wie haben Sie Ihre Anfänge erlebt?

Drechsler: Das Training hat viel Spaß gemacht, auch wenn es sehr hart war mit dem ständigen Wechsel zwischen Training und Schule. Und dann waren wir ja in der Pubertät und die Jungs sehr interessant. Mit meiner besten Freundin Esther waren wir zunächst auch noch die einzigen Leichtathletikmädels im neuen Internat, sonst waren da nur Fußballer und Turner. Wenn wir mit denen herumgelaufen sind, wie zum Beispiel bei der Zeremonie zur Jugendweihe, dann sahen wir aus wie zwei Schneewittchen mit den sieben Zwergen.

Welt am Sonntag: Haben Sie Ihre Familie, Ihr Zuhause vermisst?

Drechsler: Natürlich, aber ich konnte im Gegensatz zu den Turnern zum Glück jedes Wochenende nach Hause. Wir großen Mädchen mussten bei den Jüngeren so manche Träne trocknen. Wahrscheinlich habe ich nach meinen Lebensbrüchen immer eine Art Vaterersatz gesucht. Und den ersten mit meinem Grundlagentrainer Peter Hein auch gleich in Jena gefunden, was es für mich leichter machte. Nach der Wende war es mein Trainer Erich Drechsler.

Welt am Sonntag: Nach der Trennung von Ihrem Mann Andreas wurde der Franzose Alain Blondel, ein gelernter Zehnkämpfer, Ihr Coach und Lebensgefährte.

Drechsler: Alain war eine echte Stütze während der Trennung und den Problemen, das Sorgerecht für meinen Sohn zu bekommen. 1995 bin ich dann in ein tiefes Loch gefallen, dieser Stress hat mich viel stärker belastet als alles andere zuvor. Ich musste Schlagzeilen lesen wie "Heike Drechsler ist der Mann weggelaufen" und Ähnliches. Es war eine furchtbare Zeit, in der ich auch meine Leistung nicht mehr zeigen konnte, weil ich vom Kopf her komplett blockiert war.

Heike Drechsler
Heike Drechsler präsentiert 2000 in Sydney stolz die olympische Goldmedaille im Weitsprung – ihre zweite
Quelle: dpa

Welt am Sonntag: Wie intensiv haben Sie nach diesem Bruch im Privaten – mit 35 Jahren – das Weitsprunggold in Sydney erlebt?

Drechsler: Das war der Wahnsinn. 1999 war so schwierig für mich gewesen: dauernd verletzt, total genervt. Dann ging es 2000 gleich weiter mit einer Zerrung. Aber zwei, drei Monate vor Olympia kam ich auf einmal richtig gut Form. Und dann stand ich da in Sydney oben auf dem Treppchen und konnte es nicht begreifen, und alle Gefühle kamen aus mir heraus, die ich vielleicht jahrelang versteckt hatte. Da war ich endlich bei mir selbst angekommen.

Welt am Sonntag: Wie viele Brüche können Sie eigentlich noch vertragen, in Ihrem Leben?

Drechsler: Für mich sind Lebensbrüche immer eine Weiterentwicklung gewesen, ob sie nun positiv oder negativ gewesen sind. Aber jetzt wird erst mal in meiner Heimatstadt Gera mit etwa 140 Personen ganz groß gefeiert. Und dann freue ich mich auf die Zukunft und auf neue Ziele, ohne die geht’s ja nicht. Und weil der Sport ja immer mein Leben bestimmt hat, will ich mir für den Sommer mal einen Halbmarathon vornehmen.

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