Staat und Individuum | Antigone
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Staat und Individuum

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Hegels Theorie

Um zu verstehen, wie sich der Einzelne zum Staat in der Darstellung des Antigone-Stoffes von Sophokles verhält, ist es unabdingbar, sich das Konzept des Stadtstaates (Polis) der alten Griechen noch einmal detailliert vor Augen zu führen. Zu diesem Zweck bietet es sich an, erneut Bezug auf Hegel zu nehmen, der bereits im Rahmen unserer Analyse (aristotelische Poetik und Katharsis-Lehre) Erwähnung fand. Er hat sich in seinem Werk Phänomenologie des Geistes (1807) nicht nur mit der besagten Polis gründlich auseinandergesetzt, sondern zu diesem Zweck explizit die sophokleische Antigone herangezogen.

Zwar wird die antike Polis dort bei ihm nur zwei Mal ausdrücklich erwähnt, allerdings sind sich führende Hermeneutiker[1] darin einig, dass sie in Hegels gesamter Schilderung hintergründig mitschwingt. Wichtig ist dabei, sich stets bewusst zu sein, dass es sich hierbei um eine Interpretation handelt, nämlich um diejenige Hegels, auch wenn sie eine enorme Wirkungsgeschichte verzeichnet. Ihr zu folgen, bedeutet, sich für diese Auslegung der Antigone zu entscheiden. Goethe beispielweise hat ihr später widersprochen.[2]

Als historisch belegt gilt zunächst, dass die antike Polis ursprünglich eine befestigte Höhensiedlung darstellte, unter deren Schutz sich um das 8. Jahrhundert v. Chr. herum städtische Siedlungen errichteten. Das Leben und Treiben, speziell das Verhältnis der Menschen untereinander und zu diesen Stadtstaaten sowie zu den in ihnen geltenden Gesetzen nimmt Hegel in Auseinandersetzung mit Sophokles‘ Drama nun genauer unter die Lupe.

Die zwei Formen der Sittlichkeit

Für Hegel kommt in dessen Antigone musterhaft die konflikthafte Sittlichkeit der Polis zum Ausdruck. Sittlichkeit meint bei ihm, dass es in der altertümlich-griechischen Gesellschaft Individualität nicht geben kann, sondern dass der Einzelne immer schon mit der Gemeinschaft identifiziert ist. Er handelt nicht aus eigener Überzeugung, also nach eigenem Wertmaßstab, sondern gemäß bestimmter Grundsätze, die – so Hegel – ausschließlich zwei Formen annehmen.

Diese beiden Formen der Sittlichkeit,  das Familienrecht (Antigone) und das Staatsrecht (Kreon), finden nach Hegel sodann in Sophokles‘ Werk ihre vorbildliche Umsetzung, verkörpert auf der einen Seite durch Antigone, auf der anderen durch Kreon: „Antigone verletzt das Recht des Staates, Kreon das der Familie. Die Antinomie zweier gleichberechtigter Prinzipien macht das Wesen der Tragödie aus“.[3]

Wenn also von einem Individuum die Rede ist, muss man sich stets vor Augen halten, dass damit auf Basis der antiken gesellschaftlichen Verhältnisse eine Person gemeint ist, die einen von zwei möglichen Grundsätzen vertritt. Stellt man dieser dann den Staat vergleichend gegenüber, dann muss man lediglich entscheiden, ob sich diese Person eher auf die Seite der Gesetze schlägt oder aber auf diejenige der Familie.

Angemerkt werden muss dabei jedoch der Umstand, dass nicht immer, wie bei Antigone, das Familienrecht notwendigerweise das Recht des Staates missbilligt. Es ist Kreons Verbot, das zu einer gesetzlichen Vorschrift erhoben wird, d.h. es handelt sich um einen Erlass des amtierenden Herrschers, der beide Sittlichkeiten in Kontrast zueinander setzt.

Besonders deutlich wird Sophokles‘ Einfluss auf Hegels Ausführungen dann, wenn man weiterschaut. In den folgenden Passagen der Phänomenologie des Geistes heißt es sodann, dass das Familienrecht auf göttlichem Gesetz beruhe, das Staatsrecht hingegen auf menschlichem. Eine Anbindung an die Geschlechter kommt noch hinzu: Ersteres sei die Sphäre der Frau, Letzteres die des Mannes. Innerhalb der Familie bestehe zudem das reinste Verhältnis zwischen Bruder und Schwester. Sie begehrten einander nicht und können in freier Individualität zueinander bestehen. Wie eine Schablone kann man Hegels Werk über Sophokles‘ Antigone legen und dabei die einzelnen Punkte abhaken.

Antigones Familienrecht

Schaut man nun in den Text und analysiert ihn mit dem Fokus auf das Verhältnis des erwähnten Gemeinschaftsindividuums antiker Prägung zum Staat, stechen einige Hinweise zu dessen Klärung hervor. So erwähnt Antigone im Prolog die von Kreon erlassene Anordnung, gegen die sie sich im Fortlauf der Handlung aufbäumt, und lässt zugleich erkennen, dass sie diese als rechtswidrig empfindet: „Eteokles barg er nach Recht und Sitte [Hervorhebung C.K.] / Im Schoß der Erde, heißt es, dass er drunten / Bei den Verstorbenen in Ehren steht, / Des Polyneikes armer Leichnam aber / Darf nicht beweint und nicht begraben werden - / So sei dem Vol...

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