Dieser Mann ist kein gew�hnlicher Privatdetektiv. Der von Matthias Koeberlin angenehm zur�ckgenommen und mit hoher Blick-Intensit�t verk�rperte Held wirkt vielmehr wie eine Art Kundschafter der Seele (nomen est omen!). Dieses Interesse am Menschen kennt auch Johannes Fabrick. Und so hat der Autor-Regisseur f�r die Degeto-Reihe „Hartwig Seeler“ (Hager Moss Film) einen Charakter geschaffen, der nicht prim�r pragmatisch f�r Recht und Ordnung sorgt wie ein Polizist, sondern der das Menschsein verstehen will und nach neuen, besseren Regeln f�r das Miteinander sucht. In „Ein neues Leben“ bittet ihn eine Ex-Kollegin aus seiner Zeit bei der Polizei um Hilfe. Sie f�rchtet die Rache eines Mannes, der sie einst 36 Stunden brutal in seiner Gewalt hatte und der jetzt aus der Haft entlassen wurde. Seeler solle ihr beim Verschwinden helfen. Sie will in der Fremde ein neues Leben beginnen... Wie immer in den Filmen von Johannes Fabrick geht es um (unkontrollierbare) Gef�hle, um magische Momente und die Transzendenz des Augenblicks. Und einmal mehr beeindruckt das filmische Spiel mit N�he und Distanz. Ein Spiel, das Koeberlin & Emily Cox perfekt beherrschen.
Foto: Degeto / Luis Zeno KuhnEmpfindsam, introvertiert, nachdenklich. Bei Hartwig Seeler ist das mehr als nur ein Markenzeichen f�r eine Reihen-Figur, und bei Matthias Koeberlin ist das mehr als das blo�e Abrufen einer Technik. Ergebnis: ein Krimidrama, das einem nahe gehen kann.
Wer auf das Finden von Vermissten spezialisiert ist, der m�sste auch vom Verschwinden eines Menschen etwas verstehen. Das nimmt eine ehemalige Kollegin von Hartwig Seeler (Matthias Koeberlin) an – und engagiert den aus dem Polizeidienst ausgeschieden Privatdetektiv in eigener Sache. Tascha (Emily Cox), die sich einst als junge Polizistin 36 Stunden in der Gewalt eines brutalen Geiselnehmers befand, hat dieses schwere Trauma neun Jahre mit sich herumgeschleppt. Jetzt ist ihr Peiniger, Gerald Metzner (Maximilian Brauer), vorzeitig aus der Haft entlassen worden. Zu den ewigen Alptr�umen kommt nun noch die Angst hinzu, dieser Mann werde sich an ihr r�chen; war es doch ihre Aussage, die zu seiner Verurteilung f�hrte. Seeler versucht vergeblich, Tascha von dem Plan abzubringen, auf der maltesischen Insel Gozo ein neues Leben zu beginnen. Ist dieser Mann tats�chlich so gef�hrlich oder spielt sich nicht das Meiste nur im Kopf der panisch ver�ngstigten Frau ab? Sein Betreuer (Maximilian Grill) jedenfalls verweist auf Metzners gute Prognose. F�r Tascha aber steht ihr Entschluss fest. Au�er ihre Gro�mutter (Monika Lennartz) w�rde sie in Deutschland niemanden vermissen. Besonders gemocht habe sie jedoch immer schon ihren Kollegen Seeler. Aber der war damals verheiratet. Vielleicht k�nne er sich ja auch ein solches neues Leben vorstellen...
Foto: Degeto / Luis Zeno KuhnAusgeglichen, selbstbewusst, weitsichtig. Diese Fassade kann Tascha (Emily Cox) nicht l�nger aufrechterhalten. Die Geiselnahme bereitet ihr bis heute Alptr�ume. Mit der ganzen Wahrheit r�ckt die Polizistin erst nach und nach heraus. Das hat nicht nur dramaturgische Gr�nde. Cox spielt ganz vorz�glich auf der Klaviatur von Emotion & Empathie. Immer wieder gibt es kurze Momente, in denen der Zuschauer eigene emotionale Erfahrungen aktualisieren kann, z.B. die vermeintlich letzte Umarmung eines geliebten Menschen. Und es gibt am Ende noch sehr viel gr��ere Augen-Blicke.
Das ist gar nicht mal abwegig. Denn auch der Ex-Polizist befindet sich in einer existentiellen Umbruchphase: Er hat seine Frau verloren – wobei ihn noch immer die Frage qu�lt, ob es ein Unfall oder Suizid war. F�r „Ein neues Leben“, so auch der Titel der zweiten „Hartwig Seeler“-Episode, wird sich die Hauptfigur nat�rlich nicht entscheiden; schlie�lich wollen die ARD Degeto und die Produktionsfirma Hager Moss Film die 2019 erfolgreich gestartete Krimidrama-Reihe fortsetzen. Das w�re auch ganz im Sinne der Genre-Vielfalt des �ffentlich-rechtlichen Fernsehens. Denn Hartwig Seeler ist kein gew�hnlicher Privatdetektiv. Der von Matthias Koeberlin angenehm zur�ckgenommen und mit hoher Blick-Intensit�t verk�rperte Held wirkt vielmehr wie eine Art Kundschafter der Seele. Das Interesse am Menschen haben er und sein Sch�pfer Johannes Fabrick gemeinsam, der wie schon bei „Gef�hrliche Erinnerung“ wieder Buch und Regie �bernommen hat. Zusammen mit seinem Hauptdarsteller hat der �sterreicher, der sich seit jeher mehr f�r seelische Abgr�nde als f�r m�rderische Absichten interessiert, eine Figur kreiert, die gr��er unterwegs ist. Seeler (nomen est omen!) geht es nicht darum, als Privatdetektiv Bulle zu spielen, sprich, pragmatisch f�r Recht und Ordnung zu sorgen, er will hinter die Dinge schauen, das Menschsein verstehen und dabei helfen, neue Regeln f�r das Miteinander aufzustellen. „Wenn uns klar wird, dass wir uns jederzeit irren k�nnen, dann wird es vielleicht irgendwann wichtiger, gemeinsam die Wahrheit zu finden, anstatt sich durchzusetzen“, ist am Ende des Films sein Wort zum Sonntag. Eine Rarit�t: eine Reihe, die mit Lebensphilosophie statt moralischen Haltungsnoten gl�nzt.
��������� Soundtrack: Duffy ("Mercy"), Fabrizio Faniello ("Sa L-Ahhar")
Foto: Degeto / Luis Zeno KuhnEin Ex-Kollege und Freund (Lasse Myhr), dem Hartwig Seeler (Matthias Koeberlin) nicht die Wahrheit sagen kann. Hat Tascha ihm, dem Privatdetektiv, vielleicht auch nicht die ganze Wahrheit gesagt, ihn m�glicherweise sogar als Fluchthelfer benutzt? Nach dem Tod seiner Frau wei� Seeler manchmal nicht mehr, was er denken soll.
Dem Pl�doyer f�r mehr Nachsicht und R�cksicht schickt Fabrick die Pr�misse voraus, dass menschliche Kommunikation bis zu einem gewissen Grad unergr�ndlich sei. Du kannst dir niemals sicher sein – was dein Gegen�ber, ja, was dein Liebster, denkt. Und so zermartert sich nicht nur Seeler das Hirn �ber den Tod seiner Frau, auch f�r die Episodenheldin in „Ein neues Leben“ kann es am Ende auf ihre dringlichste Frage keine Antwort geben. Dennoch weicht auch bei ihr die Verzweiflung und m�ndet wie bei dem Titelhelden in eine hoffnungsvolle Nachdenklichkeit. Die intensiven Zwei-Personen-Szenen besitzen Tiefe, kommen aber ohne die oft unangenehme deutsche Schwermut aus. Taschas Geschichte liefert gute Gr�nde daf�r, weshalb die junge Frau irgendwann des Lebens m�de ist. Wie immer in den Filmen von Johannes Fabrick geht es um (unkontrollierbare) Gef�hle, um magische Momente und die Transzendenz des Augenblicks. Dieses Erz�hlen von M�glichkeiten jenseits des Faktenchecks eines klassischen Ermittlerkrimis ist bekanntlich nicht jeder (vor allem) Manns Sache. Wer’s jedoch mag, der wird eingesogen von der Kraft der Phantasie und der subjektiven, mitunter �bersinnlichen Wahrnehmung der Hauptfigur. Aber auch Emily Cox gelingt es, ihren schwer durchschaubaren Charakter dem Zuschauer emotional n�her zu bringen. Man f�hlt mit beiden mit – ohne Kitschmomente, ohne simple Psychologisierung. Hartwig Seeler hat Erscheinun-gen. „Ich wei�, dass ich tr�ume“, sagt er zu seiner toten Frau, worauf sie mit �bernat�rlicher Sanftmut antwortet: „Auch wenn ich nicht real bin, so kann ich doch sehr wirklich sein.“
Foto: Degeto / Luis Zeno KuhnSinnbilder ohne bedeutungsschwer zu wirken, das geh�rt zur filmischen Handschrift von Johannes Fabrick und seinem Kameramann Helmut Pirnat. Maximilian Brauer
Wo es eine gro�e N�he zu den Charakteren eines Films gibt, bedarf es ausreichender Distanz zu deren Spiel, damit es nicht zu wohlfeilen Melodram-Momenten kommt, bei denen man vor lauter Tr�nen nichts mehr versteht. Die Gefahr umschifft Fabrick mit der speziellen Form seiner Inszenierung. Wenn es zum Inhalt einer Szene passt, geht Kameramann Helmut Pirnat mittenrein in die Interaktion, scheut keine Close-Ups; so kann der Betrachter den Figuren das Innenleben f�rmlich vom Gesicht ablesen (oder er glaubt es zumindest). Dann aber springt Pirnat mitunter – auch unvermittelt – in Totalen mit ausgefallenen Perspektiven. In besonders emotionalen Szenen entfernt sich schon mal die Kamera mit Schwenk oder Drohnenflug, um die erz�hlte Emotion nicht auszustellen oder wom�glich zum Effekt verkommen zu lassen. Besonders atmosph�risch wird es in den Szenen im Dunkel der Nacht, in denen sich die menschlichen Abgr�nde besonders nachdr�cklich manifestieren. F�r das R�tselhafte, dieses Nie-genau-wissen-k�nnen finden Fabrick und Pirnat immer wieder filmsprachliche Entsprechungen. Die Dinge verschwimmen, werden manchmal nur ausschnitthaft gezeigt, die Kamera schleicht �ber den Boden, und mal fordert ein Schnitt die Phantasie des Zuschauers heraus. Prinzipiell folgt man der Wahrnehmung des Privatdetektivs, besitzt ihm gegen�ber aber auch schon mal einen kleinen Wissensvorsprung, was die seelische Verfassung seiner Auftraggeberin angeht. Aber absolut sicher kann man sich nie sein… (Text-Stand: 16.3.2021)
Foto: Degeto / Jon BorgEine Rarit�t im deutschen Krimifernsehen: eine Reihe, die mit Lebensphilosophie statt moralischen Haltungsnoten gl�nzt. �sthetisch ist es vor allem das Spiel mit N�he und Distanz. Durch das gute Auspendeln verkommen Gef�hle nicht zu filmischen Effekten; notfalls (wie in dieser dramatischen Szene) schwenkt die Kamera weg.
Rainer Tittelbach arbeitet als TV-Kritiker & Medienjournalist. Er war 25 Jahre Grimme-Juror, ist FSF-Pr�fer und betreibt seit 2009 tittelbach.tv. Mehr
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