Gesine Gauck: "Die Verhältnisse sind geordnet. Nur eben anders" - WELT
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"Die Verhältnisse sind geordnet. Nur eben anders"

Joachim Gauck Joachim Gauck
Gesine Lange neben ihrem Vater Joachim Gauck: Die 44-Jährige lebt am Stadtrand von Bremen und arbeitet als Erzieherin
Quelle: Getty Images/Getty/Johannes Simon
Wie ist es, Tochter des künftigen Staatsoberhauptes zu sein? Gesine Lange über das Alltagsleben und die Brüche in der Familie Gauck.

Gesine Lange, geborene Gauck, hat in den vergangenen Tagen erfahren, dass es nicht nur schön ist, König von Deutschland zu werden. Plötzlich geht es um die Ehe ihres Vaters, und seine Biografie wird zerfleddert.

Dabei können seine Kinder so gut verstehen, warum Joachim Gauck so ist, wie er ist. Das alte und das neue Deutschland haben seine ganze Familie geprägt. Brüche hinterlassen. Es ist bewundernswert, wie ehrlich die Gaucks zu diesen Brüchen stehen.

Joachim Gauck hat mit seiner Frau Hansi vier Kinder: Christian, Martin, Gesine und Katharina. Christian Gauck, 51, ist in der Familie der härteste Kritiker seines Vaters . Gesine Lange, 44, verteidigt ihren Vater gerne. Christian nennt ihn "Joochen", mit langem o, Gesine nennt ihn "Vati".

Christian Gauck ist in Hamburg Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie geworden, er arbeitet am Krankenhaus Tabea. Er hält sich in diesen Tagen mit Interviews zurück, auch seine Geschwister Martin und Katharina reden nicht mit der Presse.

Man sieht, dass Gesine Lange die Tochter von Joachim Gauck ist – das Kinn, die Augen, die Nase sind ähnlich. Sie ist eine fröhliche Frau. Lange lebt seit 1989 in Bremen. In ihrem Wohnzimmer steht ein alter Sekretär, den ihr Vater ihr geschenkt hat, damals, als sie die DDR verließ.

In den Schubladen hat sie Briefe ihres Vaters aufbewahrt. Sie liest gerne in diesen Briefen. Und in ihren Tagebüchern. Sie führt seit fast 30 Jahren Buch über ihr Leben.

"Es war damals alles eine heile Welt"

Seit einigen Jahren bewohnt sie mit ihrer Familie ein nettes Haus am Rande der Stadt. Der Blick aus dem Fenster fällt auf Felder und Bäume. "Mich hat es schon immer zurück ins Grüne gezogen", sagt sie. "Seit damals, als Vati seine erste Pastoren-Stelle auf dem Land hatte."

Gauck war Pastor im mecklenburgischen Lüssow, die Familie wohnte in einem Pfarrhaus ohne fließendes Wasser, geheizt wurde mit Kohle, es gab ein Plumpsklo. Draußen blühte der Flieder. In ihrem Garten in Bremen hat Gesine Lange Flieder gepflanzt, weil der Duft sie an ihre Kindheit erinnert. "Es war damals alles eine heile Welt", sagt sie.

Groß war ihre Enttäuschung, als der Vater sich 1971 entschied, im Rostocker Plattenbau-Viertel Evershagen eine Gemeinde aufzubauen. Seiner Frau Hansi und den Kindern fiel der Umzug in die Dreieinhalbzimmerwohnung in der Platte schwer. Gauck machte sich mit großem Einsatz an seine neue Arbeit. Häufig kamen Gäste zu Besuch.

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Oft klingelte das Telefon – und Gauck musste weg. Seine Kinder sahen ihn nur selten. "Als Pastor ist man immer auch mit seiner Gemeinde verheiratet. Als Kind hinterfragt man das nicht so", sagt Lange. Sie erlebte ihren Vater im Konfirmandenunterricht, sie sah, dass die Kirche sonntags immer voll war. "Das, was mir als Vater an ihm gefehlt hat, hat der Pastor in ihm mehr als aufgewogen", sagt sie.

Joachim Gauck wollte, dass seine Kinder Bücher lesen, sonntags wurde klassische Musik gehört. Dass seine Kinder eine eigene Meinung hatten, das war ihm wichtig - weil er wusste, dass es Anfechtungen geben würde.

"Wo ist denn nun dein lieber Gott?"

Denn mit der Schule begannen die Repressionen des Regimes. Die Lehrerin sagte, dass Kosmonauten ins Weltall geflogen seien – und dabei keinen lieben Gott gesehen hätten. Dann drehte sich die Lehrerin zu Gesine um: "Wo ist denn nun dein lieber Gott?" Alle schauten sie an. Ihr Vater hatte sie vorbereitet. Die kleine Gesine Gauck antwortete: "Wo ist denn die Liebe? Können Sie mir mal zeigen, wo die ist?"

Gesine Gauck war nicht bei den Pionieren und der FDJ. Vom Schulfasching wurde sie ausgeschlossen. Joachim Gauck beschwerte sich bei den Lehrern. "Als wir älter waren, war uns das auch manchmal peinlich", sagt Gesine Lange. "Es war anstrengend, anders zu sein. Aber wir wussten, dass wir das Richtige tun."

Die Kinder von Joachim Gauck durften in der DDR kein Abitur machen. Christian und Martin wollten deshalb raus. Ihr Vater war Mitte der 80er-Jahre schon weit über Rostock hinaus bekannt: Er hielt regimekritische Predigten, organisierte Kirchentage. Er gab Jugendlichen Tipps, was sie tun sollten, wenn die Stasi sie anwerben wollte. Und er nutzte seine Kontakte zu West-Politikern, die inhaftierten Kirchenmitgliedern zur Ausreise verhalfen.

"Für andere setzt du dich ein! Für deine eigenen Söhne nicht!", warf Christian seinem Vater vor. Joachim Gauck war damals der Meinung, dass die Guten nicht auf der Flucht seien, sondern an der Front. Er könne seine Familie nicht bevorzugen. Gesine dachte damals wie ihr Vater.

"Das tut so weh, jetzt vor Weihnachten – alle weg"

1987, kurz vor Weihnachten, wurde der Ausreiseantrag von Gesines Brüdern genehmigt. Mit den Brüdern gingen nicht nur deren Frauen in den Westen, sondern auch drei Enkelkinder. Am 2. Dezember notierte Gesine Gauck in ihr Tagebuch: "Das tut so weh, jetzt vor Weihnachten – alle weg. Diese Ohnmacht, diese Hilflosigkeit, wenn man doch die Grenze einreißen oder wenigstens dafür sorgen könnte, dass man sich regelmäßig besuchen könnte. Es ist wie ein Tod."

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Die Familie wusste damals nicht, ob sie sich wiedersehen würden. Ihr Vater habe vor der Ausreise noch einmal alle versammelt. "Wenn ihr schon neu anfangt, lasst uns im Guten voneinander Abschied nehmen", habe Gauck gesagt. Mit dem Zug reisten die Brüder mit ihren Familien aus.

"Ich hatte in der DDR genauso gelitten wie meine Brüder. Ich wollte aber nicht gehen - auch weil ich es meiner Familie nicht antun und dem Vorbild meines Vaters folgen wollte", sagt Lange.

Ihr Halt war die Kirche, dort hatte sie ihre Freiheit. Sie sang im Chor, machte eine Ausbildung zur Kinderdiakonin. Doch dann nahm ihr Leben eine ungeplante Wendung. Als eine Gruppe junger Menschen aus der Bremer Partnergemeinde zu Besuch kam, verliebte sie sich in einen jungen Mann aus Bremen. Er wollte für Gesine in den Osten ziehen. Ihr Vater riet ab. Weil man sich in Sachen Freiheit nicht rückwärts entwickeln könne, sagte er.

"Das war die Möglichkeit für mich, meine Freiheit zu bekommen, ohne andere Menschen vor den Kopf zu stoßen. Die Liebe war mein Schlüssel zur Freiheit", sagt sie. Im Mai 1989 heiratete sie im Rostocker Standesamt, Ende Juni holte ihr Mann sie mit einem Auto ab. Ihr Vater schenkte ihr den Sekretär, der jetzt in ihrem Bremer Wohnzimmer steht. Gesine hinterließ ihrer kleinen Schwester Katharina ihren Lieblingsteddy Lieschen.

Die kirchliche Trauung fand im August 1989 in Bremen statt - Joachim, Hansi und Katharina Gauck durften hinfahren, vielleicht hoffte das Regime, der unbequeme Pastor würde gleich dort bleiben. Gauck traute seine Tochter selbst - und kehrte in die DDR zurück.

Brief an die Kinder – "Wir, das Volk, haben uns verändert"

Am Abend des 27. Oktober 1989 schrieb er einen Brief an seine Kinder: "Wir, das Volk, haben uns verändert und verändern uns jeden Tag mehr. Selbst wenn morgen alles zu Ende wäre, es würde nie wieder so sein wie zu der Zeit, als ihr weggingt", stand darin. Gauck schloss sich dem Neuen Forum an, sprach vor Tausenden Menschen.

"Ich war zur richtigen Zeit leider nicht am richtigen Ort", sagt Gesine Lange. Sie hatte sich in Bremen in ihr neues Leben gestürzt und eine Arbeit in einem kirchlichen Kindergarten angenommen.

Deutschland war wiedervereint, und Joachim Gauck war Leiter der Stasi-Unterlagen-Behörde in Berlin. Dass Kritiker ihm jetzt vorwerfen, er sei gar kein Bürgerrechtler gewesen, findet Gesine Lange ungerecht. Ihr Vater habe sich selbst nicht als Bürgerrechtler bezeichnet. Aber trotzdem habe er sich für die Rechte der Bürger eingesetzt. "Er war einfach Pastor. Er hat im Kleinen gewirkt und den Menschen geholfen."

Nach der Wende trennte sich Joachim Gauck von seiner Frau Hansi. Vor allem in den Augen des ältesten Sohnes Christian sei er damals in die Arbeit geflüchtet und habe sein altes Leben verdrängt.

"Dass es auch traurige Momente im Leben gibt, habe ich an mir selber gesehen", sagt Gesine Lange. Auch ihre erste Ehe, aus der sie zwei Kinder hat, hielt nicht. Vielleicht, sagt sie, habe die neue Freiheit ihr gezeigt, dass sie einfach mehr von ihrem neuen Leben erwartete.

Später lernte sie ihren jetzigen Mann kennen, heiratete erneut, bekam noch einmal zwei Kinder. Auch die Ehe ihres Bruders Christian scheiterte. "Der politische Umbruch spiegelt sich auch in unserer Familie wider", sagt Lange.

Auch Hansi Gauck und Schadt kennen sich

Mit den Jahren konnten Joachim und Hansi Gauck ihre Trennung aufarbeiten, hatten wieder Kontakt. Die Familie wurde größer, es gibt Taufen, Konfirmationen, Hochzeiten. Sowohl Joachim als auch Hansi sind dabei. Die Familie kennt auch Gaucks Lebensgefährtin Daniela Schadt , das Verhältnis ist sehr gut. Auch Hansi Gauck und Schadt kennen sich. Den Familienfesten bleibt Schadt jedoch aus Rücksicht fern.

"Die Verhältnisse sind geordnet. Nur eben anders. Warum soll nicht jeder Mensch für sich entscheiden, was für seine Familie das Richtige ist?", sagt Lange. Das Verhältnis zwischen Joachim Gauck, seiner Frau und seiner Lebensgefährtin sei geprägt von Verantwortung und Achtung für den anderen.

"Meine Eltern haben in der DDR viel gemeinsam durchgemacht. Das darf so stehen bleiben. Dass eine neue Partnerin die frühere Beziehung akzeptiert - das gibt es nicht immer." Den Tag ihrer goldenen Hochzeit habe das Ehepaar Gauck zusammen verbracht, ganz bewusst. "Die Scheidung war und ist nicht notwendig. Für die drei ist es so richtig, wie es jetzt gerade ist", sagt Lange.

Als an jenem Sonntag, 19. Februar 2012, gemeldet wurde, dass Gauck der Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten ist, saß Gesine Lange vor dem Fernseher. Sie sah ihren Vater, bei der Pressekonferenz saß er neben der Bundeskanzlerin und rang um Worte. Er sagte, dass er überwältigt sei, ein wenig verwirrt – und noch nicht mal gewaschen. Sehr privat sei ihr Vater in diesem Moment gewesen, sagt Gesine Lange.

"Ich finde das schön. Er ist so, wie er ist." Sie glaubt, dass er sich seine Offenheit auch im neuen Amt bewahren wird.

Dass ihr Vater nur auf das Thema Freiheit fokussiert sei, stimme einfach nicht. Es gehe ihm auch um die Verantwortung für andere, um das Engagement junger Menschen. Er könne gut zuhören, vermitteln. "Für mich steht mein Vater stellvertretend für all diese Menschen, die sich getraut haben - im Kleinen oder im Großen - und 1989 auf die Straße gegangen sind."

"Er wirkt fitter als vor zehn Jahren"

Neulich hat Gesine Lange ihren Vater bei einem seiner letzten Auftritte als Bürger bei einer Lesung begleitet. Sie erlebte einen Mann, der jetzt 72 Jahre alt ist und für seine neue Aufgabe brennt. "Er wirkt fitter als vor zehn Jahren. Voller Energie", sagt sie.

Sie hat mit den Personenschützern gesprochen, die ihn jetzt bereits umgeben. Diese sagten ihr, dass ihr Vater künftig nicht mehr alleine zum Brötchenholen oder zum Steinesammeln an den Strand gehen könne. Ihr wurde klar, dass ihr Vater bei den nächsten Festen fehlen könnte, dass er weniger frei sein wird. Komisch eigentlich, da doch die Freiheit sein großes Thema ist.

Gesine Lange hat in diesen Tagen nicht mehr viel Zeit für ihr Tagebuch. Über die turbulenten Entwicklungen hat sie notiert: "Das ist ja wie im Traum: Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Gestern noch mein Vater – morgen schon Bundespräsident!"

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