5.1 Kernelemente globalisierungskritischer Bildungspraxis

Die politische Bildungsarbeit ist von jeher ein wesentlicher Kernbestandteil der globalisierungskritischen Bewegung. Schon im Zuge der Anti-IWF-/Weltbank-Proteste 1988 in West-Berlin organisierten Gipfelgegner*innen bspw. so genannte „Antiimperialistische Stadtrundfahrten“ zu ausgewählten Orten im Stadtgebiet (Fabriken, Konzernfilialen etc.), um auf globale Zusammenhänge in Politik und Wirtschaft aufmerksam zu machen und die diagnostizierten weltweiten Ausbeutungsprozesse anhand der „Zentren der Herrschaft“ (A. G. Grauwacke 2003: 216) – gemeint waren hiermit der IWF und die Weltbank – in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken. Im Vordergrund standen hier vor allem die Wissensvermittlung und politische Aufklärungsarbeit. Der Begleitbroschüre zu den damaligen Stadtrundfahrten war ergo zu entnehmen: „Mit der antiimperialistischen Stadtrundfahrt und der vorliegenden Broschüre dazu wollen wir einen Mangel beseitigen, der seit langem besteht. Nicht alle wissen, was IWF und Weltbank sind und noch weniger, was denn nun eigentlich dahinter steckt. […] Was wir darstellen wollen, ist die Politik derjenigen, die konkret dahinterstehen, derjenigen, die hier in Berlin dafür stehen“ (AIS 1988: 3). Bis zum Beginn der Jahrestagung von IWF und Weltbank fanden insgesamt 20 derartiger Rundfahren, überwiegend organisiert von autonomen Gruppen, mit fast 1.000 Teilnehmer*innen statt (vgl. A. G. Grauwacke 2003: 216).Footnote 1 Die Broschüre, die den Teilnehmenden der Stadtrundfahrten ausgehändigt wurde, enthielt neben einem Stadtplan mit der Route und den jeweiligen Stationen auch umfangreiche Hintergrundinformationen zu den einzelnen Besichtigungspunkten (wie z. B. zu Schering, Siemens, Deutsche Bank, Nestlé oder Philip Morris). Dadurch sollten die Teilnehmenden zur weiteren inhaltlichen Auseinandersetzung angeregt sowie zur Beteiligung an den Protesten und Aktionen gegen den IWF-/Weltbank-Kongress motiviert werden. Zielsetzung der Gipfelgegner*innenszene war die Schaffung einer Gegenöffentlichkeit durch unterschiedliche politische Bildungs- und Aufklärungsformate, zu denen neben den Stadtrundfahren auch eine Vielzahl an Workshops, Seminaren, Vorträgen und Infoständen gehörten.Footnote 2 Höhepunkt dieses Engagements, zumindest hinsichtlich der Anzahl an geladenen Gästen, interessierten Teilnehmer*innen und organisierten Podien, bildete der zweitägige internationale Gegenkongress vom 23. bis 24. September 1988 im Audimax der TU Berlin. Dort debattierten insgesamt etwa 4.000 Gipfelgegner*innen über die Auswirkungen der Globalisierung. Die Vorträge und anschließenden Diskussionsrunden sollten den Teilnehmenden die Möglichkeit geben, sich über die globale Verteilungsordnung, die Kreditvergabepraxis von internationalen Finanzinstitutionen oder etwa über das Demokratieverständnis der IWF- und Weltbank-Apologeten auszutauschen.

Der politische Bildungsansatz war prägend für die damalige Protestkampagne: Durch die „Aufklärung der Öffentlichkeit“ (Wolf/Ratzmann 1988: 25) sollten Ursachen und Wirkungen der IWF- und Weltbank-Politik skizziert, aber auch Ideen für eine „neue Entwicklungsrichtung“ (ebd.) aufgezeigt werden. So stellte Thomas Furth in einem Überblick der für September 1988 geplanten Gegenaktivitäten fest, dass die Jahrestagung von IWF und Weltbank „fortschrittlichen Kräften die einzigartige Gelegenheit [böte], über weltwirtschaftliche Zusammenhänge zu informieren und Lösungsansätze und Handlungsalternativen zu diskutieren, die nicht nur die Interessen der westlichen Monopole und Banken und den allgemeinen Wohlstand in den Industrieländern, sondern stattdessen die Interessen der Menschen in den Ländern der ‚Dritten Welt‘ in den Vordergrund rücken“ (Furth 1988: 31). Kritische Stimmen, wie etwa Lili Rabe und Sabine Hanisch von der Kolumbiengruppe im Vamos e. V., einem 1987 gegründeten und heute noch aktiven entwicklungspolitischen Verein mit Sitz in Münster, merkten hingegen an, dass im Zuge der Anti-IWF-/Weltbank-Kampagne konkrete, politische Handlungsoptionen kaum thematisiert wurden und sich die Solidaritäts- und Internationalismusgruppen in Deutschland in ihren Aufklärungsaktivitäten vornehmlich auf eine reine Zustandsbeschreibung und Informationsvermittlung fokussiert hätten. In einem Beitrag für die iz3w wurde demzufolge beanstandet: „Die Informations- und Bildungsarbeit über das, was ‚die da‘, also die Akteure der Weltwirtschaft so alles machen, wird ganz in den Vordergrund gestellt, und die Diskussion und Darstellung politischer Handlungsperspektiven werden erst mal verschoben auf den Zeitpunkt, an dem eben diese politische Handlungsbereitschaft populär sein wird. Nur – wer diesen Zeitpunkt herbeiführt und wer diese Handlungsbereitschaft vorlebt, bleibt unklar“ (Rabe/Hanisch 1988: 34).

Während der Anti-IWF-/Weltbank-Aktionstage erschien täglich eine von Gipfelgegner*innen herausgegebene Zeitung namens „Zahltag – die tägliche Massenzeitung gegen IWF und Weltbank“, die tausendfach in West-Berlin verteilt wurde und eine Gegenöffentlichkeit herstellen sollte. Die gipfelbezogene Zeitung hatte eine Auflage von ca. 50.000 Stück (vgl. BfM/BUKO 1989b: 12 oder Schmidt 2014: 21) und enthielt neben Hintergrundberichten auch Informationen zu geplanten Aktionen, Terminen und Veranstaltungen. Schon vor der Tagung von IWF und Weltbank erschien im monatlichen Turnus (von Mai bis September 1988) die Zeitung „Milliardenfieber“ als Informationsblatt der Anti-Gipfel-Kampagne in einer anfänglichen Auflage zwischen 20.000 und 50.000 Exemplaren (vgl. Olejniczak 1999: 157, BfM/BUKO 1989b: 12 oder Gerhards 1993: 14). Ferner organisierte der DGB einige Tage vor der Kongresswoche eine prominent besetzte Tagung zur Politik der so genannten Bretton-Woods-Zwillinge. Neben den Bundestagsabgeordneten Thomas Ebermann und Karsten Voigt nahmen hieran auch Elmar Altvater und der Ökonom Peter Kisker teil (vgl. Kempe 1988: 8, Knauf 1988: 26 oder BfM/BUKO 1989b: 15).Footnote 3 Angesichts der Fülle an politischen Bildungsveranstaltungen, Informationsmaterialien und Hintergrundberichten resümierte Michael Voregger später in einem Beitrag für die „Dritte Welt“-Zeitschrift: „Mit der IWF/Weltbank-Kampagne ist es zum erstenmal gelungen, das öffentliche Interesse auf Fragen der Weltwirtschaft und die Rolle der internationalen Finanzagenturen bei der Ausbeutung der Dritten Welt zu lenken“ (Voregger 1988b: 14).

Charakteristisch für die damalige politische Bildungspraxis – und dies gilt in weiten Teilen noch bis heute – war ein aktionsorientierter, auf Öffentlichkeitswirksamkeit und Gegenexpertise fokussierter Ansatz, in dessen Zusammenhang eine zumeist durchaus gewollte Verknüpfung zwischen Bildung und politischer Aktion hergestellt werden sollte. Beispielhaft steht hierfür eine „Agitprop“-Aktion der so genannten „Nachwuchstruppe des Grips-Theaters“ in der Berliner Sophie-Scholl-Schule wenige Tage vor der IWF-/Weltbank-Tagung. Mittels einer kurzen komödiantischen Szene sollten die anwesenden Schüler*innen dazu aufgefordert werden, sich an den Gegenprotesten zu beteiligen. Ergänzend wurden Flugblätter verteilt und entsprechende Parolen an den Schulwänden hinterlassen. Die überraschte Schulleitung informierte umgehend die Polizei und verwies die Laienschauspielgruppe des Geländes. Die Aktion wurde seitens der Gruppe u. a. damit begründet, ein Gegengewicht zu dem „von der Schulsenatorin verteilten IWF-Propaganda-Material“ (vgl. taz 1988b: 16) schaffen und unter den Berliner Schüler*innen für die bevorstehende Aktionswoche mobilisieren zu wollen. Einen ähnlichen Bildungsansatz verfolgte man auch mit den Straßentheater-Aktionen des BfM oder den oben bereits erwähnten „Antiimperialistischen Stadtrundfahrten“. Letztere sind durchaus vergleichbar mit den heutigen globalisierungs- und konsumkritischen Stadtrundgängen (vgl. z. B. Bade 2017) oder den politischen Hafenrundfahrten (vgl. z. B. Beutke 2017). Hierbei handelt es sich primär „um ein Bildungsangebot, das sich durch eine aufklärerische und aktionistische Praxis“ (Emde 2017: 253) auszeichnet und nicht nur an die Teilnehmenden, sondern ebenfalls an die Öffentlichkeit gerichtet ist.

Das Verhältnis von politischer Bildung und politischer Aktion führte schon in den 1960er und 1970er Jahren zu teils intensiv geführten Debatten, „ob und wie politisches Lernen und politische Aktion miteinander zusammenhängen bzw. voneinander abzugrenzen sind […] [und] sich politisches Lernen notwendigerweise auf politische Aktionen zubewegen oder gar in ihnen vollziehen muß“ (Armbruster 1979: 39). Alexander von CubeFootnote 4 vertrat hierzu 1974 eine klare Position: „Ein Seminar über den Imperialismus, das auf die Straße geht, bedeutet keinen Widerspruch zum Lehrauftrag der Erwachsenenbildung, sondern im Gegenteil: das Seminar, das nicht demonstriert, hätte nach meiner Auffassung das Klassenziel nicht erreicht“ (zit. n. Hufer 2011: 73). Und auch Hans Tietgens betonte Anfang der 1970er Jahre: „Politisches Lernen – so lautet der Grundsatz – vollzieht sich erst im Zusammenhang mit politischen [sic!] Handeln“ (zit. n. ebd.: 70).Footnote 5 Herrmann Giesecke entgegnete, dass „‚Lernen‘ und Aktion antinomische soziale Verhaltensweisen sind, die zueinander in erheblichem Widerspruch stehen“ (Giesecke 1971: 25). Doch wäre es, seiner Auffassung nach, durchaus möglich, dass in einem „ständig wechselnden zeitlichen Nacheinander[.] […] aus dem antinomischen [Hervorhebung im Original] Verhältnis ein dialektisches [Hervorhebung im Original] wird: Phasen der Aktion folgen solche der Reflexion, denen dann wieder Phasen der durch die vorangegangene Reflexion verbesserten Aktionen folgen“ (ebd.: 26).

Rückblickend betrachtet war und ist das Themenfeld „‚politische Bildung und politische Aktion‘“, so Benedikt Widmaier in einer Analyse aus dem Jahre 2011, „[…] für die politische Bildung [also] nicht neu. Es zählt zu den schwierigen und konfliktreichen Themen in der Geschichte sowohl der schulischen Politikdidaktik […] als auch der außerschulischen Jugend- und Erwachsenenbildung“ (Widmaier 2011: 102). Doch im Unterschied zur schulischen Politischen Bildung, die die Einbeziehung konkreter politischer Aktionen in die Unterrichtsgestaltung mehrheitlich eher verneint, „gehört die Ermöglichung realer politischer Aktion“, wie etwa Alexander Wohnig 2020 in seiner Überblicksdarstellung zur Thematik betont, „zum Selbstverständnis der Profession der außerschulischen politischen Jugendbildung“ (Wohnig 2020a: 152). Folglich ist auch die Verbindung von politischem Handeln bzw. politischer Aktion und politischem Lernen in der außerschulischen Bildungspraxis wesentlich ausgeprägter vorhanden. Gleichwohl weist aber auch Wohnig mit Blick auf die vergangenen Debatten innerhalb der schulischen wie außerschulischen Politischen Bildung darauf hin, dass zur Frage, „ob politische Aktionen, verstanden als reales Handeln von Schüler/-innen, überhaupt als ein Ziel politischer Bildung definiert werden sollten“ (ebd.: 153), weiterhin große Uneinigkeit besteht und stets unterschiedliche „argumentative[.] Begründung[en] der Ablehnung und Unterstützung dieses Ziels“ (ebd.) vorgebracht werden.Footnote 6 Ein Verfechter der Ermöglichung von politischen Aktionen aus dem Unterrichtskontext heraus ist u. a. Frank Nonnenmacher; obgleich er deren Legitimität an bestimmte Voraussetzungen bzw. Bedingungen knüpft. So sollten die außerunterrichtlichen politischen Aktivitäten „am Ende eines Analyse- und Reflexionsprozesses stehen“ (Nonnenmacher 2011a: 95), das Recht zur Nicht-Teilnahme einräumen, d. h. auch „von jedem Teilnahmezwang entlastet [sein]“ (ebd.: 97), und sowohl den Lernenden als auch den Lehrenden die Möglichkeit offerieren, als „critical friends“ den Planungs- und Umsetzungsprozess zu begleiten, ohne sich jedoch selbst mit den politischen Inhalten und Zielvorstellungen der Aktion gemein zu machen.Footnote 7

Derartigen aktionsorientierten Konzepten zur Förderung politischer Handlungsfähigkeit stehen viele Politikdidaktiker*innen durchaus skeptisch bis grundsätzlich ablehnend gegenüber. Joachim Detjen verweist etwa unter Bezugnahme auf den Beutelsbacher Konsens darauf, dass politische Aktivitäten dem Indoktrinationsverbot unterliegen und „die Schule kein Ort der direkten politischen Aktion und damit des Trainings realen politischen Handelns ist“ (Detjen 2012: 235). Und weiter führt er an:

„Wie soll man das Organisieren einer Demonstration lernen? Wie die Gestaltung einer Pressekonferenz? Und wie die Aktivierung einer Gefolgschaft? Diese zum politischen Handwerk gehörenden Handlungen lernt man in Parteien, Verbänden und Bürgerinitiativen, also im realen politischen Leben. Was die Schule hingegen tun kann, ist, kognitive Voraussetzungen für späteres politisches Handeln zu schaffen, mithin über die verfassungsrechtlich zulässigen politischen Beteiligungsmöglichkeiten zu informieren.“ (ebd.)

Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kommt in diesem Kontext Gotthard Breit. Nach seiner Auffassung sollten Lehrer*innen „ihre Schüler weder zur Beteiligung noch zur Nicht-Beteiligung [an politischen Aktionen] auffordern“ (Breit 2012: 251). Die Lehrkraft habe den Beutelsbacher Konsens zu achten und im Rahmen des Unterrichts daher nicht zur Teilnahme an Demonstrationen aufzurufen bzw. „die Jugendlichen emotional ‚aufzuputschen‘“ (ebd.). Zugleich sollte aber auch nicht der Versuch unternommen werden, „die Jugendlichen von einer Teilnahme abzuhalten“ (ebd.) oder gar die „Aktion süffisant von oben herab zu kommentieren“ (ebd.: 252).

Der kurze Blick auf die fachdidaktischen Debatten der letzten Jahrzehnte zeigt hier eindrücklich, dass die von Bert Armbruster bereits 1979 aufgeworfene Frage nach dem „Verhältnis von Aktion und Reaktion, Lernen und Handeln, Praxis und Theorie, Erklären und Verändern“ (Armbruster 1979: 39), aber vor allem der Bedingungszusammenhang von politischer Bildungsarbeit und politischer Aktion (inkl. anschließender Reflexionsphase), nach wie vor für kontroverse Diskussionen sorgt und innerhalb der Politischen Bildung noch nicht abschließend geklärt ist. Üblicherweise wird jedoch in der fachdidaktischen Diskussion die Meinung vertreten, dass „Bildungsprozesse und Aktionen/Kampagnen prinzipiell auseinander gehalten werden“ (Fritz et al. 2006: 181) sollten und in jedem Fall die „reflexive Distanz“ (ebd.) zu wahren sei.

Wie Klaus-Peter Hufer in einer Rekonstruktion der seit den 1960er Jahren geführten Debatten hervorhebt, führte der Konflikt zwischen radikaldemokratischer Handlungsorientierung auf der einen und den institutionellen Vorgaben auf der anderen Seite schließlich dazu, dass aus dem Kreise der Bewegungsakteure heraus die Gründung alternativer Bildungsstätten, wie z. B. in Form von Bildungsläden, Bildungswerkstätten, Bildungsinitiativen, Bildungshäusern etc., initiiert wurde (vgl. Hufer 2011: 67 oder 79). Diese waren u. a. wiederum ein maßgeblicher Träger der seinerzeit im Rahmen der Anti-IWF-/Weltbank-Kampagne durchgeführten Bildungsveranstaltungen (vgl. Gerhards 1993). Schon 1987 war laut einem Thesenpapier des nordrhein-westfälischen Landesinstituts für Schule und Weiterbildung eine Entwicklung in der außerschulischen politischen Bildungslandschaft zu beobachten, die damals mit den folgenden Worten beschrieben wurde: „Es zeichnet sich ab, daß große Teile politischer Bildungsarbeit im Rahmen sozialer Bewegungen und nicht im Rahmen organisierter Lernprozesse stattfinden, daß für viele politisch Aktive die institutionalisierte politische Weiterbildung an Bedeutung verliert“ (zit. n. Hufer 2011: 80). Die „Didaktik der Straße“ (Dieter Baacke, zit. n. ebd.: 69) schuf sich ihr eigenes Lernumfeld und prägte dadurch letztlich auch die „institutionalisierte“ Bildungslandschaft – und dies bis heute. Wie Jürgen Gerhards anhand der Anti-IWF-/Weltbank-Proteste in West-Berlin aufzeigte, beteiligten sich neben „den politischen Gruppierungen im engeren Sinne“ (Gerhards 1993: 112) ebenso „Bildungseinrichtungen und Tagungszentren […] in starkem Maße mit Veranstaltungen an der Mobilisierungskampagne“ (ebd.). Daraus zog er die Schlussfolgerung: „Offensichtlich hat sich mit den Bildungszentren und Kulturveranstaltern ein Bereich ausdifferenziert, der professionell und zum Teil kommerziell Protestkampagnen mit Veranstaltungen begleitet“ (ebd.). In Zahlen gefasst waren von den 417 Veranstaltungen, die im Zuge der ca. zweijährigen Mobilisierungsphase durchgeführt wurden, insgesamt 176 dem Teilbereich „Information und Aufklärung“ zuzuordnen. Dazu zählten 104 Informationsveranstaltungen, 51 Filmvorführungen, 11 Kongresse, 6 Ausstellungen und 4 Seminare. Gemessen an der Gesamtzahl waren dies 42,1 Prozent aller Veranstaltungen; und damit deutlich mehr als jene der Teilbereiche „Planung und Organisation“ (38,6 Prozent) und „Aktionen“ (19,2 Prozent) (vgl. ebd.: 117). Schon anhand dieser Zahlen wird deutlich, welchen hohen Stellenwert vonseiten der globalisierungskritischen Protestakteure der Politischen Bildung beigemessen und in welchem Maße bereits im Vorfeld der IWF-/Weltbank-Tagung in West-Berlin versucht wurde, Informations- und Aufklärungsarbeit in eigener Sache zu betreiben.Footnote 8 Mit Blick auf spätere Protestereignisse der globalisierungskritischen Bewegung zeigt sich ein ähnliches Bild. So wurden etwa, wie eine Untersuchung der University of Washington 2001 aufgezeigt hat, im Zuge der Kampagne gegen die WTO-Konferenz in Seattle von Februar bis Ende November 1999, also im Zeitraum von der Ankündigung des Veranstaltungsortes bis zum Konferenzbeginn, mehr als 500 Bildungs-, Informations- und Mobilisierungsveranstaltungen durchgeführt (vgl. WTO UoW 2001).

Grundsätzlich war und ist die oben bereits hervorgehobene Aktionsorientierung ein wesentlicher Bestandteil der globalisierungskritischen Bildungspraxis. Durch die gemeinsame Aktion und das Erleben von Solidarität sollen ein Reflexionsprozess initiiert sowie die Teilnehmenden zur inhaltlichen Auseinandersetzung und bestenfalls zum weiteren politischen Engagement motiviert werden. Demzufolge geht es globalisierungskritischen Gruppen und Netzwerken, wie z. B. Attac-Deutschland, nicht nur um die Vermittlung von Wissen und die Stärkung der kritischen Urteilsfähigkeit, sondern auch um die aktive politische Beteiligung. Der aktionsorientierte Ansatz war und ist aber gewiss kein Alleinstellungsmerkmal der globalisierungskritischen Bewegung, sondern findet sich u. a. schon bei Bildungskonzepten der Friedens- oder Anti-Atombewegung. Als prägnantes Beispiel ist hier die ausschließlich ehrenamtlich organisierte VHS Wyhler Wald zu nennen, die sich als „Modell selbstorganisierter, basis- und aktionsorientierter Erwachsenenbildung“ (Beer 1978: 142–43) verstand und 1975 im Kontext der Proteste gegen das geplante Kernkraftwerk Wyhl gegründet worden war. Bildung und Aktion waren hier auch räumlich miteinander verknüpft, da sich die alternative VHS inmitten des von Bürgerinitiativen besetzten Bauplatzes für das Atomkraftwerk Wyhl befand. Neben Theateraufführungen, Heimatabenden, Musikdarbietungen, Filmvorführungen und Lesungen fanden ebenso politische Bildungsveranstaltungen Eingang ins Programm der alternativen Bildungseinrichtung. Hierzu zählten etwa Wochenendseminare zu gewaltfreien Aktionsformen, Informationsveranstaltungen zu aktuellen politischen Themen sowie Vorträge und Podiumsdiskussionen mit Vertretern aus der Politik. Alleine in den Monaten von April bis November 1975 wurden 25 Veranstaltungsreihen mit insgesamt 99 Einzelveranstaltungen umgesetzt (vgl. ebd.: 98). Der Aufklärungsanspruch war dabei stets eine zentrale Leitlinie des Bildungsengagements der Atomkraftgegner*innen – ähnlich wie später auch bei Attac-Deutschland und anderen Organisationsgefügen der globalisierungskritischen Bewegung. Es sollten fundierte Argumente in eigener Sache vermittelt, ein Austausch an aktuellen Informationen ermöglicht und zugleich zum gemeinsamen Widerstand ermutigt werden. Ein häufiger Besucher der VHS Wyhler Wald gab damals an: „Der Kampf wird nicht in der Volkshochschule gewonnen, sondern draußen in den Dörfern, wenn es darum geht, die Leute von den Gefahren eines Atomkraftwerkes zu überzeugen. Aber die Volkshochschule stattet uns mit dem dafür notwendigen geistigen Rüstzeug aus“ (zit. n. ebd.: 127). Auch nach der Räumung des besetzten Platzes, in dessen Zentrum sich das so genannte „Freundschaftshaus“ als zentraler Veranstaltungsraum der VHS Wyhler Wald befand, wurde die Bildungsarbeit noch über elf Jahre an „unterschiedlichen Orten der Region rund um den Kaiserstuhl“ (Beer 2007: 42) fortgesetzt. „In der Hochzeit“, so Beer rückblickend, „fanden bis zu vier Veranstaltungen pro Woche statt, später wöchentlich eine“ (ebd.).

Wie das Beispiel der VHS Wyhler Wald zeigt, waren und sind derartige nicht-institutionalisierte Formen der Politischen Bildung stets „Lernort[e] von politischer Bewegung und für politische Bewegung“ (Beyersdorf 1991: 15). Die im Rahmen dessen organisierte Bildungsarbeit wird als „theoretisches Reflexionsangebot zur grundlegenden gesellschaftlichen Veränderung und als Angebot zur Einübung und Erprobung praktischer Fähigkeiten und Fertigkeiten“ (ebd.: 15–16) verstanden. Damit korrespondiert, wie Martin Beyersdorf schon 1991 in seiner Analyse der selbstorganisierten Bildungsarbeit u. a. unter Bezugnahme auf die Arbeiterbildungsschulen des 19. Jahrhunderts feststellte, das „Selbstverständnis, mit der eigenen Bildungspraxis dem herrschenden Bildungssystem eine politische und pädagogische Alternative gegenüberzustellen“ (ebd.: 30). Neben der weitgehenden Mit- und Selbstbestimmung der Teilnehmer*innen standen für die Organisator*innen der Wyhler VHS dabei vor allem der konkrete Aktionsbezug im Vordergrund der eigenen Bildungskonzeptionen. Eine politische Neutralität war hier weniger gewünscht. Vielmehr zeigte sich in den Befunden von Beyersdorf, dass eines der Hauptmotive der Teilnehmer*innen, „sich bei gleichen Veranstaltungsankündigungen für teil-institutionalisierte Bildungsarbeit und nicht für traditionelle Erwachsenenbildung zu entscheiden“ (ebd.: 205), im „Treffen [mit] ‚Gleichgesinnte[n]‘“ (ebd.) bestand.

Nach Wolfgang Beer waren und sind soziale Bewegungen für die beteiligten Akteure immer auch politische, inhaltliche und soziale Lernbewegungen (vgl. Beer 2007: 41).Footnote 9 In und durch sie werden zum einen das benötigte Aktions- und Fachwissen für die politische Arbeit vermittelt (wie bspw. durch eigene Bildungsmaßnahmen, die politische Aktions- und Verhandlungsformen oder etwa den Umgang mit Medienvertreter*innen beleuchten), zum anderen werden wichtige praktische Erfahrungen gesammelt und „Solidarität als eine Grundvoraussetzung für erfolgreiches politisches Handeln und damit für eigene Wirkungsmächtigkeit erfahren“ (ebd.: 42). Gerade die Aneignung von Fachwissen in Verbindung mit praktischen Aktionserfahrungen können, so Beer, das Erlernen von „politischen, ökonomischen und juristischen Funktionsweisen unserer Gesellschaft“ (ebd.: 41) erheblich erleichtern und die „Werteorientierung und das politische Verhalten der Beteiligten“ (ebd.) nachhaltig verändern. Wie Beer ferner hervorhebt, zeigt sich dieses „Selbstverständnis von Bildungsarbeit im Kontext sozialer Bewegungen“ (ebd.: 43) ebenfalls bei Attac-Deutschland, das sich selbst als „Bildungsbewegung mit Aktionscharakter“ (Attac-D 2017a) versteht und von vielen Bewegungsforscher*innen als „prominentester Vertreter der Globalisierungskritik in Deutschland“ (Knothe 2009: 14) wahrgenommen wird. Denn gerade in Bezug auf die Aktionsorientierung werden auch von Attac unterschiedliche Formen des bürgerschaftlichen Engagements, wie z. B. die Initiierung von Unterschriftenlisten oder die konkrete Planung von Aktionen des zivilen Ungehorsams, in die methodisch-didaktische Konzeption von Bildungsmaßnahmen eingebunden.Footnote 10

Beispielhaft für derartige aktionsorientierte Ansätze stehen die so genannten Aktionstrainings, welche oftmals im Vorfeld von Gipfelprotesten (bspw. G7/G8- oder G20-Gipfel)Footnote 11 oder im Rahmen von konkreten BlockadeaktionenFootnote 12 durchgeführt werden. In vielen Fällen sind diese ein wesentlicher Bestandteil der Protestvorbereitungen und des ereignisbezogenen politischen Bildungsengagements der jeweiligen Organisationen bzw. Bündnisse. Die Trainings oder auch Workshops geben in einzelnen Modulen einen Überblick über die Möglichkeiten und Grenzen des zivilen Ungehorsams, vermitteln in der Regel unterschiedliche Blockade- und Aktionstechniken und sollen die Teilnehmer*innen möglichst praxisnah mit etwaigen Stresssituationen konfrontieren. Zudem werden in den Maßnahmen die Grundzüge des Bezugsgruppenmodells und der basisdemokratischen Entscheidungsfindung (inkl. des Konsensprinzips) vorgestellt. Aufgrund des verstärkten Bedarfs an solchen Aktionstrainings und der geringen Anzahl an ausgebildeten Trainer*innen in diesem Feld hatte sich bereits im Kontext der „Block-G8“-Kampagne und der Aktionen rund um den G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 mit „Skills for Action“ ein Netzwerk bewegungsorientierter Aktionstrainer*innen gebildet, das seitdem in verschiedenen Bereichen entsprechende Bildungsmaßnahmen anbietet. Aus dem Netzwerk heraus entstand 2013 sogar ein umfangreiches Handbuch für Aktionstrainings (vgl. SfA 2013), das auch in einer englischen Fassung vorliegt. Die Aktionstrainings waren schon in den Anfangsjahren der globalisierungskritischen Bewegung ein prägendes Element ihrer Bildungspraxis. Exemplarisch stehen hierfür bspw. die zahlreichen vom DAN organisierten „Nonviolence Trainings“ in den Monaten vor der WTO-Konferenz in Seattle 1999 (vgl. WTO UoW 2001) oder die über 60 Aktionstrainings, welche anlässlich des G8-Gipfels in Heiligendamm 2007 deutschlandweit durchgeführten wurden (vgl. FAZ 2007b).

Trainings in gewaltfreier Aktion weisen mit Blick auf die Geschichte sozialer Bewegungen eine lange Traditionslinie auf und wurden bereits weit vor dem „Battle of Seattle“ oder den Blockadeaktionen von Heiligendamm in unterschiedlichen Zusammenhängen durchgeführt. In den USA fanden derartige Trainings bspw. schon in den 1930er Jahren statt und wurden insbesondere von der Bürgerrechtsbewegung organisiert (vgl. Martin Koppold, zit. n. Schmitz 2015: 167).Footnote 13 In Deutschland gründeten sich vor allem in den 1970er Jahren erste Trainingskollektive, die entsprechende Bildungsmaßnahmen anboten und sich erstmals 1977 zu einem gemeinsamen Bundestreffen zusammenfanden (vgl. Painke 1997: 174).Footnote 14 Gerade in den „Vorbereitungen gewaltfreier Aktionen gegen Atomkraft und Atomwaffen [nahmen die Trainings] eine zentrale Rolle ein“ (Schmitz 2015: 167)Footnote 15 – im Fall der Blockadevorbereitungen im Kontext des Atomwaffenlagers in Engstingen 1982 wurden diese sogar zur Teilnahme an der Aktion vorausgesetzt (vgl. SfA 2013: 9). Für Uwe Painke, der viele Jahre zu Friedens- und Konflikterziehung forschte und später die Leitung der Volkshochschule Leonberg übernahm, geht es bei den so genannten „Trainings für Gewaltfreiheit“ nicht nur um „ein verstandsmäßiges Lernen mit dem Kopf“ (Painke 1997: 168), sondern ebenfalls um ein „Ausprobieren, ein Experimentieren und ein praktisches Üben des als richtig erkannten [sic!]“ (ebd.). Neben der reinen „Informationsvermittlung und kognitive[n] Reflexion nehmen im Sinne ganzheitlichen Lernens“, so Achim Schmitz, in heutigen Trainingssettings „praktische Übungen und Rollenspiele einen großen Raum ein“ (Schmitz 2015: 170). Grundsätzlich gehe es dabei „nicht darum, Patentrezepte zu vermitteln, sondern um das Angebot eines methodischen Rahmens, in den Teilnehmende ihr Wissen einbringen, gemeinsam nach Lösungen suchen und Neues in einer geschützten Atmosphäre ausprobieren können“ (ebd.).

Dieser Ansatz findet sich auch in den heutigen Aktionstrainings von Skills for Action wider. Im Vordergrund stehen hier besonders die Begegnung, der Erfahrungsaustausch sowie die Schaffung eines Raums zur Selbstermächtigung. Ziel sei es dabei, die Teilnehmenden „zur Reflexion von Hierarchien und Unterdrückungsverhältnissen und zu deren aktiven Veränderung“ (SfA 2013: 11) zu befähigen. Die Trainer*innen sollen in diesem Prozess „eher als ‚Moderation‘ anstatt als ‚Lehrer*in‘“ (ebd.) fungieren sowie ihre „eigenen Sichtweisen, Meinungen und Erfahrungen transparent“ (ebd.) machen und auf diese Weise ihr Fachwissen einbringen. Deutlich werden in diesem Zusammenhang die Bezüge zu Paulo Freires Hauptwerk „Pädagogik der Unterdrückten“ und der von ihm skizzierten problemformulierenden Bildung. Dies betrifft sowohl seine Ausführungen zum Verhältnis zwischen Reflexion und Aktion als auch jene zur kritischen Bewusstwerdung („conscientização“) – womit die Schlussfolgerung einhergeht, dass „the world not as a static reality, but as a reality in process, in transformation“ (Freire 1970, zit. 2017: 56) zu begreifen ist.Footnote 16 Die Vorbereitung zur Aktion und die Vermittlung des hierfür benötigten „Handwerkszeugs“ (siehe bspw. die so genannte Fünf-Finger-Taktik) sind in diesem Sinne nur ein Teilbereich der von Skills for Action durchgeführten Aktionstrainings. Grundsätzlich geht es vor allem um die Auseinandersetzung mit „aktionsübergreifenden Herangehensweisen“ (SfA 2013: 12) und Konzepten wie „Selbstermächtigung, Partizipation, Basisdemokratie, Autonomie und Emanzipation“ (ebd.). Dementsprechend wird seitens des Netzwerks ausdrücklich darauf hingewiesen, dass unabhängig von der Veranstaltungsart – seien es nun Basistrainings, erweiterte Basistrainings oder Aufbautrainings – das Modul zur „Entscheidungsfindung und Konsens“ einen unverzichtbaren Bestandteil der jeweiligen Trainings- und Workshopformate darstellt und gerade in den Aufbautrainings vertiefend zu behandeln ist (vgl. ebd.: 77 oder 39). Damit knüpft man konzeptionell durchaus an die Aktionstrainings der Dritte-Welt- oder Anti-Atomkraft-Bewegung an. So stellte Uwe Painke schon 1997 hinsichtlich der Ausrichtung und Struktur dieser gewaltfreien Aktionstrainings fest: „Ein […] wichtiger Bereich ist die Einübung in basisdemokratische Entscheidungsformen. Auf fast allen Trainings in Gewaltfreiheit werden die Entscheidungen der Gruppe mit Hilfe des Konsensverfahrens erzielt“ (Painke 1997: 167–68).Footnote 17

Je nach Ausgestaltung und zeitlicher Rahmensetzung soll das Modul zur „Entscheidungsfindung und Konsens“ einen Überblick über die wesentlichen Elemente der Basisdemokratie geben. Anhand von verschiedenen Szenarien werden Entscheidungsfindungen im Konsens simuliert und im Nachgang gemeinsam mit dem Trainer*innenteam ausgewertet. Die Zielsetzung wird seitens des Netzwerks wie folgt beschrieben: „Immer wieder sind Teilnehmende (TN) in einem Training dabei, die nur Mehrheitsabstimmungen kennen und zum ersten Mal etwas von Konsens hören. Gleichzeitig gibt es auch immer wieder TN, die negative Erfahrungen gemacht haben – meist mit schlecht oder gar nicht moderierten, unstrukturierten Konsensverfahren. Beiden bietet das Training die Chance, neue Erfahrungen zu machen“ (ebd.: 39). Die Moderation hat in diesem Bildungssetting vor allem die Aufgabe, „Gespräche zu strukturieren, Zwischenergebnisse zusammenzufassen, Verfahrensweisen vorzuschlagen […] [sowie] Lösungen und Konsensvorschläge herauszuarbeiten“ (ebd. 42). Auffällig ist mit Blick auf die Modulkonzeption, dass neben der detaillierten Skizzierung der unterschiedlichen KonsensstufenFootnote 18 und eventuell auftretender Probleme bei der Konsensfindung ebenso auf Möglichkeiten der Zufallsentscheidung (bspw. durch Münzwurf) und Mehrheitsentscheidung (in „besonderen Situationen“) hingewiesen wird. Die in den Trainings angewandten Methoden bestehen aus „sprachlichen und visuellen Inputs, Kleingruppenarbeit, körperlichen Übungen und Rollenspielen“ (ebd.: 12). Die Schwachstellen und Konfliktfelder des auf Konsens ausgelegten Entscheidungsverfahrens werden in der Regel nur am Rande erwähnt. Dies ist gerade vor dem Hintergrund des oben skizzierten Fallbeispiels (Weltsozialforum) und den immer wieder aufkeimenden bewegungsinternen Diskussionen um informelle Eliten, verdeckte Machtstrukturen, interessengeleitete Blockaden (Veto-Recht) und intransparente Abstimmungsprozesse durchaus verwunderlich. Obgleich betont wird, dass Konsensfindung oftmals ein „zeitintensiver und manchmal holpriger Prozess“ (SfA 2013: 42) sei, findet eine (selbst-)kritische, demokratietheoretische Auseinandersetzung mit dem konsensorientierten Demokratiemodell nur selten statt. Es überwiegt in der Vermittlung ein idealisiertes Bild der Basisdemokratie und des Konsensprinzips. Inwieweit dies auch auf die politische Bildungsarbeit und die Materialien des Attac-Netzwerks, als wohl „bekannteste[n] Akteur der globalisierungskritischen Bewegung“ (Knothe 2009: 15) in Deutschland, zutrifft, soll in den folgenden Abschnitten näher untersucht werden.

5.2 Das Attac-Netzwerk: Ursprung, Akteure, Zusammensetzung

5.2.1 Entstehungsgeschichte des Netzwerks

Die Entstehungsgeschichte des weltweiten Attac-Netzwerks ist eng verknüpft mit einem Leitartikel von Ignacio Ramonet, der im September 1997 in der französischen Zeitung Le Monde diplomatique unter dem Titel „Désarmer les marchés“ (dt. „Die Märkte entschärfen“) erschien. Unter dem Eindruck der sich rasant ausbreitenden Finanzkrise in Asien, prangerte Ramonet darin u. a. die ungezügelte „Globalisierung des Finanzkapitals“ (Ramonet 1997: 1), die Aushebelung nationalstaatlicher Regulierungsmechanismen und die enorme Machtposition von Großkonzernen und Institutionen wie IWF, WTO und OECD an. Darüber hinaus vertrat er die Auffassung, dass die „völlig freie Kapitalzirkulation“ (ebd.) letztlich die Demokratie untergrabe und als Folge dessen eine angemessene Besteuerung der Finanzeinkünfte, welches er als eine „demokratische Minimalforderung“ (ebd.) bezeichnete, kaum mehr stattfände. Eine „Entwaffnung der Finanzmärkte“ (ebd.) sei daher, so Ramonet, dringend erforderlich; letztlich müsse den „zerstörerischen Kapitalbewegungen Sand ins Getriebe“ (ebd.) gestreut werden. Zur Erreichung dieser Zielvorstellungen schlug der damalige Chefredakteur von Le Monde diplomatique vor, die so genannten Steueroasen zu schließen und eine „höhere Besteuerung von Kapitaleinkünften sowie […] eine allgemeine Besteuerung der Finanztransaktionen“ (ebd.) einzuführen. In diesem Kontext verwies Ramonet auf die Idee der Tobin-Steuer, die vom US-amerikanischen Ökonomen James Tobin bereits 1972 vorgeschlagen wurde. Durch die Einführung dieser Devisentransaktionssteuer sollte der Finanzmarkt beruhigt und zugleich Steuereinnahmen generiert werden. Um diese „Solidaritätssteuer“ (ebd.) weltweit durchsetzen zu können, empfahl Ramonet die Gründung einer regierungsunabhängigen Organisation mit dem Namen „Action pour une taxe Tobin d’aide aux citoyens“ (abgekürzt: Attac), die als eine „gigantische Pressure-group der Zivilgesellschaft“ (ebd.) fungieren sollte. Aufgrund der weltweiten Verbreitung der Zeitschrift fand der Beitrag Ramonets eine internationale Leserschaft und wurde in insgesamt acht Sprachen übersetzt.

Die Resonanz auf den Leitartikel war derart groß – Eskola und Kolb sprachen gar von einer „Flut an Leserbriefen“ (Eskola/Kolb 2002b: 158) –, dass die Redaktion von Le Monde diplomatique sich schließlich dazu entschloss, die skizzierte Idee ihres Chefredakteurs aufzugreifen und die von ihm ins Spiel gebrachte Gründung von „Attac“ weiter voranzutreiben.Footnote 19 Bereits im März 1998 wurde ein erstes Sondierungstreffen zwischen „Diplo-Journalisten [gemeint sind hier Mitarbeiter*innen von Le Monde diplomatique; Anm. B. A.], Vertretern anderer Publikationen, gewerkschaftlichen Strukturen und Basisinitiativen“ (Schmid 2001: 48) anberaumt. Innerhalb weniger Monate entwickelte die Gruppe einen „Vorschlag für die Ziele und das Statut von Attac“ (ebd.). Zusammen mit einer entsprechenden Erklärung wurde diese dann am 3. Juni 1998 im Rahmen einer offiziellen Gründungsversammlung verabschiedet. Die Vereinigung erhielt den offiziellen Namen „association pour une taxation des transactions financières pour l’aide aux citoyens“Footnote 20 – der explizite Bezug Ramonets zur „taxe Tobin“ (Tobin-Steuer), welcher im ursprünglichen Namensvorschlag noch vorhanden war, fand folglich keinen Zuspruch (vgl. hierzu auch Strobel 2011: 85). Schon im Dezember desselben Jahres „konstituierte sich bei einem international besetzten Treffen in Paris das transnationale Attac-Netzwerk“ (Sander 2016: 8).Footnote 21

Der deutsche Ableger von Attac entstand maßgeblich auf Initiative von Kairos Europa und WEED, die die französische Idee 1999 aufgriffen und Vorgespräche mit einzelnen Akteuren führten.Footnote 22 Ein erstes, eher informelles Treffen verschiedener Vertreter*innen entwicklungspolitischer Organisationen fand am 14. September 1999 in Frankfurt am Main statt und legte gewissermaßen den Grundstein für den weiteren Formierungsprozess. Gegründet wurde Attac-Deutschland schließlich am 22. Januar 2000 von Vertreter*innen von WEED, Pax Christi, Germanwatch, BUND, Kairos Europa u. a. im Bürgertreff Bockenheim in Frankfurt am MainFootnote 23 – insgesamt nahmen an diesem ersten „Ratschlag“ etwa 100 MenschenFootnote 24 teil, darunter auch Vertreter*innen von Attac-Frankreich (vgl. u. a. Hoffstätter/Hersel 2004: 14 oder Wahl 2009: 45).Footnote 25 Anfänglich firmierte der Zusammenschluss noch unter dem Namen „Netzwerk zur demokratischen Kontrolle der internationalen Finanzmärkte“. Erst einige Zeit später, nämlich im November 2000, erfolgte dann die offizielle Umbenennung in „Attac Deutschland“ und der formale Anschluss an das internationale Attac-Netzwerk (vgl. Hoffstätter/Hersel 2004: 15 und Strobel 2011: 132). Wie Felix Kolb darlegte, war beim Gründungstreffen in Frankfurt vorerst mehr an ein Netzwerk aus NGO und weniger an eine Mitgliederorganisation gedacht worden (vgl. Kolb 2006: 80); erst später verfestigte sich der Gedanke der heutigen Attac-Mitgliederstruktur.Footnote 26 Der Sitz des Attac-Büros war zunächst im niedersächsischen Verden, im dortigen Ökozentrum. Als Rechtsträger des Netzwerks fungierte der ebenfalls dort ansässige Verein „Share – Aktion für gerechte Ökonomie“ (Share e. V.), der am 1. Oktober 2000 u. a. von Sven Giegold, Felix Kolb und Christoph Bautz gegründet worden war.Footnote 27 Auf Antrag des Attac-Koordinierungskreises zum Ratschlag des Netzwerks in Aachen wurde 2003 die Idee zur Gründung eines eigenen Trägervereins weiter vorangetrieben und im gleichen Jahr auch realisiert.Footnote 28 Insofern ist das deutsche Attac-Netzwerk formal gesehen erst seit dieser Umstellung der Rechtsträgerschaft ein Projekt des „Attac-Trägervereins e. V.“ (vgl. Attac-D 2018a oder Attac-D 2019a).

Diesem Gründungsprozess vorausgegangen waren intensive Debatten über den Organisationstyp und die Struktur von Attac. Vor allem die ungeklärten Strukturfragen führten in den Anfangsjahren immer wieder zu Diskussionen und Spannungen zwischen den Attac-Mitgliedern.Footnote 29 Sollte das Netzwerk festere Organisationsstrukturen aufbauen oder ein loser Zusammenschluss bleiben? War Attac als eine eigene Bewegung, eine NGO oder ein Bündnis zu verstehen?Footnote 30 Kann Attac als Netzwerk überhaupt einem Trägerverein untergeordnet werden? Felix Kolb notierte rückblickend:

„[Ich] erinnere mich an ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen Leuten, die Attac bewusst nur als Bühne angesehen haben und den Bündnischarakter bewahren wollten und zwischen Kräften, die Attac als eigenständige Organisation mit einer eigenen Ressourcenbasis aufbauen wollten. Zur zweiten Gruppe gehörten die Leute von Share [Hervorhebung im Original], die sich ohnehin von ihrem Traum verabschiedet hatten, ihre eigene Organisation aufzubauen. […] Zur Gruppe derjenigen, die sich durch eine begrenzte Begeisterung für die Idee einer eigenständigen Organisation auszeichneten, gehörten vor allem Vertreter anderer Organisationen – wie etwa Werner Rätz und auch Peter Wahl.“ (zit. n. Strobel 2011: 343)

Mit dem Beschluss des Ratschlags in Aachen, einen eigenen Trägerverein zu gründen, hatten sich schließlich jene Kräfte innerhalb des Netzwerks durchgesetzt, die Attac mehr als Organisation denn als losen Zusammenschluss verstanden. Ferner wurden im Zuge des Aachener Ratschlags auch die Leitlinien und Kernaufgaben des zu gründenden Trägervereins definiert:

„Der Verein erkennt den Netzwerk- und Bewegungscharakter, die demokratischen Entscheidungsstrukturen, das Konsensprinzip und die politische Pluralität als unteilbares Selbstverständnis des Netzwerkes Attac-Deutschland an und macht es sich zur Aufgabe, diese für die Lebendigkeit und politische Funktionsfähigkeit des Netzwerks zentralen Elemente zu unterstützen und zu erhalten. In dieser Funktion begreift sich der Attac-Trägerverein als Teil der globalisierungskritischen Bewegung.“ (Ratsbeschluss, zit. n. Attac-D 2009a)

Die Gründung sowie der spätere Erfolg des Netzwerks waren, nach Barbara Unmüßig, bis Dezember 2001 Vorsitzende von WEED, einem günstigen historischen Augenblick geschuldet. „Es bestand“, so Unmüßig in ihrer Rede auf dem ersten deutschen Attac-Kongress 2001, „ein historischer Bedarf nach einem neuen Projekt, das unterschiedliche Stränge der Globalisierungskritik zusammenfasst und bündelt, das das Bedürfnis nach einer umfassenden Alternative artikuliert“ (Unmüßig 2002: 19). Attac-Deutschland schien in diesem Kontext für viele Globalisierungskritiker*innen wohl die geeignetste organisatorische Plattform zu sein und am besten diesen Wünschen gerecht zu werden. Anfänglich führte Attac-Deutschland jedoch eher ein Nischendasein und fand medial kaum Beachtung. „[S]eine Mitgliederzahlen und das öffentliche Interesse an dem neuen Akteur blieben [zunächst] gering“ (Sander 2016: 8), wie Hendrik Sander 2016 in einer Studie zur Zukunftsperspektive des Netzwerks konstatierte. An einen Erfolg des Projekts „Attac Deutschland“ war daher im Sommer 2001 kaum zu denken – das Netzwerk war „noch völlig bedeutungslos, auch was die Zahlen betrifft“ (Sabine Leidig 2007, zit. n. Strobel 2011: 293). Werner Rätz kommentierte die Gründungs- und Formierungsphase des Netzwerks vor einigen Jahren wie folgt:

„Beim ersten Treffen im Januar 2000 waren über Hundert Personen anwesend, aber die meisten waren altgediente Linke, kannten sich seit Jahren, oft Jahrzehnten und repräsentierten überwiegend NRO [Nichtregierungsorganisationen]. […] Beim zweiten Attac-Ratschlag […] waren es nur noch etwa achtzig Personen. […] Beim dritten Attac-Ratschlag im November in Frankfurt kamen gerade einmal fünfzig Menschen mit einem Altersdurchschnitt, der deutlich über ihrer Anzahl lag. Zwar entstanden ein paar lokale Gruppen, aber im Frühjahr 2001 haben wir ernsthaft überlegt, ob das Projekt überhaupt noch eine Zukunft hat. […] Unsere Mobilisierung zum G8-Gipfel nach Genua machte mal gerade einen halben Bus vollFootnote 31, so dass wir ihn uns mit ein paar Journalisten teilten. Am 20. Juli 2001 hatte Attac Deutschland keine Dreihundert Personen als Mitglieder und knapp Hundert Organisationen.“ (Rätz 2010: 26)

Nach den gewaltsamen Ausschreitungen am Rande des G8-Gipfels in Genua sollte sich auch die öffentliche Wahrnehmung der globalisierungskritischen Bewegung in Deutschland grundlegend ändern. Wie kaum eine andere Organisation profitierte speziell Attac von dem medialen Interesse, das um dieses Ereignis und die darin involvierten Akteure entstand. Einer der wesentlichen Gründe hierfür war vor allem die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit von Attac. So boten sich Vertreter*innen des Netzwerks „den Medien erfolgreich als sprechfähiger Repräsentant der globalisierungskritischen Bewegung an, nach dem die Journalisten ihrerseits gesucht hatten“ (Sander 2016: 8). Als vorteilhaft erwiesen sich in diesem Kontext die bereits im Zuge der Anreise aufgebauten Pressekontakte sowie die von Attac herausgegebenen Informationen und Stellungnahmen (vgl. Rätz 2010: 27). Gerade das Angebot an Journalist*innen, gemeinsam im Attac-Bus nach Genua zu reisen, erwies sich im weiteren Verlauf als entscheidender Faktor für den medialen Durchbruch von Attac-Deutschland.Footnote 32 Christian Strobel notiert hierzu:

„Etwa 15 Reporter hatten dieses Angebot akzeptiert, unten ihnen Vertreter der Süddeutschen Zeitung [Hervorhebung im Original] und des Spiegel [Hervorhebung im Original]. Sie und ihre Kollegen konnten einen täglich erscheinenden E-Mail-Newsletter abonnieren, mit dessen Hilfe Attac detaillierte Informationen zum Geschehen und Hintergrundberichte zu verbreiten versuchte. Darüber hinaus konnten sich die Journalisten in einen SMS-Verteiler aufnehmen lassen, der sie mittels Mobiltelefone regelmäßig über die genauen Zeiten und Orte geplanter Demonstrationen und Protestaktionen unterrichtete.“ (Strobel 2011: 139)

Die bis dato eher unscheinbare, „kleine Gruppe [gemeint ist hier Attac-Deutschland; Anm. B. A.] wurde zum Zentrum ausgerufen“ (Bergstedt 2010: 93) und alsbald – gewollt oder nicht – zum „Meinungsführer“ (ebd.) der gesamten Bewegung bzw. zum „deutsche[n] Sprachrohr der Globalisierungskritiker“ (Strobel 2011: 139) stilisiert. Wie Katharina Koufen und Ulrike Winkelmann in einem taz-Beitrag ein Jahr nach dem G8-Gipfel 2001 anmerkten, stand Attac seit den Genua-Protesten „[s]o wie Tesa für Klebeband […] für Globalisierungskritik, zumal in Deutschland“ (Koufen/Winkelmann 2002). Das globalisierungskritische Netzwerk schaffte es binnen kürzester Zeit, sich als zentraler Ansprechpartner gegenüber den Medien zu positionieren, so dass in regelmäßigen Abständen über aktuelle Kampagnen und Forderungen Attacs berichtet wurde.Footnote 33 Dies belegt auch eine exemplarische Analyse von Felix Kolb, in der der einstige Pressesprecher des Netzwerks die Berichterstattung über die Aktivitäten von Attac-Deutschland in der taz näher untersuchte. Danach war das mediale Interesse am globalisierungskritischen Netzwerk vor den Protesten in Genua äußerst gering. „Attac“, so Kolb, „wurde weder von Journalisten noch von Politikern eine inhaltliche Kompetenz zugestanden“ (Kolb 2003). Dies änderte sich dann abrupt Mitte 2001; was sich auch an der Anzahl an Berichten über Attac belegen lässt. Während im Jahr 2000 das Medieninteresse mit insgesamt neun Beiträgen eher spärlich ausfiel, waren 2001 bereits 78 und in der Gesamtbetrachtung des Jahres 2002 sogar 126 Berichte über Attac in der taz zu verzeichnen. Nach Kolb war dies u. a. auf die Professionalisierung der Attac-Pressearbeit in den Monaten zuvor zurückzuführen: „Innerhalb des […] Büro-Teams wurde ein Pressesprecher bestimmt; zudem wurden zwei Mitglieder des Koordinierungskreises als ständige Ansprechpartner benannt. Ihre Tätigkeit bestand in der Unterstützung der Arbeit des Sprechers und in der Autorisierung von Pressemeldungen“ (ebd.). Von besonderer, wenn nicht gar entscheidender Bedeutung war in dieser Konstituierungsphase und im Prozess der Neuausrichtung der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit aber vor allem die Möglichkeit „in teils erheblichem Umfang auf die finanziellen, personellen und inhaltlichen Ressourcen [der jeweiligen] […] Mitgliederorganisationen zurückgreifen [zu können]“ (Eskola/Kolb 2002c: 29).

Der rasante Aufstieg von Attac-Deutschland in Folge der Genua-Proteste spiegelte sich auch in der Entwicklung der Mitgliederzahlen wider: Bis Ende Dezember 2001 stieg die Zahl der Attac-Mitglieder „auf ca. 3.900, bis Anfang Juni 2002 auf ca. 6.900 und bis Mitte November 2002 auf ca. 10.200 an“ (Attac-Deutschland, zit. n. Rotte 2003) – Anfang 2003 hatten sich schließlich sogar 12.000 Menschen Attac angeschlossen (vgl. Sander 2016: 8). Alleine im Zeitraum zwischen den Gipfelprotesten in Genua (Juli 2001) und dem ersten bundesweiten Kongress von Attac-Deutschland in Berlin (Oktober 2001) verfünffachten sich die Mitgliederzahlen des globalisierungskritischen Netzwerks (vgl. Unmüßig 2002: 18). Angesichts des enormen Mitgliederwachstums, der zunehmenden strukturellen Herausforderungen und der damit einhergehenden Mehrarbeit wurde zum Ende des Jahres 2002 das vormals überwiegend ehrenamtlich geführte Attac-Büro von Verden nach Frankfurt am Main verlegt und zunehmend mit hauptamtlichem Personal ausgestattet. Nach Sabine Leidig, von 2002 bis 2009 Geschäftsführerin des Attac-Bundesbüros, war der Umzug sowie der Aufbau einer festen hauptamtlichen Personalstruktur u. a. aber auch dem Umstand geschuldet, dass im Verdener Büro „durch große Fluktuation und durch unklare Zuständigkeiten ein ziemliches Chaos entstanden [war] – sowohl was den Haushalt […] als auch was die Daten der Mitglieder und damit die Kommunikation mit den Mitgliedern […] [betraf]“ (zit. n. Schröder 2011: 293).Footnote 34 Vornehmliches Ziel war es daher, bestimmte Bereiche professionell zu unterstützen und feste Organisationsstrukturen mit klar definierten Aufgabenbereichen zu installieren.

Der durch Genua entstandene „Medienhype“ (vgl. hierzu bspw. Hoffstätter/Hersel 2004: 16) um Attac und das enorme öffentliche Interesse an der globalisierungskritischen Bewegung führten wenige Monate nach dem G8-Gipfel in Italien zu einem regelrechten Ansturm auf den ersten deutschen Attac-Kongress, der vom 19. bis 21. Oktober im Audimax der TU Berlin unter dem Titel „Globalisierung ist kein Schicksal. Eine andere Welt ist möglich!“ stattfand. Insgesamt nahmen an den 90 Workshops sowie den großen Plenumsveranstaltungen über 2.500 Menschen teil (vgl. Hofstätter/Hersel 2004: 17 oder Wahl 2002c: 7).Footnote 35 Neben Susan George, Bernard Cassen, Jean Ziegler und Horst Eberhard Richter waren ebenfalls Daniel Cohn-Bendit und Oskar Lafontaine als Referenten geladen. Für Attac-Deutschland wurde der Kongress zu einem enormen Erfolg und führte in dessen Folge zu einem weiteren Mitgliederzuwachs – auch bedingt durch das große öffentlich-mediale Interesse an der Veranstaltung.Footnote 36 Für viele Globalisierungskritiker*innen avancierte das Netzwerk zu einem Gravitationszentrum und Katalysator der gesamten Bewegung. Nach Ansicht von Hendrik Sander fungierte Attac in den ersten Jahren nach seiner Gründung „in gewisser Weise als Dachorganisation globalisierungskritischer Initiativen und Institutionen und übernahm eine Scharnierfunktion zwischen Verbänden, Gewerkschaften, Bürgerinitiativen und radikaleren Bewegungen“ (Sander 2016: 5). „Vor allem für eine Generation von AktivistInnen, die oftmals in ihrer Jugend Erfahrungen in sozialen Bewegungen gesammelt […] [hatten] und nach der Berufs- und Familienphase wieder ein politisches Betätigungsfeld […] [suchten]“, so Sander weiter, wurde „das Netzwerk zur politischen Heimat“ (ebd.). Attac bot für viele Globalisierungskritiker*innen einen lange ersehnten Ort des Austauschs und der Vernetzung. Durch die „Mischung aus einer breiten, vielfältigen Basis und handlungsfähigen bundesweiten Strukturen“ (Bergstedt 2010: 94) vermittelte das Netzwerk sowohl Stabilität als auch Dynamik. Vorteilhaft war hier zudem die basisdemokratische Struktur. Denn bis dato „waren die meisten politischen Verbände und Gruppen hierarchisch aufgebaut, in der Regel klassisch, das heißt repräsentativ-demokratisch“ (ebd.: 95), wie Jörg Bergstedt betont. Attac hingegen sah sich, gerade in der Anfangszeit, vielmehr als „Organisation neuen Typs“ (Bergstedt 2004: 29) – basierend auf einer Struktur, die sowohl einem offenen Netzwerk glich als auch über eine „handlungsfähige Zentrale“ (ebd.: 30) verfügte.

Nach den Ereignissen von Genua konnte sich Attac-Deutschland erfolgreich als zentraler Akteur der globalisierungskritischen Bewegung etablieren und über die anfängliche „Boom-Phase“ (u. a. geprägt von Mitgliederzuwächsen und einem großen medialen Interesse) behaupten. Höhepunkte der eigenen Kampagnen- und Öffentlichkeitsarbeit waren in den Folgejahren vor allem die Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 und den G20-Gipfel in Hamburg 2017 sowie die Mobilisierung gegen die Freihandelsabkommen TTIP, CETA und TISA. Doch wie bspw. Hendrik Sander in seiner Untersuchung zur „Zukunft von Attac“ 2016 festhielt, scheint sich das Attac-Netzwerk mittlerweile zusehends in einer „grundlegenden Krise“ (Sander 2016: 13) zu befinden und „seine Rolle als Kristallisationspunkt von Protestbewegungen“ (ebd.: 5) verloren zu haben. Ein nicht namentlich genanntes Attac-Mitglied führte hierzu gegenüber Sander z. B. aus: „Meines Erachtens befindet sich die Organisation in einer großen Krise, weil klar ist, dass sie mit […] einem Gründungsmythos […] groß geworden ist, den sie jetzt nicht mehr halten kann, seit die Gründerväter ausgestiegen sind […] und auch […], seit wir [gemeint ist hier Attac-Deutschland; Anm. B. A.] die Mühen der Ebene erreicht haben, diese Anfangsinitiative und -begeisterung weg ist“ (zit. n. Sander 2016: 14). Wichtige Initiativen und innovative Kampagnen, so zumindest die Kommentare von einigen Attac-Mitgliedern, die in Sanders Analysen einbezogen wurden, seien in der jüngsten Vergangenheit eher von anderen Organisationen und Initiativen initiiert worden (siehe z. B. Campact). Zudem leide das Netzwerk an strukturellen Problemen: Der „Kreis von Aktiven auf der Bundesebene [werde] in der Tendenz kleiner und schwächer“ (Sander 2016: 16); und hinzu käme noch das hohe Durchschnittsalter vieler Funktionsträger*innen – nach einer Umfrage des Attac-Bundesbüros waren 2014 „in mehr als der Hälfte der Lokalgruppen keine unter 30-Jährigen [mehr] aktiv“ (Sander 2016: 18).Footnote 37 Sander stellt ferner fest: „Die Aufbruchstimmung der Anfangsjahre ist vorbei. Inzwischen gilt das globalisierungskritische Netzwerk als etablierter Akteur, der die Attraktivität des Neuen verloren hat“ (Sander 2016: 18). Der Bewegungsforscher Dieter Rucht, einst selbst Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat von Attac-Deutschland, kommt zu einer ähnlichen Schlussfolgerung. Mit Blick auf den Zustand des Netzwerks stellte er 2018 fest: „[Die Organisation Attac] ist nicht tot und geht auch nicht unter, aber sie dümpelt vor sich hin. […] Es gibt keinen Mitgliederzuwachs, die Finanzen stagnieren, und die Präsenz aus der Frühphase ist geschwunden. Auch in anderen Ländern ist Attac im Rückgang“ (zit. n. Anzlinger 2018).

Ungeachtet dieser kritischen Stimmen und den drängenden strukturellen Herausforderungen, vor denen das Netzwerk steht, ist Attac-Deutschland nach wie vor eine der zentralen Institutionen der globalisierungskritischen Bewegung in Deutschland. Dies haben z. B. auch die Proteste gegen TTIP, CETA oder den G20-Gipfel in Hamburg gezeigt, in dessen Kontext Attac eine zentrale Rolle einnahm. Zwar ist die Anzahl der Fördermitglieder in den letzten Jahren nicht wesentlich gestiegen, nichtsdestotrotz blieb sie auf konstant hohem Niveau: Im Jahre 2019 waren immer noch über 29.000 Personen Mitglied bei Attac-Deutschland (vgl. Attac-D 2019b). Die Bedeutung des Netzwerks, auch über das globalisierungskritische Spektrum hinaus, zeigte sich ebenfalls im Verlauf des Entzugs der Gemeinnützigkeit. So hatte das Finanzamt in Frankfurt am Main 2014 entschieden, dem Attac-Trägerverein die Gemeinnützigkeit abzuerkennen. Das Finanzamt begründete seine Entscheidung damit, dass Attac vorwiegend politische Ziele und nach Abgabenordnung nicht einen gemeinnützigen Zweck (hier bezugnehmend auf den satzungsgemäßen Zweck der Volksbildung) verfolge – als Beispiel hierfür wurde u. a. die Attacademie aufgeführt (vgl. Attac-D 2014c: 2). Nachdem im November 2016 das Hessische Finanzgericht einer Klage von Attac-Deutschland gegen den vorgenommenen Entzug der Gemeinnützigkeit zunächst statt gab, wies das Bundesfinanzministerium das Frankfurter Finanzamt an, beim Münchner Bundesfinanzhof (BFH) eine Nichtzulassungsbeschwerde einzureichen – dem dieses letztlich auch nachkam. Im Februar 2019 sprach das BFH sein Urteil und verwies das Verfahren zurück an das Hessische Finanzgericht mit der Begründung, dass dieses in seiner einstigen Entscheidung „die Begriffe der Volksbildung in § 52 Abs. 2 Nr. 7 AO und des demokratischen Staatswesens in § 52 Abs. 2 Nr. 24 AO verkannt“ (BFH 2019) habe. Für breites öffentliches Aufsehen sorgten vor allem aber die im Urteil aufgeführten Leitsätze. Demnach habe sich u. a. die Einflussnahme bei der „Förderung der Volksbildung i. S. von § 52 Abs. 2 Nr. 7 AO […] auf die politische Willensbildung und Gestaltung der öffentlichen Meinung auf bildungspolitische Fragestellungen zu beschränken“ (ebd.) und die politische Bildungsarbeit in „geistiger Offenheit“ (ebd.) zu vollziehen. Somit wäre Letzteres, nach Begründung des BFH, „nicht förderbar, wenn sie eingesetzt […] [werde], um die politische Willensbildung und die öffentliche Meinung im Sinne eigener Auffassungen zu beeinflussen“ (ebd.).

Von zahlreichen Akteuren der Politischen Bildung, so z. B. auch vom „Forum kritische politische Bildung“ (FKPB), wurde das Urteil des BFH scharf kritisiert. Das FKPB gab in der Folge eine Stellungnahme heraus, die die wesentlichen Kritikpunkte zusammenfasste und die weitreichende Bedeutung des Urteils für die politische Bildungsarbeit hervorhob. Vom Forum wurde und wird das Urteil vor allem aufgrund zweierlei Aspekte als problematisch angesehen: „[E]rstens mit Blick auf das Verständnis von politischer Bildung und zweitens hinsichtlich seiner Auffassung der demokratischen Zivilgesellschaft“ (FKPB 2019). In der Stellungnahme heißt es hierzu:

„Der BFH greift damit [gemeint ist hier das oben bereits erwähnte Urteil; Anm. B. A.] nicht nur schwerwiegend in die plurale Trägerstruktur ein, sondern auch in das Grundverständnis politischer Bildungsarbeit. Wenn sie die politische Willensbildung und die öffentliche Meinung nicht beeinflussen soll, wird der Grundgedanke politischer Bildungsarbeit in einer Demokratie ad absurdum geführt. Denn staatliche und zivilgesellschaftliche politische Bildungsarbeit sollen ja gerade für das Gemeinwesen wirksam werden. […] Gesellschaftliche Kontroversen werden heute zu einem erheblichen Teil von Initiativen, Verbänden und Vereinen geprägt. Sie sind Teil einer pluralistischen und emanzipatorischen Zivilgesellschaft. Der Bildungsarbeit dieser Organisationen die geistige Offenheit abzuerkennen, weil sie die bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse nicht stützt, sondern kritisch hinterfragt und verändern will, delegitimiert die für unsere Gesellschaft so bedeutsame politische Zivilgesellschaft.“ (ebd.)

Im Zuge der juristischen Auseinandersetzung, die bis heute andauert und eine breite Welle der Solidarität mit Attac-Deutschland zur Folge hatte, gründete sich die „Allianz Rechtssicherheit für politische Willensbildung“, die aus etwa 200 Mitgliedsorganisationen besteht (darunter u. a. Brot für die Welt, Greenpeace, Oxfam oder medico international) und das Ziel verfolgt, „die Gemeinnützigkeit für Organisationen der Zivilgesellschaft, die Beiträge zur politischen Willensbildung leisten“ (Allianz 2022), langfristig zu sichern. Denn mittlerweile waren auch andere Organisationen aufgrund des Attac-Urteils in den Fokus der Finanzämter geraten und hatten ihre Gemeinnützigkeit verloren (wie z. B. Campact). Attac selbst verzeichnete im Zuge der Debatte neben einem erhöhten Spendenaufkommen auch einen deutlichen Mitgliederzuwachs (vgl. Attac-D 2019l: 3). Da der BFH im Januar 2021 eine Revision zurückgewiesen hatte, wurde vom Attac-Netzwerk schließlich eine Verfassungsbeschwerde gegen den Entzug der Gemeinnützigkeit eingereicht (vgl. Attac-D 2021f).

Das Attac-Urteil des BFH nahm das Bundesfinanzministerium in Folge zum Anlass, eine Änderung der Abgabenordnung einzuleiten und am 12. Januar 2022 einen neuen Anwendungserlass in Kraft zu setzen. Darin wurden veränderte Kriterien für die Anerkennung der Gemeinnützigkeit festgelegt und in Bezugnahme auf das Attac-Urteil die „geistige Offenheit“ der Politischen Bildung wie folgt definiert:

„Eine steuerbegünstigte allgemeine Förderung des demokratischen Staatswesens ist nur dann gegeben, wenn sich die Körperschaft umfassend mit den demokratischen Grundprinzipien befasst und diese objektiv und neutral würdigt […]. Ist hingegen Zweck der Körperschaft die politische Bildung, der es auf der Grundlage der Normen und Vorstellungen einer rechtsstaatlichen Demokratie um die Schaffung und Förderung politischer Wahrnehmungsfähigkeit und politischen Verantwortungsbewusstseins in geistiger Offenheit geht, liegt Volksbildung vor. Diese muss nicht nur in theoretischer Unterweisung bestehen, sie kann auch durch den Aufruf zu konkreter Handlung ergänzt werden. Politische Bildung ist nicht förderbar, wenn sie eingesetzt wird, um die politische Willensbildung und die öffentliche Meinung im Sinne eigener Auffassungen zu beeinflussen, z. B. durch einseitige Agitation oder unkritische Indoktrination […].“ (BMF 2022b)

Bei vielen Trägern der Politischen Bildung löste der neue Anwendungserlass Verunsicherung aus, da die Anerkennung der Gemeinnützigkeit u. a. auch die Voraussetzung für die Akquise von Fördermitteln ist.Footnote 38 In einer von Julika Bürgin durchgeführten Online-Befragung über die Plattform LimeSurvey gaben nur „knapp die Hälfe der befragten Träger, die aktuell als gemeinnützig anerkannt sind […], [an,] keine Befürchtungen [zu haben], die Gemeinnützigkeit zu verlieren“ (Bürgin 2022a: 1). Ferner gingen sogar „ein Drittel der Befragten […] davon aus, dass das zuständige Finanzamt eine politische Positionierung des Trägers und seiner Bildungsarbeit als fehlende ‚geistige Offenheit‘ oder als ‚einseitige Agitation oder unkritische Indoktrination‘ bewerten könnte“ (ebd.). Auch wenn die Befragung von Bürgin keine generalisierende Aussage über die Stimmungslage bei den Trägern der Politischen Bildung in Deutschland zulässt,Footnote 39 zeigen die Ergebnisse dennoch die Sorgen und Befürchtungen, die das Attac-Urteil und der nachfolgend veröffentliche Anwendungserlass zur Abgabenordnung in der politischen Bildungslandschaft ausgelöst haben.

5.2.2 Organisationsstruktur von Attac-Deutschland

Die Struktur von Attac-Deutschland zeichnete sich schon in der Konstituierungsphase des Netzwerks durch eine hohe Flexibilität und Offenheit, aber auch eine gewisse Ambiguität und Undurchsichtigkeit aus. Vielfach war in diesem Kontext die Rede von einem „neuen Organisationstyp“ (siehe bspw. Altvater/Brunnengräber 2002: 14), der eine „Mischung aus bewegungsübergreifendem Bündnis und lokal verankerter Mitgliederorganisation“ (Grefe 2005: 372)Footnote 40 sei und organisationstypisch nicht eindeutig zu verorten wäre. Hendrik Sander bezeichnet die Organisationsstruktur von Attac-Deutschland als „Hybrid zwischen NGO, sozialer Bewegung und Netzwerk“ (Sander 2016: 9). Letztere Einordnung deckt sich auch mit dem Selbstverständnis von Attac. So wird im Leitfaden für Ortsgruppen aus dem Jahre 2019 Attac-Deutschland als „ein Organisationstyp zwischen Netzwerk, NGO […] und Bewegung“ (Attac-D 2019d: 9) beschrieben. Einige Jahre zuvor war bereits einem Selbstverständnispapier zu entnehmen, dass das Projekt „Attac“ die Vorzüge verschiedener Organisationstypen miteinander verknüpfe, deren Nachteile jedoch vermeide; d. h. die „Flexibilität und Offenheit von Netzwerkstrukturen, ohne deren Unverbindlichkeit, mit dem machtpolitischen Gewicht von sozialen Bewegungen ohne deren Instabilität, und der Kompetenz, Stabilität und Verbindlichkeit von NGOs und Verbänden ohne deren Abhängigkeiten und Bürokratisierungstendenzen“ (Attac-D 2001/2006). Die Bewegungsforscher Dieter Rucht und Roland Roth konstatierten 2008 in ihrem Handbuch der sozialen Bewegungen in Deutschland: „In struktureller Hinsicht versteht sich Attac eher als Netzwerk und Bewegung denn als fest gefügte Organisation, obgleich es sich, im Zeitverlauf zunehmend deutlicher, doch um eine formal strukturierte Organisation mit Satzung, Gremien, geregelter Mitgliedschaft, einem Büro mit fest angestellten MitarbeiterInnen […] handelt“ (Roth/Rucht 2008a: 504). Dem einstigen Gründungsgedanken folgend versteht sich Attac-Deutschland selbst jedoch nach wie vor primär als ein „Netzwerk zur demokratischen Kontrolle der internationalen Finanzmärkte“ (vgl. Attac-D 2000) oder, wie Detlev von Larcher, einstiges Mitglied des Attac-Koordinierungskreises ergänzt, als ein „parteiübergreifendes außerparlamentarisches Netzwerk, das außerparlamentarische und überparteiliche politische Einflussnahme möglich macht“ (zit. n. JW 2009: 5).Footnote 41 Folglich wird auch in wissenschaftlichen oder journalistischen Beiträgen über Attac mehrheitlich der Terminus „Netzwerk“ und weniger die Begrifflichkeiten „Bewegung“ oder „NGO“ verwendet (vgl. z. B. Baus/von Wilamowitz-Moellendorff 2004: 26, Knothe 2009, Sander 2016, Voigts 2020 oder Kreutzfeldt 2020).

Auffällig ist mit Blick auf das Organisationsgefüge von Attac-Deutschland zunächst, dass mit dem „Wissenschaftlichen Beirat“Footnote 42 oder der „Bewegungsakademie“ Arbeitszusammenhänge bestehen, die formal unabhängig vom Netzwerk sind, aber dennoch eine wichtige Funktion in ihm einnehmen. Der Wissenschaftliche Beirat von Attac hat ausschließlich beratende Funktion und unterstützt das Attac-Netzwerk durch seine Expertise – er ist, nach dem 2019 beschlossenen Selbstverständnispapier, „ein ehrenamtliches Arbeits- und kein Repräsentationsgremium“ (WBAD 2019). Der Beirat wurde im April 2002 gegründet und besteht aus Wissenschaftler*innen sowie Fachexpert*innen ohne universitäre Anbindung (vgl. Attac-D 2002c oder Attac-D 2002d). Er ist gewissermaßen der Think-Tank des Netzwerks und soll eine „fundierte wissenschaftliche Begleitung und Beratung“ (Attac-D 2002d: 14; ähnlich auch WBAD 2019) gewährleisten. Zentrales Element des Wissenschaftlichen Beirats ist, wie Ulrich Brand schon 2006 betonte, „die Bildungsarbeit für Attac und andere Interessierte“ (Brand 2006: 8). Denn nur durch das Verständnis der ökonomischen Zusammenhänge könne man „die neoliberalen Erklärungsmuster und deren Hegemonie“ (Altvater o. J.) entschlüsseln und in Folge mittels einer ökonomischen Alphabetisierungskampagne Veränderungsprozesse initiieren. Im „Attac-Alltag [spielt der Wissenschaftliche Beirat]“, wie Sander darlegt, „[…] nur eine geringe Rolle und ist zu wenig handlungsfähig, um regelmäßig in öffentliche Diskurse zu intervenieren“ (Sander 2016: 35). Viele der Beiratsmitglieder wurden in der Vergangenheit in die Bildungsarbeit von Attac-Deutschland eingebunden, sei es als Referent*innen auf den Sommerakademien oder im Kontext von Veranstaltungen lokaler Attac-Gruppen. Dem Beirat gehörten 2020 noch über 90 Mitglieder an, darunter u. a. Christoph Butterwegge, Klaus Dörre, Rudolf Hickel oder Birgit Mahnkopf (vgl. Attac-D 2020o). Zurzeit befindet sich das Gremium nach eigenen Angaben in einer „Phase der Reorganisation“ (Attac-D 2022c), die „eine verbesserte Struktur und […] Erneuerung und Verjüngung“ (ebd.) zum Ziel hat.

Der im Verdener Ökozentrum ansässige und 2003 gegründete Verein „Bewegungsakademie“, um an dieser Stelle auch das zweitgenannte Beispiel aufzugreifen, führt in Kooperation mit Attac-Deutschland seit vielen Jahren die Attacademie durch, ohne jedoch formal mit dem Attac-Netzwerk oder dem Attac-Trägerverein verknüpft zu sein – obgleich schon 2006 die Bewegungsakademie von Personen getragen wurde, die zum damaligen Zeitpunkt „selbst in zahlreichen Kampagnen und Projekten, unter anderem bei Attac, engagiert [waren]“ (Janssen 2006: 8).Footnote 43 Die Bewegungsakademie begreift sich selbst als „unabhängiger Bildungsträger für soziale Bewegungen“ (Janssen 2006: 8). Daher ist ihr Bildungsangebot auch nicht auf Attac beschränkt. Bestes Beispiel hierfür ist das der Attacademie programmatisch durchaus ähnliche Weiterbildungsprogramm „Kurs Z“ (bis 2020 wurde dies noch unter dem Namen „Kurs ZukunftsPiloten“ beworben)Footnote 44 für Umweltengagierte, das in Kooperation mit dem Deutschen Naturschutzring umgesetzt wird.

Grundsätzlich können sowohl Organisationen, Initiativen und Gruppen als auch Einzelpersonen Mitglied des Attac-Netzwerks werden. Gerade in der Anfangszeit „machten viele Organisationen von dieser Möglichkeit Gebrauch“ (Sander 2016: 36). Ausgenommen von der Mitgliedschaft sind allerdings Parteien und deren lokale Untergliederungen – wozu allerdings nicht die jeweiligen Jugendorganisationen gezählt werden (siehe bspw. die Jusos oder Linksjugend [’solid]). Ferner ist es, zumindest theoretisch, auch Kommunen möglich, dem globalisierungskritischen Netzwerk beizutreten. Derzeit gehören Attac-Deutschland etwa 100 bundesweit arbeitende Mitgliedsorganisationen an. Das politische Interesse der Mitgliedsorganisationen an den Attac-Strukturen und am Netzwerk selbst hat jedoch, so Sander, in den letzten Jahren deutlich abgenommen: „Zwar sind die Beziehungen zwischen ihnen weiterhin eng und die formale Mitgliedschaft erleichtert manchmal anlassbezogene Kooperationen. […] Faktisch spielen die Organisationen im Attac-Alltag [aber] kaum noch eine Rolle“ (ebd.: 36).

Ein weiterer, wenn nicht gar wesentlicher Bestandteil der Attac-Struktur sind die jeweiligen Ortsgruppen. Die erste Attac-Ortsgruppe wurde im April 2000 in Hamburg gegründet – und dies noch vor der offiziellen Gründungsveranstaltung von Attac-Deutschland in Frankfurt am Main (vgl. Schaffert 2004b: 144). Im Jahre 2019 existierten innerhalb des Attac-Netzwerks noch ca. 160 Gruppen (vgl. Attac-D 2019f oder Attac-D 2019i).Footnote 45 Die Attac-Ortsgruppen bzw. Attac-Basisgruppe agieren weitgehend unabhängig von den zentralen Entscheidungsgremien des Netzwerks. Größere Ortsgruppen verfügen in der Regel über drei Organe: einen lokalen Koordinierungskreis (oftmals auch „Vorbereitungsgruppe“ genannt, da hier wichtige organisatorische Vorarbeiten für die turnusmäßigen Plenen geleistet werden), themenspezifische Arbeitsgruppen und ein Ortsgruppenplenum, welches als ein Debatten-, Austausch- und Entscheidungsgremium fungiert. Das Ortsgruppenplenum trifft sich für gewöhnlich ein- bis zweimal im Monat und wird nicht selten zur eigenen „inhaltliche[n] Weiterbildung in Form von Vorträgen, Diskussionsrunden, Thesenvorstellungen etc.“ (Attac-D 2019d: 11) genutzt. Dabei wird des Öfteren auf externe Fachreferent*innen aus dem Attac-Referent*innenpool zurückgegriffen. Dem eigenen Demokratie- und Aufklärungsanspruch folgend sind die Plenen für gewöhnlich auch für Nicht-Mitglieder zugänglich. Im Leitfaden für Attac-Gruppen heißt es hierzu: „Für die Mitarbeit in Attac ist es nicht entscheidend, ob jemand formales Attac-Mitglied ist [Hervorhebung im Original]. Die informelle Mitgliedschaft ergibt sich daraus, dass Aktive einfach kommen und mitmachen“ (Attac-D 2019d: 15). Der lokale Koordinierungskreis ist u. a. zuständig für die Außenvertretung, die Beantwortung von Anfragen oder etwa die Weiterleitung von Informationen von der Bundesebene (vgl. Attac-D 2019d: 12). Hinsichtlich der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, der inhaltlichen Analysen oder des Fundraisings werden die Ortsgruppen zusätzlich vom Bundesbüro unterstützt.

Das Bundesbüro von Attac-Deutschland war zunächst im niedersächsischen Verden, im dortigen Ökozentrum, angesiedelt; zum Jahreswechsel 2002/2003 erfolgte dann der Umzug nach Frankfurt am Main.Footnote 46 Kernziel war es, durch zentrale Strukturen und einen festen Mitarbeiterstamm „ehrenamtliches Engagement zu ermöglichen und zu befördern“ (Sander 2016: 34) sowie die lokalen Gruppen in ihrer Arbeit professionell zu unterstützen. Die Mainmetropole wurde seinerzeit vor allem aufgrund ihrer Symbolik als „Hauptstadt des Geldes“ gewählt. Das Attac-Bundesbüro ist u. a. zuständig für verwaltungstechnische Angelegenheiten (wie z. B. die Mitgliederverwaltung, Finanzbuchhaltung etc.), Presse- und Öffentlichkeitsarbeit (in enger Abstimmung mit der Presse-AG) und die „Gruppen- und Aktionsunterstützung“ (Leidig 2004b: 151). Es ist, wie Sabine Leidig einst betonte, „kein ‚Politbüro‘ und keine Entscheidungszentrale, sondern eher eine Schaltzentrale, die für Kommunikation, Verbindung und Verwaltung“ (Leidig 2004b: 150) zuständig ist. Somit erfüllt das Bundesbüro hauptsächlich „administrative und organisatorische Aufgaben“ (Attac-D 2019d: 51), wozu die rechtliche, aktionsspezifische Beratung von lokalen Gruppen ebenso gehört wie die Unterstützung bei Bildungsveranstaltungen (bspw. durch die Vermittlung von Referent*innen zu Podiumsdiskussionen, Vorträgen, Seminaren und Workshops oder die Bereitstellung zusätzlicher Bildungs- und InformationsmaterialienFootnote 47).

In den vergangenen Jahren haben sich im Zuge zahlreicher, durchaus intensiv geführter Strukturdebatten innerhalb des Attac-Netzwerks mehrere Entscheidungsgremien herausgebildet. Hierzu zählen der Attac-Ratschlag, der Attac-Koordinierungskreis (oft auch Ko-Kreis genannt) sowie der Attac-Rat. Deren jeweilige Zusammensetzung, Struktur und Funktion sollen nachfolgend nochmals ausführlicher skizziert werden.

Der Attac-Ratschlag trifft sich zwei Mal jährlich zum Frühjahrs- und Herbstratschlag. Die Treffen sind als öffentliche Vollversammlungen ausgelegt und dienen zum einen dem Erfahrungsaustausch (Frühjahrsratschlag), zum anderen der Beschlussfassung (Herbstratschlag).Footnote 48 Der Ratschlag ist das höchste Entscheidungsgremium des Netzwerks – hier werden die Mitglieder des Koordinierungskreises und des Attac-Rats gewählt, die zukünftigen inhaltlichen Arbeitsschwerpunkte festgelegt sowie z. B. auch der Attac-Haushalt beschlossen. Neben interessierten Personen aus den Attac-Mitgliedsorganisationen, Ortsgruppen und bundesweiten Arbeitszusammenhängen können am Ratschlag auch Nichtmitglieder teilnehmen. Unabhängig vom Mitgliedsstatus haben alle Anwesenden ein Rede- und Stimmrecht. Dies geht zurück auf einen Beschluss des Attac-Ratschlags 2002 in Frankfurt am Main, wonach generell für alle Organe des Netzwerks gilt, „dass Mitglieder und Nichtmitglieder von Attac die gleichen Rechte haben“ (zit. n. Attac-D 2009a). Eine Mitarbeiterin des Attac-Büros beschrieb diesen Ansatz 2004 in einem Interview mit den folgenden Worten: „[Falls] zufällig eine RentnerInnen-Kaffeefahrt die falsche Abfahrt genommen hat, dürfen die auch die Hand heben – und wenn es ganz viele gibt, wird der inhaltliche Schwerpunkt im nächsten Jahr vielleicht der Kampf gegen die Tierhaltungsverbote in Altersheimen [sein]“ (zit. n. Aderhold/Roth 2005: 156).

Grundsätzlich sollen wichtige politische Entscheidungen (ausgenommen hiervon sind bspw. die Bereiche Haushalt, Geschäftsordnung oder Gremienwahlen) im Rahmen des Attac-Ratschlags nach dem Konsensprinzip getroffen werden. Äußern jedoch mehr als 10 Prozent der Anwesenden Zweifel und Vorbehalte hinsichtlich einer Beschlussvorlage, wird eine Arbeitsgruppe aus den wesentlichen Konfliktparteien gebildet, um eine Konsenslösung bzw. Beschlussvorlage zu erarbeiten. Scheitert auch dieser Versuch, kommt es zu einer Mehrheitsabstimmung, in der eine Dreiviertelmehrheit für eine Beschlussfassung benötigt wird.Footnote 49 Einem Konsensbeschluss geht häufig eine breite, manchmal äußerst langandauernde Debatte voraus. Exemplarisch steht hierfür ein Kommentar von Norbert Nicoll bezüglich des Essener Attac-Ratschlag 2004: „Beraten wurde in Essen ein Positionspapier zur EU-Verfassung und es wurde regelrecht um jeden Satz in diesem Dokument gefeilscht. Ergebnis: Die Debatten um das Papier dauerten mehrere Stunden“ (Nicoll 2005: 107). Ein Konsens gilt im Attac-Verständnis dann als erreicht, wenn niemand widerspricht und nicht, wenn alle zustimmen (vgl. hierzu bspw. Schaffert 2004a: 138, Attac-D 2009a oder Attac-D 2020j).Footnote 50 Für den Attac-Ratschlag gilt seit 2002 ein Delegiertensystem. Demnach kann jede Attac-Ortsgruppe jeweils zwei stimmberechtigte Personen zum Attac-Ratschlag senden. Die Anzahl der Stimmen ist nach der Größe der Gruppen gestaffelt: So erhalten Gruppen mit mehr als 100 Mitgliedern vier Sitze und Gruppen mit mehr als 200 Mitgliedern sechs Sitze, was der maximalen Anzahl an Plätzen für Attac-Ortsgruppen entspricht. In allen Fällen gilt eine Frauenquote, nach der die Sitze jeweils paritätisch besetzt werden sollen. Kann dies aus bestimmten Gründen nicht erfolgen, bleibt der für Frauen bestimmte Sitz frei und wird nicht von etwaigen männlichen Kandidaten (nach-)besetzt; umgekehrt ist dies allerdings möglich. Neben den Attac-Ortsgruppen stehen nach dem Delegiertenschlüssel sowohl den Mitgliedsorganisationen als auch den bundesweiten Arbeitszusammenhängen (hierzu gehören anerkannte bundesweite Arbeitsgruppen, der Wissenschaftliche Beirat oder das Attac-Frauennetzwerk) jeweils zwei Stimmen zu. Die Auswahl der Delegierten einschließlich des jeweiligen Auswahlverfahrens obliegt den einzelnen Organisationsgefügen.

Dem Koordinierungskreis von Attac, der im April 2000 im Zuge des ersten Ratschlags gewissermaßen „nach dem Lustprinzip“ (Grefe 2005: 373) gebildet wurde, gehören heute insgesamt 22 Personen an.Footnote 51 Die ehrenamtlichen Mitglieder des Ko-Kreises treffen sich normalerweise monatlich (vgl. Attac-D 2019d: 52) und werden jedes Jahr im Rahmen des Attac-Ratschlags gewählt. Dort bestimmen die Attac-Gruppen auf den vier Regionalversammlungen ihre jeweiligen Vertreter*innen; „die Mitgliedsorganisationen werden durch die ebenfalls auf dem Ratschlag stattfindende Versammlung der Organisationen bestimmt“ (Giegold/Bröckel 2004: 155). Die zahlenmäßige Zusammensetzung stellt sich en détail wie folgt dar: zwölf Personen aus den Attac-Gruppen, sechs von den Mitgliedsorganisationen, drei aus den bundesweiten Attac-Arbeitszusammenhängen sowie, nach Beschluss des Düsseldorfer Attac-Ratschlags 2008, eineFootnote 52 Person vom Attac-Jugendnetzwerk Noya (Network of Young Altermondialists)Footnote 53. Letzterer Sitz wurde aufgrund der seit vielen Jahren nachlassenden Aktivitäten der Noya-Gruppen 2019 durch zwei Vertreter*innen der neu geschaffenen Plattform „Junges Attac“ ersetzt.

In bestimmten Fällen kann die Mitgliederzahl im Koordinierungskreis variieren, z. B. wenn Plätze aufgrund der Frauenquote nicht besetzt werden können und sich dadurch die Teilnehmerzahl minimiert. Acht der zwölf Vertreter*innen der Attac-Gruppen werden auf den Ratschlägen der einzelnen Attac-Regionen (Nord, Süd, Ost und West) ernannt.Footnote 54 In diesen werden jeweils zwei Regionsvertreter*innen (davon maximal ein Mann) gewählt. „Die verbleibenden vier Plätze werden vom Plenum der Delegierten aus den Attac-Gruppen bestimmt, wobei“, so Astrid Schaffert, „sichergestellt sein muss, dass insgesamt nicht mehr als sechs Männer von den Attac-Gruppen gewählt werden“ (Schaffert 2004a: 135). Die sechs Vertreter*innen der Attac-Mitgliederorganisationen werden im Rahmen „einer Versammlung der VertreterInnen der anwesenden bundesweit arbeitenden Organisationen gewählt“ (ebd.). Entscheidend ist hier, dass nicht Personen, sondern Organisationen zur Wahl stehen und diese wiederum überregional tätig seien müssen. Es gilt zunächst das Konsensprinzip. Sollte jedoch keine Einigung hinsichtlich der Auswahl der Vertreter*innen erzielt werden können, erfolgt eine Abstimmung in drei Wahlvorgängen, in deren Zuge die jeweiligen Attac-Mitgliedsorganisationen ein Quorum von 50 Prozent der Stimmen erreichen müssen. Dies dient u. a. dem Zweck, die Zusammensetzung der Organisationsvertreter*innen genauer zu bestimmen und „eine ausgewogene Mischung“ (Attac-D 2020m) der Organisationen zu gewährleisten. In einem letzten Schritt werden die drei Vertreter*innen der bundesweiten Arbeitszusammenhänge bestimmt. Hierzu wird im Plenum eine Liste von „nicht ausreichend im Koordinierungskreis vertretenen Organisationen“ (Schaffert 2004a: 136) angefertigt und, soweit nicht doch eine spezifische Arbeitsgruppe gegründet wird, die die Auswahl entsprechend vorbereitet, zur Wahl gestellt. Auch hier werden nicht Personen, sondern Arbeitszusammenhänge gewählt.

Zusammengefasst ist der Koordinierungskreis das geschäftsführende Organ des Netzwerks. Er ist für „die Organisation der inhaltlichen Debatte innerhalb von Attac Deutschland, […] [die] Erarbeitung gemeinsamer, konsensfähiger Positionen und […] [das] Zusammenwirken[.] der verschiedenen Gliederungen“ (Giegold/Bröckel 2004: 156) zuständig und vertritt, wie Sven Giegold und Lena Bröckel es einst beschrieben, die „konsensfähige[n] Positionen auf Grundlage der Beschlüsse von Ratschlag und Rat nach außen“ (Giegold/Bröckel 2004: 157).Footnote 55 Entscheidend ist hierbei, dass der Koordinierungskreis nicht ermächtigt ist, „eigenständig politisch wegweisende Entscheidungen zu treffen oder Positionen zu bestimmen“ (Giegold/Bröckel 2004: 157) und stets gegenüber dem Ratschlag rechenschaftspflichtig ist. Er unterstützt den internen Kommunikationsfluss und hilft etwa bei der Durchführung bundesweiter Kampagnen. Nach Hendrik Sander ist der Koordinierungskreis der „wichtigste Kristallisationspunkt und das strategische Zentrum des Netzwerks“ (Sander 2016: 33). Zu dessen Arbeitsweise führte Thomas Eberhardt-Köster 2017 im Rahmen einer Sitzung des Koordinierungskreises an, dass dieser vornehmlich „die Geschäfte zwischen den Ratschlägen zu führen“ (zit. n. Attac-D 2017f: 2) und die durch Ratschlag und Rat vorgegebenen „grundsätzlichen Weichenstellungen“ (ebd.) umzusetzen habe.

Der Attac-Rat wurde im Mai 2002 auf dem Ratschlag in Frankfurt am Main als zusätzliches Organ in die Attac-Struktur aufgenommen bzw. von den lokalen Ortsgruppen „erstritten“, wie Christiane Grefe später hervorhob (vgl. Grefe 2005: 377).Footnote 56 Grundgedanke „bei der Einrichtung des Rates […] [war es], einen Ort zu schaffen, an dem sich das ganze Spektrum von Meinungen und Hintergründen von Attac in ausreichender Vielfalt spiegelt“ (Grobe 2003: 17). Der so genannte „Rat“ fungiert zwischen den Ratschlägen als zusätzliches Entscheidungs- und Diskussionsgremium und soll „den Koordinierungskreis demokratisch kontrollieren [sowie] […] noch breitere Perspektiven in die längerfristigen Strategiedebatten einbringen“ (Grefe 2005: 377). Die Sitzungen des Rats sind öffentlich, wenngleich nur dessen gewählte Mitglieder über ein Stimmrecht verfügen.Footnote 57 Generell besteht der Attac-Rat „aus den Mitgliedern des Koordinierungskreises sowie aus mehr als der doppelten Zahl weiterer Mitglieder“ (Attac-D 2003b: 12/Attac-D 2020k). Letztere setzen sich zusammen aus 24 Vertreter*innen von Attac-Ortsgruppen, die auf den einzelnen Regionalkonferenzen gewählt werden, zwölf Vertreter*innen der Mitgliedsorganisationen und eine nicht weiter festgelegte Anzahl an Delegierten aus den noch nicht vertretenen bundesweiten Arbeitszusammenhängen. Der Rat ist mindestens zur Hälfte mit Frauen besetzt und kommt in der Regel viermal im Jahr zumeist in Hannover oder Frankfurt am Main zusammen. In ihm werden „richtungsweisende Prozesse und notwendige weitreichende Entscheidungen zwischen den Ratschlägen“ (Schaffert 2004a: 131) diskutiert und per Beschluss umgesetzt. Gleichzeitig ist der Attac-Rat ebenfalls für die inhaltliche Vorbereitung der Ratschläge verantwortlich. Sowohl die Vertreter*innen der Attac-Ortsgruppen als auch die Vertreter*innen der Mitgliedsorganisationen und der bundesweiten Arbeitszusammenhänge werden jeweils nach dem gleichen Verfahren bestimmt, wie jenem, dass oben bereits im Kontext des Attac-Koordinierungskreises näher skizziert worden ist.Footnote 58 Demzufolge gilt natürlich auch im Attac-Rat und seinen Arbeitsgruppen das Konsensprinzip.

Der Rat ist u. a. zuständig für die Anerkennung der bundesweiten Arbeitsgruppen, den Informationsfluss zwischen dem Koordinierungskreis und den einzelnen Ortsgruppen sowie die Vernetzung der Attac-Gremien untereinander. Im Fokus steht dabei insbesondere die gemeinsame Entwicklung langfristiger Strategien und Konzepte. „Dem Attac-Rat“, so Felix Kolb, „lag die Idee zugrunde, zwischen den ‚Ratschlägen‘ über ein Gremium zu verfügen, das größer als der Koordinierungskreis ist, dessen Arbeit kontrolliert und die des Ratschlags unterstützt“ (Kolb 2006: 82). Wie Christian Strobel 2011 in seiner Studie anmerkte, war die Installation des Attac-Rats 2002 als weiteres Strukturelement des Netzwerks aber vor allem einem internen Konflikt geschuldet: Die lokalen Attac-Gruppen fühlten sich „im Vergleich zu den Mitgliederorganisationen unterbewertet“ (Strobel 2011: 154) und hatten mehr Mitspracherechte gefordert. Doch schon nach kurzer Zeit musste man feststellen, dass sich die „Hoffnung, dass durch den Rat Kommunikation und Entscheidungsfindung unter stärkerer Rückbindung mit den Gruppen geschehen würde“ (Grobe 2003: 17), kaum erfüllen ließ und „[n]ur selten mehr als die Hälfte der Ratsmitglieder bei den Sitzungen [überhaupt] anwesend“ (ebd.) war.

Innerhalb des Attac-Netzwerks ist es möglich, eigene themenspezifische Arbeitsgruppen zu gründen, die parallel zu den bestehenden Attac-Organisationsstrukturen arbeiten und „in eigenem Namen auftreten und handeln“ (Schaffert 2004a: 141) können. Damit sind sie im Rahmen ihres gewählten Themenfeldes und unter Berücksichtigung des Attac-Grundkonsenses auch dazu berechtigt, eigenständig Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben. Die Anerkennung als eine so genannte „bundesweite Arbeitsgruppe“ erfolgt durch den Attac-Rat, der, nach der Einleitung der Gründungsinitiative und Vorlage des von der Gruppe erarbeiteten Selbstverständnispapiers, im internen Kreis die Zielsetzung und thematische Ausrichtung der Arbeitsgruppe erörtert und gegebenenfalls vor der formellen Zulassung noch zu Nachbesserungen auffordert. Die bundesweiten Arbeitsgruppen verfügen, wie auch Mitgliedsorganisationen oder Attac-Ortsgruppen, im Ratschlag über jeweils zwei Stimmen. Insgesamt sind zurzeit 13 Arbeitsgruppen im Attac-Netzwerk aktiv (vgl. Attac-D 2022e). Diese entwickeln „Analysen, politische Positionen und kritische Praxen in den verschiedenen Themenfeldern von Attac“ (Sander 2016: 33) und tragen dadurch zur Profilschärfung des Netzwerks auf Bundesebene bei. Die Arbeitsgruppen arbeiten „eigenständig und bilden [letztlich] Expertise zu ihrem Themenfeld aus, die sie dem Attac-Netzwerk zur Verfügung stellen“ (Attac-D 2019d: 51). Das Durchschnittsalter der in den Arbeitsgruppen aktiven Personen „bewegt sich“, nach Analysen von Hendrik Sander, „zwischen 40 und 60 Jahren. Das Alter der bundesweit Aktiven dürfte im Schnitt bei knapp 50 Jahren liegen“ (Sander 2016: 18).Footnote 59

Exkurs VIII: Konsensprinzip bei Attac-Deutschland

Neben dem Netzwerkgedanken ist das Konsensprinzip einer der wesentlichen, organisationspolitischen Grundpfeiler von Attac-Deutschland. Über die „Praktikabilität des Konsensprinzips“ (Sander 2016: 25) gibt es innerhalb des Attac-Netzwerks aber durchaus divergierende Meinungen. Laut offizieller Darstellung von Attac soll die gelebte Konsenskultur eine „gleichberechtige Einbeziehung aller Mitglieder“ (Attac-D 2019d: 15) garantieren und zugleich verhindern, dass „einzelne Fraktionen sich gegenüber anderen durchsetzen, wie dies bei Mehrheitsentscheidungen der Fall sein kann“ (Attac-D 2019d: 15). Ein Konsens gilt bei Attac dann als erreicht, „wenn niemand widerspricht [Hervorhebung im Original] (ein Veto einlegt)“ (Attac-D 2019d: 15) – wenngleich Konsens hier „aber nicht [meint], dass alle zustimmen“ (Attac-D 2019d: 15).Footnote 60 Und weiter heißt es im Leitfaden für Attac-Gruppen: „In den bundesweiten Arbeitszusammenhängen ist das [Konsensprinzip] meist dahingehend abgeändert, dass von Konsens gesprochen wird, wenn nicht mehr als 10 Prozent der Anwesenden ein Veto eingelegt haben“ (Attac-D 2019d: 15). Eine Konsensfindung geschieht der Theorie nach bei Attac in fünf Schritten: (1) Problem klären, Entscheidungen formulieren, Diskussion; (2) Dissens, Lösungsvorschläge erarbeiten, Diskussion, Konsensfindungsgruppe, (3) Konsensfindungsgruppe; (4) erweiterte Konsensfindungsgruppe; (5) Konsensermittlung (vgl. Attac-D 2019d: 16 f. oder Attac-D 2009a).

Wie Hendrik Sander konstatiert, halten „[g]rundsätzlich […] die meisten [Attac-Mitglieder] das Prinzip für eine gute Form der kollektiven Entscheidungsfindung. Ob das Prinzip in der Attac-Praxis gut funktioniert, ist jedoch stark umstritten“ (Sander 2016: 25). Für eine „ganze Reihe verschiedener AktivistInnen“ (ebd.), so Sander, sei die „Konsenskultur gerade bei Attac schwach ausgeprägt“ (ebd.), weswegen auch der Leitgedanke des Konsensprinzips oftmals missachtet werde: „Es fehle ein Verständnis des Prinzips, das vor allem auf die gemeinsame Debatte setze und mit der Möglichkeit des Vetos sehr behutsam umgehe. Stattdessen werde in Attac-Zusammenhängen oft leichtfertig von dem Recht Gebrauch gemacht“ (ebd.). Zurückzuführen ist diese „Vetokultur“ (ebd.) u. a. auf die Unsicherheit, ungenügende Vorbereitung und ein grundsätzliches Misstrauen einzelner Attac-Mitglieder gegenüber Vorschlägen, die nicht in Gänze nachvollzogen werden können. Oftmals wird das Veto aber auch als „Kampfstrategie“ (ebd.: 26) eingesetzt, um Entscheidungen im Sinne einer bestimmten Gruppierung zu beeinflussen oder zu verhindern – für Letzteres reichen, wie oben bereits dargelegt, 10 Prozent an Gegenstimmen aus.Footnote 61 Informelle Hierarchien, „Abstimmungstricks“ (Bergstedt 2004: 26) und Machtstrukturen (dies betrifft auch regionsübergreifende Absprachen zwischen einzelnen Attac-Gruppen) spielen in diesem Kontext eine bedeutende Rolle, da zwar eine Mehrheit Entscheidungen nicht durchsetzen aber eine Minderheit Entscheidungen durchaus blockieren kann.Footnote 62 Grundsätzlich sollte das Veto, zumindest dem Ursprungsgedanken folgend, aber nur als Ultima Ratio eingesetzt werden. Ein Attac-Mitglied merkte in einem Interview mit Hendrik Sander hinsichtlich des Konsensprinzips allerdings kritisch an:

„Die Konsenskultur, die ich ja im Grunde und theoretisch und häufig auch praktisch sehr gelungen und sehr gut finde, […] führt trotzdem dazu, dass Attac extrem strukturkonservativ ist, weil es überhaupt nicht mehr möglich ist, […] Strukturveränderungen im Konsens zu entscheiden, weil es immer so eine […] kleine Gruppe gibt, auch wenn es zahlenmäßig total wenige sind. Diese faktische Sperrminorität von zehn Prozent wird eigentlich bei jeder halbwegs größeren Frage erreicht, weil es halt doch immer Interessen gibt, die dem entgegenstehen, oder weil es Leute gibt, die sich nicht wirklich damit auseinandergesetzt haben.“ (zit. n. Sander 2016: 26)

Und ein anderes Attac-Mitglied führte diesbezüglich aus: „Es gibt nicht nur eine Kultur des fragenden Vorangehens, sondern es gibt Schlachten entlang des Konsensprinzips“ (zit. n. ebd.: 23). Hinzu kommt, dass für einzelne Bereiche das Mehrheitsprinzip gilt. Dies trifft bspw. auf Beschlüsse über den Attac-Haushalt oder die Gremienwahlen zu. Kurt Haymann vertrat hierzu seinerzeit als Mitglied des Attac-Koordinierungskreises die Auffassung: „Klar ist, dass Haushaltfragen [sic!] so kompliziert sind, dass sie eher von Eingeweihten behandelt werden sollten. Deswegen geben wir sie nicht in die Vollversammlung und unterwerfen sie nicht dem Konsensprinzip, sondern eben dem Mehrheitsprinzip der Delegierten, die sich eingearbeitet haben. Durch die Zweidrittelmehrheit wird gewährlesitet [sic!], dass es wirklich sehr viel Zustimmung dazu gibt“ (zit. n. taz 2002: 4).

Gerade in der praktischen Anwendung des Konsensprinzips zeigen sich die strukturellen Problemfelder des Attac-Netzwerks, die des Öfteren schon zu internen Auseinandersetzungen geführt haben. Das eigentliche Ziel, die „ständige Dominanz von Mehrheiten, also Majorisierungen zu vermeiden“ (Astrid Kraus, zit. n. Attac-M 2002), konnte durch die Konsensstruktur nur teilweise erreicht werden. Die Herausbildung informeller Machtstrukturen bzw. „informelle[r] Machtungleichgewichte“ (Sander 2016: 10) sowie die „Fraktionsbildung und ähnliche Dynamiken“ (ebd.) waren und sind letztlich auch bei Attac zu beobachten. Zwar führte der Konsensdruck in vielen Fällen zu einer breiten inhaltlichen Diskussion innerhalb des Netzwerks, mit der Folge jedoch, dass sich Entscheidungsfindungsprozesse oftmals sehr mühsam und langwierig gestalteten.Footnote 63 Hinzu kommt, wie Sander feststellt, dass durch die „Dominanz von älteren, weißen Männern […] andere soziale Gruppen marginalisiert[.] [wurden]“ (ebd.: 17) und sich dies auch nachteilig auf die Diskussionskultur auswirkte. Sander warf diesbezüglich u. a. die Frage auf, welche Wertigkeit eine Konsensentscheidung hat, wenn bspw. „jungen und weiblichen Aktiven sowie Menschen nicht deutscher Herkunft eine aktive Beteiligung erschwert [wird]“ (ebd.: 17–18). Beispielhaft ist in diesem Kontext die Zusammensetzung des auf dem Attac-Herbstratschlag in Frankfurt am Main 2019 gewählten Koordinierungskreises: Zu den insgesamt 17 Mitgliedern gehörten lediglich fünf Frauen – was einem ungefähren Verhältnis von 1:3 entspricht (siehe hierzu Anlage IVFootnote 64). Selbstkritisch wurde im damaligen Protokoll des Herbstratschlags festgehalten: „Attac muss sowohl für Frauen als auch für junge Menschen attraktiver werden“ (Attac-D 2019k: 6).Footnote 65

Wie anhand der skizzierten Struktur ersichtlich wird, verfügt Attac-Deutschland weder über einen Vorstand noch über ein Präsidium. Die unterschiedlichen Ebenen sollen sich vielmehr gegenseitig kontrollieren und dadurch die Herausbildung informeller Hierarchien verhindern sowie eine gleichberechtigte Einbeziehung aller Attac-Mitglieder ermöglichen. Gleichwohl entzündete sich bereits früh erhebliche Kritik an der gelebten Praxis innerhalb des Netzwerks. Moniert wurden von einigen Attac-Mitgliedern vor allem die gezielte Besetzung von Schlüsselpositionen durch bestimmte Gruppen (im Fokus standen hier u. a. Personen aus dem Umkreis des Verdener Ökozentrums) und die mangelnde demokratische Legitimation einzelner Mitglieder des Koordinierungskreises, die in der Öffentlichkeit immer wieder als Sprecher*innen und Führungsfiguren des Netzwerks in Erscheinung getreten waren. Zu den schärfsten Kritiker*innen gehörte etwa Jörg Bergstedt, der in seinem Buch „Mythos Attac“ u. a. den Vorwurf erhob, dass der Koordinierungskreis de facto bereits von Beginn an die eigentliche „Zentrale“ (vgl. Bergstedt 2004: 15) des Netzwerks bildete.Footnote 66 Bergstedt zufolge bestand gerade in den ersten Jahren zwischen der Basis und Führungsebene von Attac ein erhebliches Machtungleichgewicht: „Menschen oder Gruppen, die bei Attac Mitglied wurden, [sic!] sowie lokale Attac-Basisgruppen hatten […] kaum Mitbestimmungsrechte gegenüber der bundesweiten Struktur. Mit dieser undemokratischen Struktur stand Attac schnell in der Kritik. Sie führte erst viel später, im Februar 2002, mit der Gründung eines Attac-Rats zu Veränderungen“ (Bergstedt 2004: 15). Doch auch die Gründung des Attac-Rats konnte die Kritiker*innen nur teilweise besänftigten. Einem Antrag für „Transparenz und Demokratie von unten innerhalb von attac-D“, der auf dem Herbstratschlag 2004 in Hamburg gestellt wurde, ist bspw. zu entnehmen:

„Es fällt auf, dass einige wenige Personen Mitgliedschaften in entscheidenden Gremien bzw. Schlüsselstellungen im Umfeld des Attac-Netzwerks kumulieren. Die Attac-Basis soll darüber entscheiden, welche Funktionen als Schlüsselstellungen für die Entscheidungsprozesse und Arbeitsweise von Attac-D anzusehen sind, wie diese Schlüsselstellungen demokratisch-legitimiert besetzt werden sollen und wie viele dieser Schlüsselstellungen eine Person gleichzeitig innehaben darf.“ (Attac-D 2004c)

Schon im Rahmen des Attac-Ratschlags 2003 in Göttingen kam es hinsichtlich der Rolle des Koordinierungskreises und einzelner Führungspersönlichkeiten zu kontroversen Diskussionen – in einer später erschienenen Sonderausgabe des internationalen deutschsprachigen Rundbriefs von Attac war sogar die Rede von einem „heftige[m] Richtungsstreit“ (Attac-D 2003c: 1). Von zahlreichen Attac-Gruppen wurde kritisiert, dass die Mitglieder des Koordinierungskreises am 5. Dezember 2002 ohne Rücksprache mit der Attac-Basis und damit eigenmächtig mit dem DGB und VENRO die gemeinsame Erklärung „Globalisierung gerecht gestalten“ veröffentlicht hatten. „Die Basis“, so Jörg Bergstedt, „erfuhr von diesem Vorgang erst über die allgemeine Öffentlichkeit“ (Bergstedt 2010: 96; hierzu ähnlich Strobel 2011: 154). Neben strukturellen und bündnispolitischen Aspekten, wurden im Laufe der Debatten auch grundlegende strategische und inhaltliche Fragen aufgeworfen: „[K]ann denn die Globalisierung überhaupt gerecht gestaltet werden? […] „Mach[t] [Attac] Politikberatung im Stil der NGOs […]? Veränder[t] [Attac] die Welt durch Appelle an Parteien, Parlamente und Regierungen […]?“ (Attac-D 2003c: 1). Für viele Attac-Mitglieder stand das gemeinsam mit dem DGB und VENRO verfasste Papier im Kontrast zur wenige Monate zuvor verabschiedeten „Frankfurter Erklärung“ (siehe Attac-D 2003d) und zur immer wieder betonten Vielfalt an Sichtweisen innerhalb des Netzwerks. In einer Stellungnahme des Attac-Ratschlags wurde daher bekräftigt, dass „[z]ur ganzen Bandbreite von Attac […] neben der Position ‚Globalisierung gerecht gestalten‘ auch die grundsätzliche Kritik und Ablehnung der Globalisierung samt ihrer zentralen Institutionen WTO, IWF und Weltbank“ (Attac-D 2003f: 4) gehöre. Wie sich später herausstellen sollte, waren selbst viele Personen im Koordinierungskreis durchaus unzufrieden mit der gemeinsam mit dem DGB und VENRO verfassten Erklärung: „Niemand im Ko-Kreis fand das Papier inhaltlich toll, alle wussten von erheblichen Mängeln“ (Attac-KoKreis 2003a). Ungeachtet dessen befand die Mehrheit des Attac-Koordinierungskreises aber, dass das Dokument insbesondere unter taktischen Gesichtspunkten zu bewerten sei und das Gremium grundsätzlich legitimiert sein sollte, „über solche Bündnispapiere zu entscheiden“ (Attac-D 2002l: 2).

Zentral blieben in der Debatte die Fragen nach der demokratischen Legitimität und den Zuständigkeitsbereichen des Attac-Koordinierungskreises, etwa hinsichtlich der Vertretung des Netzwerks nach außen. Maria Mies und Barbara Kleine von der Kölner Attac-Gruppe befanden das Zustandekommen der Erklärung bspw. als „zutiefst undemokratisch“ (Mies/Kleine 2003: 16). So sei „eines der wichtigsten Elemente einer anderen, besseren Gesellschaft, der demokratische Entscheidungsprozess, mit Füßen getreten worden“ (Mies/Kleine 2003: 12) – unabhängig von der inhaltlichen Ausrichtung der Erklärung, die nicht die Heterogenität und Vielfalt der vertretenen Positionen innerhalb des Netzwerks widerspiegele. Der Attac-Koordinierungskreis führte in einer eigenen Stellungnahme zwar Probleme in den internen Verfahrensabläufen an, bekräftigte wiederum aber, dass die Außenvertretung des Netzwerks „eine unabdingbare Voraussetzung“ (Attac-KoKreis 2003b: 18) für die Präsenz in der Öffentlichkeit und die Wahrnehmung des Netzwerks sei und man in diesem Kontext durchaus berechtigt wäre, politische Statements zu veröffentlichen (vgl. Attac-KoKreis 2003b). Nach zahlreichen Diskussionen und vielfacher Kritik von Attac-Basisgruppen wurde schließlich der Beschluss gefasst, dass „jede zu treffende Entscheidung, die den Anschein grundsätzlichen Charakters hat […] von einem [Attac-]Ratschlag zu entscheiden [sei]“ (Attac-D 2003c: 4; vgl. hierzu auch Götz 2004: 153 f.). Im Nachhinein räumten die Mitglieder des Koordinierungskreises durchaus Versäumnisse und Fehler ein und führten in ihrem Bericht auf dem Attac-Ratschlag in Aachen (16. bis 18. Oktober 2003) an:

„Geirrt hat sich der Ko-Kreis in der Annahme, dass mögliche positive bündnispolitische Wirkungen [durch die Erklärung, Anm. B. A.] in das DGB-Spektrum hinein die inhaltlichen Widersprüche zu Attac-Positionen aufwiegen würden. Wir alle wissen, dass der Ratschlag das Vorgehen des Ko-Kreises missbilligte und die Entscheidung des Ko-Kreises dementsprechend korrigierte. Was sich gewiss sagen lässt, ist, dass nach den Erlebnissen in Göttingen [hier wird Bezug genommen auf den Attac-Ratschlag 2003; Anm. B. A.] die Sensibilität innerhalb des Ko-Kreises für den Umgang mit solchen schwierigen Themen aber [sic!] für den Umgang miteinander insgesamt in Attac erheblich gestiegen ist.“ (Attac-KoKreis 2003a)

Trotz dieser Selbstkritik des Koordinierungskreises kam es auch in den Folgejahren zwischen „Führung“ und „Basis“ immer wieder zu Konflikten und Spannungen hinsichtlich interner Strukturfragen, der „Verfestigung von Dominanzstrukturen und informellen Machtverhältnissen“ (Sander 2016: 23) und der Rolle einzelner Leitfiguren innerhalb des Netzwerks. Dies spiegelt sich sowohl im Verhältnis zwischen lokalen Gruppen und der Bundesebene als auch hinsichtlich der strukturellen Verknüpfung der unterschiedlichen Attac-Ebenen wider. So bemängelte ein Attac-Mitglied gegenüber Hendrik Sander: „Der Demokratiemechanismus, also Basis, mittlere Instanzen, Lokales, Regionales und wiederum die Zentrale, die zentralen AGs […], der ist intransparent, der ist nicht effizient“ (zit. n. ebd.: 28). Und ein anderes Mitglied führte ergänzend an: „Das ist der Punkt bei so einem Konsensprinzip oder auch bei so einem hierarchiefreien Gebilde, was Attac ja formal ist, dass es informelle Hierarchien gibt und ganz starke Meinungsführer, die auf ganz anderen Wegen auch sehr großen Einfluss entfalten können, und was letztlich genauso (wenig) basisdemokratisch ist wie andere Formen von Hierarchien“ (zit. n. ebd.: 36–37). Obwohl die Struktur von Attac-Deutschland ein hohes Maß an Teilhabe- und Mitbestimmungsmöglichkeiten suggeriert, scheinen in der Praxis jedoch „die effektiven Chancen, die politische Ausrichtung der Organisation zu beeinflussen, relativ ungleich zwischen den AktivistInnen verteilt“ (ebd.: 36) zu sein.

Wie eine Studie von Hendrik Sander 2016 ergab, führen nach wie vor nicht wenige Attac-Mitglieder ihren Rückzug aus der aktiven Arbeit auf diese internen Machtungleichgewichte und strukturellen Defizite innerhalb des Netzwerks zurück (vgl. ebd.: 21). „Sie äußern die Wahrnehmung“, so Sander, „dass manche zentralen OrganisatorInnen auf der Bundesebene sich bisweilen überschätzen, Kampagnen ohne einen Blick für die lokale Ebene starten und untereinander Machtkämpfe austragen würden“ (ebd.: 21). Hinzu kämen eine „wenig wohlwollende Atmosphäre in vielen Attac-Zusammenhängen“ (ebd.) sowie „[d]ominante ‚Leitwölfe‘ und sozial schwierige Charaktere“ (ebd.), die die Mitarbeit in den Attac-Gruppen erheblich erschweren würden. Letztgenannte Personen bestimmten die „politische Arbeit und das Gruppenklima“ (ebd.: 23) und ließen vor allem neuen Mitgliedern nur wenig Raum zur Entfaltung. Dies hat letztlich auch Auswirkungen auf die politische Bildungsarbeit des Netzwerks, wie etwa Johanna Schreiber und Sabine Leidig darlegen:

„Aktive Attacis arbeiten teilweise schon jahrelang an bestimmten Themen, machen zunehmend komplexere Zusammenhänge und Auseinandersetzungen zum Gegenstand ihres Engagements und ihres Interesses. Aber noch immer stoßen täglich Neue zu Attac, deren politisch-ökonomische Alphabetisierung gerade erst beginnt und für welche die Debatten der ‚alten Hasen‘ kaum zugänglich sind. Und eigentlich soll die Aufklärung auch weitere Kreise ziehen und Leute bewegen, die noch keine bewusste kritische Haltung haben. Aber: die [sic!] Lernprozesse werden immer von denen gestaltet, die präsent und aktiv sind. Das ist einerseits unabdingbare Voraussetzung für das Wirken von Attac und bedeutet, dass große Potentiale entfaltet werden. Andererseits ist es eine ungelöste Herausforderung, dass nicht alle, die sich als Lehrende freiwillig engagieren, über genügend Empathie, Sprachgefühl und pädagogisch-methodisch-didaktische Fähigkeiten verfügen […].“ (Schreiber/Leidig 2011: 531)

Eine Reformierung der Attac-Strukturen scheine, wie Sander prognostiziert, in naher Zukunft kaum möglich zu sein; zu sehr wäre die Organisation einem Strukturkonservatismus verhaftet – was auch die zahlreichen gescheiterten Versuche der letzten Jahre, einen Reformprozess anzustoßen, belegen.Footnote 67 Trotz dieser Kritikpunkte, die sowohl auf die Kommunikations- als auch auf die Organisationsstrukturen von Attac-Deutschland zielen, weist Sander berechtigterweise darauf hin, dass „[a]ngesichts der Größe und Komplexität von Attac […] die Netzwerkstrukturen im Vergleich zu vielen anderen Verbänden immer noch sehr demokratisch und inklusiv“ (Sander 2016: 30) seien. Entsprechend selbstbewusst wies Werner Rätz vor einigen Jahren darauf hin, dass man „mit seinen internen Entscheidungsstrukturen einen großen Schritt zu einem neuen Demokratieverständnis getan [hätte]“ (Rätz 2010: 64). Das „Konsensprinzip und [die] Autonomie der einzelnen AkteurInnen innerhalb des Netzwerkes“ (ebd.), so Rätz weiter, seien daher „nicht Notlösung, um den Laden zusammenzuhalten, sondern höchst innovative Vorgriffe auf eine demokratische Kultur, die mit Vertrauen und dem Öffnen von Räumen arbeitet und nicht mit Kontrolle und festen Regeln. Das ist in vielerlei Hinsicht problematisch und klappt auch oft nicht gut, aber es gibt doch eine vage Idee von anderen Gestaltungsprinzipien des Politischen“ (ebd.).

5.2.3 Selbstverständnis des Attac-Netzwerks

Attac-Deutschland fungiert für viele „unterschiedliche[.] Gruppierungen, Weltanschauungen und politische Forderungen als Forum“ (Strobel 2011: 160) und versteht sich selbst als ein „zusammenführendes Netzwerk“ (Attac-D 2020s: 8) der verschiedenen globalisierungskritischen Strömungen. Gerade der ideologische Pluralismus war und „ist zentral für den Erfolg von Attac“ (Eskola/Kolb 2002b: 163), wenngleich er vielfach auch als Nachteil interpretiert wird.Footnote 68 In diesem Kontext ist des Öfteren die Rede von inhaltlicher Konturlosigkeit und einem Mangel an strategischer Klarheit: Durch die politische Heterogenität Attacs sei man z. B. „kaum in der Lage, ein einheitliches weltanschauliches Programm zu formulieren“ (Sander 2016: 10). So ist die ideologische Vielfalt bei näherer Betrachtung nicht nur eine Stärke, sondern auch eine große Schwäche des Netzwerks. Weitgehende Einigkeit herrscht vor allem in der „Ablehnung der gegenwärtigen Form der neoliberal dominierten Globalisierung“ (Eskola/Kolb 2002b: 162) und „in einer Reihe von konkreten Reformvorschlägen“ (ebd.).

Das spezifische inhaltliche Profil des Netzwerks hat sich in den letzten Jahren aufgrund von „sehr unterschiedlichen Weltanschauungen und Politikverständnissen“ (Rätz 2010: 57) seiner Mitglieder deutlich gewandelt. War es in der Anfangszeit besonders eine Fokussierung auf die Einführung einer Tobin-Steuer oder die Schließung von Steueroasen, erweiterten sich das Themenspektrum und die Forderungspalette in den Folgejahren erheblich – wenngleich der inhaltliche Kern, die Kritik an der neoliberalen Globalisierung, weiterhin erhalten blieb. Im 2001 entstandenen und 2006 nochmals überarbeiteten Selbstverständnispapier hat man sich innerhalb Attacs auf einen so genannten Grundkonsens verständigt, der bis heute gilt. Danach lehnt Attac „die gegenwärtige Form der Globalisierung, die neoliberal dominiert und primär an den Gewinninteressen der Vermögenden und Konzerne orientiert ist, ab […] [,] wirft die Frage nach wirtschaftlicher Macht und gerechter Verteilung auf […] [und] setzt sich für die Globalisierung von sozialer Gerechtigkeit, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechten, für Demokratie und umweltgerechtes Handeln […] [sowie] in allen Bereichen für Geschlechtergerechtigkeit ein“ (Attac-D 2001/2006).Footnote 69 Hugo Braun, langjähriges Mitglied im Attac-Koordinierungskreis, stellte 2020 in einem Interview rückblickend auf die Veränderungen des programmatischen Profils von Attac-Deutschland fest: „Der große Unterschied [zwischen Attac heute und Attac damals] besteht in der Diversität der Themen. Wir waren damals sehr auf die Finanztransaktionssteuer und die soziale und Gesundheitsfrage konzentriert. Heute haben wir eher einen bunten Strauß, und vielleicht macht die Konzentration auf ein zentrales Thema manchmal effektiver. Eine stärkere Fokussierung würde ich mir deshalb häufiger wünschen“ (zit. n. Attac-D 2020s: 8).

Das Attac-Netzwerk beteiligte sich in den letzten Jahrzehnten an unterschiedlichen Kampagnen und Protesten. Zu nennen sind hier bspw. die Aktionen im Rahmen des Bündnisses „Bahn für alle“, der Einsatz gegen die Privatisierung der öffentlichen Infrastruktur und für die Rekommunalisierung von Energienetzen, das Engagement unter dem Motto „Finanzmärkte entwaffnen!“ im Kontext der Finanzkrise (2007 ff.), das Eintreten für eine Gesamtkonzernsteuer (unitary taxation) für global agierende Unternehmen wie IKEA, Apple und Starbucks oder die aktive Unterstützung von Protestbündnissen und Aktionstagen, wie etwa Stuttgart 21, Blockupy oder Welcome2stay. Rückblickend betrachtet war aber besonders die 2014 initiierte Kampagne gegen TTIP und CETA ein „großer Bewegungserfolg für Attac“ (Sander 2016: 42), da es sich hierbei „um einen der [inhaltlichen] Kernbereiche des Netzwerks [handelte] […] und zugleich fast alle Attac-Themen berührt“ (ebd.) wurden.Footnote 70 Attac war integraler Bestandteil der Bündnisse „TTIP unfairhandelbar“ und „Stop TTIP“ und schaffte es zudem, mehr als in den Jahren zuvor, seine eigene Basis zu den vielfältigen Gegenaktivitäten zu mobilisieren. Seitens der Attac-Ortsgruppen wurde u. a. die Gründung von lokalen Anti-TTIP-Bündnissen vorangetrieben, Bildungs- und Informationsveranstaltungen durchgeführt oder in unterschiedlichen Kontexten Unterschriften für die selbstorganisierte Europäische Bürgerinitiative „Stop TTIP“ gesammelt. Zudem initiierte man das Projekt „10.000 TTIP-freie Kommunen“, in dessen Verlauf sich zahlreiche Kommunen zur TTIP-freien bzw. TTIP-kritischen Zone erklärten. Durch die intensive Beteiligung von Attac-Deutschland an den Anti-TTIP-Protesten und der damit verknüpften Präsenz in der öffentlichen Debatte erlebte das Netzwerk einen fast unverhofften Aufschwung (vgl. ebd.: 47),Footnote 71 der erst 2017 nach der vorläufigen Beendigung bzw. dem vorübergehenden „Pausieren“, wie die offizielle Sprachreglung hierzu lautet (vgl. BMWi 2020), der entsprechenden Verhandlungen sukzessive abklang.

Im Zentrum der Anti-TTIP-Proteste standen vor allem Fragen nach der Transparenz, Offenheit und demokratischen Legitimität von derartigen internationalen Handelsverträgen. Vorteilhaft waren hier die zahlreichen vorherigen Kampagnen und diesbezüglichen Diskussionen innerhalb der globalisierungskritischen Bewegung, wie bspw. im Kontext von NAFTA, MAI oder dem „General Agreement on Trade in Services“ (GATS). Mit Blick auf Attac-Deutschland ist besonders die „Stopp-GATS“-Kampagne, die 2002 von einem breiten Bündnis an Organisationen initiiert wurde, hervorzuheben. Schon damals hatte Attac als eine der Trägerorganisationen der Kampagne (vgl. hierzu auch Fislage/Stiebling 2006) intensive Bildungs- und Informationsarbeit betrieben und auf die möglichen Gefahren einer weiteren Liberalisierung der Dienstleistungsmärkte sowie die grundsätzliche Intransparenz der Verhandlungen („Geheimdiplomatie“) hingewiesen. Im Attac-Basistext zu den Neuverhandlungen des GATS wurde seinerzeit etwa angemerkt: „Grundsätzlich bedarf es einer wesentlich verbesserten Transparenz des Verhandlungsprozesses. […] Selbst Parlamentarier des Bundestags und des Europaparlaments werden nur unzureichend informiert, sodass eine effektive parlamentarische Kontrolle faktisch unterbleibt“ (Fritz/Scherrer 2002: 114).

Der Fokus auf Rechtsstaatlichkeit, soziale Gerechtigkeit und Demokratie war und ist bis heute ein wesentlicher Kernbestandteil des Attac-Wertefundaments. Damit einher geht insbesondere aber auch „die Furcht vor [einem] weiteren Substanzverlust parlamentarischer Demokratie“ (Peter Wahl, zit. n. iz3w 2001: 63) und einer Priorisierung von Wettbewerbsfähigkeit und Marktförmigkeit gegenüber dem Solidarprinzip. Der vermeintlichen Sachzwanglogik des Neoliberalismus setzt Attac die Forderung nach einer „umfassende[n] Demokratisierung der Gesellschaft“ (Attac-D 2002b: 64) entgegen. Mit einer reinen „Zuschauerdemokratie [will man sich] nicht mehr zufrieden geben“ (Wahl 2002c: 7) und hofft daher durch spezielle Kampagnen, öffentlichkeitswirksame Aktionen oder Bildungs- und Informationsveranstaltungen zu einer „Wiederbelebung des Demos“ (Thiele 2018: 302) beizutragen. In diesen Kontext ist bspw. auch die Besetzung der Frankfurter Paulskirche am internationalen Tag der Demokratie 2018 unter dem Motto „Her mit der Demokratie! Solidarisch, menschenwürdig, sozial, offen, frei“ einzuordnen, mit der vor allem „eine öffentliche Debatte über die Grundpfeiler einer demokratischen Gesellschaft“ (Attac-D 2018d) angestoßen werden sollte. Unter der Leitfrage „In welcher Gesellschaft wollen wir leben?“ organisierte Attac im Saal der Paulskirche mit ca. 60 Teilnehmer*innen eine etwa zweistündige Podiumsdiskussion; im Anschluss daran wurde der Film „System Error“ von Florian Opitz gezeigt. Der damalige Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt am Main, Peter Feldmann, duldete die gewaltfreie Besetzung, wenngleich er mit den Aktivist*innen vereinbarte, dass diese spätestes am darauffolgenden Morgen das Gebäude zu räumen hätten – was letztlich auch akzeptiert wurde (vgl. Voigts/Lepperts 2018). In der von Attac im Zuge der Besetzung verlesenen „Paulskirchenerklärung“ wurde sich u. a. auf Aspekte der Solidarität, der sozialen Gerechtigkeit und der Achtung der Menschenrechte berufen. Zu den Beweggründen der Aktion äußerten sich die Besetzer*innen wie folgt:

„Wir, die Besetzer*innen der Paulskirche, haben uns hier versammelt, um an dieser Geburtsstätte der deutschen Demokratie nachdrücklich daran zu erinnern, dass staatliches Handeln und politische Entscheidungen dem Geist der Verfassung verpflichtet sind. Die Grundpfeiler unserer Demokratie sehen wir an vielen Stellen erheblich gefährdet. […] Die Gesellschaft, in der wir leben möchten, ist eine Gesellschaft der Gleichen und Freien […], ist demokratisch […], ist sozial […], ist menschenwürdig.“ (Attac-D 2018e)

Die Besetzung der Paulskirche folgte in gewisser Weise dem Motto der Attac-Aktionsakademie: „Demokratie braucht Bewegung. Bewegung braucht Aktion“. In diesem Sinne sollte nicht nur eine grundsätzliche Debatte über die Werte der Demokratie angestoßen, sondern auch zu deren (Wieder-)Belebung beigetragen werden. Dies lag der These zugrunde, dass sich viele Bürger*innen in einem Zustand der Lethargie befinden würden und mittels eines symbolträchtigen, spontanen Akts des zivilen Ungehorsams wieder vermehrt zur politischen Teilnahme und zum zivilgesellschaftlichen Engagement motiviert werden könnten.

Seitens Attac-Deutschland wurden stets „zwei politische Grenzpfähle“ (Grefe 2005: 374) gezogen: zum einen zu Akteuren der extremen Rechten, zum anderen zu Gruppen und Personen, „die Gewalt als politisches Mittel akzeptieren“ (ebd.). Die Gewaltfreiheit bildet nicht nur den zentralen aktionsspezifischen Grundsatz, sondern gehört auch zum politischen Leitgedanken des Netzwerks. Dem Selbstverständnispapier von Attac ist etwa zu entnehmen: „Gesellschaftliche Veränderungen können nur demokratisch, d. h. durch die Teilnahme vieler Menschen erreicht werden. An diesem demokratischen Imperativ orientieren sich auch die Aktionsformen von Attac. Aktionsformen, die diesem Ziel widersprechen, lehnen wir ab. Daraus ergibt sich, dass die Aktionsformen friedlich sind“ (Attac-D 2001/2006).Footnote 72 In der Vergangenheit führte die Unterscheidung zwischen gewaltsamen und friedlichen Aktionsformen immer wieder zu kontroversen Diskussionen innerhalb des Netzwerks. Auslöser waren hierfür häufig gewalttätige Ausschreitungen am Rande von globalisierungskritischen Gipfelprotesten, an denen Attac-Deutschland mit eigenen Delegationen teilnahm und/oder an den jeweiligen bündnisbezogenen Vorbereitungen und Absprachen beteiligt war. Deutlich wurde dieses Konfliktfeld z. B. im Kontext der G8-Proteste 2007 in Heiligendamm. Nach den Zusammenstößen zwischen der Polizei und Globalisierungskritiker*innen am Rande der damaligen Auftaktdemonstration in Rostock verurteilte Peter Wahl, seinerzeit Mitglied des Attac-Koordinierungskreises, öffentlich die gewaltsamen Ausschreitungen und distanzierte sich von derartigen, auf Militanz setzenden Strategien. In einem Kommentar für die Tagesschau am 3. Juni 2007 stellte Wahl klar: „Das hat mit uns nichts zu tun. Das ist nicht unsere Politik. Die gehören nicht zu uns und wir müssen das mit aller Klarheit sagen: Wir wollen euch nicht dabeihaben“ (zit. n. Tagesschau 2007).

In der Folge wurde Peter Wahl für sein Statement sowohl von Teilen der globalisierungskritischen Bewegung als auch Attac-intern harsch kritisiert.Footnote 73 Im Zentrum der Diskussionen stand die Frage, inwieweit Wahl durch seine Äußerungen gezielt das Konsensprinzip und damit das basisdemokratische Selbstverständnis des Netzwerks missachtet habe. Einer Stellungnahme der Attac-Ortsgruppe Marburg war bspw. zu entnehmen: „Peter Wahl ist ein Sprecher unter mehreren von Attac Deutschland. Weder ist er Attac, noch ist er der Kopf der globalisierungskritischen Bewegung, oder gar der gesamten Protestbewegung, die sich am Samstag […] in Rostock versammelt hat. […] Durch Peter Wahls Auftreten werden seine Aussagen in der Öffentlichkeit mit der ‚Position Attacs‘ gleichgesetzt“ (Attac-Ö 2010). Die Mehrheit des Attac-Koordinierungskreises plädierte damals in Anbetracht der Ausschreitungen am Rostocker Stadthafen und den nachfolgenden Diskussionen für einen Ausstieg aus dem vorher mit diversen Gruppen vereinbarten Blockadekonzept (vgl. Rätz 2010: 61); die Attac-Basis hingegen wollte auch weiterhin an diesem festhalten. Letztere konnte sich schließlich durchsetzen, wenngleich die Entscheidung Attac-intern äußerst umstritten blieb. Werner Rätz, einer der Mitbegründer von Attac-Deutschland, notierte hierzu einige Jahre später: „Bei einer Versammlung von Attacies war die Koordinierungsmehrheit praktisch auf sich selbst gestellt, eine überdeutliche Mehrheit plädierte für den Verbleib von Attac in der Aktion. Es spricht für die tiefe Verankerung des Konsensprinzips in Attac, dass die Koordinierungskreismitglieder praktisch alle das Votum der Versammlung akzeptierten“ (ebd.). Gleichwohl ergänzte Rätz an anderer Stelle durchaus selbstkritisch: „Konsensbildung ist, wenn so viel auf dem Spiel steht, sehr schwierig und sehr lähmend und er [gemeint ist hier der Konsens; Anm. B. A.] wurde dann [im Zuge der Ausschreitungen in Rostock, Anm. B. A.] formal auch gar nicht mehr gesucht“ (ebd.).

Neben dem Prinzip der Gewaltfreiheit gehört bei Attac auch die Abgrenzung zu rechtsextremen Akteuren zu einer der zentralen politischen Leitlinien. Grundsätzlich kann jede Person, unabhängig von ihrer politischen Verortung, Fördermitglied des Attac-Trägervereins werden und sich ehrenamtlich in den Arbeitsgruppen, Kampagnen oder Attac-Ortsgruppen engagieren. Im Selbstverständnispapier heißt es hierzu: „Wer bei Attac mitmacht, kann christliche oder andere religiöse Motive haben, AtheistIn, HumanistIn, MarxistIn sein oder anderen Philosophien anhängen. Attac hat keine verbindliche theoretische, weltanschauliche, religiöse oder ideologische Basis (Attac-D 2001/2006). Dieser gelebte Pluralismus spiegelt sich auch in der Mitgliederstruktur von Attac-Deutschland wieder: Neben Oskar Lafontaine, Frank Bsirske oder Konstantin Wecker trat bspw. auch der frühere Generalsekretär der CDU, Heiner Geißler, dem Attac-Netzwerks bei. Ein Ausschlusskriterium für die Mitgliedschaft sind jedoch rechtsextreme Einstellungen und Verhaltensweisen. Denn nach dem eignen Selbstverständnis ist für „Rassismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, Chauvinismus und verwandte Ideologien“ (ebd.) kein Platz bei Attac. Seitens des Netzwerks wird ferner betont: „Wir wollen eine Welt, in der Demokratie für alle Menschen gewährleistet ist und kulturelle Vielfalt erhalten bleibt“ (Attac-D 2002b: 64). Diesen demokratischen Leitgedanken hob Martin Uebelacker auch nochmals 2020 in seiner Eröffnungsrede im Rahmen der Jubiläumsveranstaltung zum 20-jährigen Bestehen des Attac-Netzwerks hervor: „Ein Demokratieverständnis, das Schwächere ausgrenzt, im autoritären Gewand daherkommt und auf menschenfeindliche Maßnahmen setzt, ist hochgefährlich und darf in unserer Gesellschaft keinen Raum gewinnen“ (Uebelacker 2020).

Bei Verstößen gegen diesen demokratischen Wertkonsens führt dies mitunter auch zum Ausschluss aus dem Netzwerk. Ein Beispiel hierfür ist Hajo Köhn, ehemaliges Mitglied der bundesweiten Attac-Arbeitsgruppe „Finanzmarkt und Steuern“, welcher 2020 an den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen teilnahm und sich als Organisator der diesbezüglichen Demonstrationen in Frankfurt am Main nicht klar von rechtsextremen Positionen distanzierte bzw. diese sogar tolerierte (vgl. Jürgs 2020). Attac-Deutschland schloss ihn daraufhin aus. Bereits kurz zuvor hatte der Attac-Koordinierungskreis die Kundgebungen von Coronaleugner*innen zum Anlass einer Stellungnahme genommen: „Der Attac-Konsens lehnt jegliche Zusammenarbeit mit Personen mit rassistischem, antisemitischem oder verschwörungstheoretischem Gedankengut ab. Wir sprechen uns daher ganz klar gegen die Teilnahme an solchen Demonstrationen und die Verbreitung solcher Inhalte aus“ (Attac-D 2020t). Hiermit knüpfte man gewissermaßen an die 2019 im Leitfaden für Attac-Gruppen skizzierte Position an, wonach sich das Netzwerk „gegen jede Form von Rassismus, Rechtspopulismus, nationale Ressentiments sowie andere Formen gruppenbezogener Diskriminierung“ (Attac-D 2019d: 10) wendet. Für Bildungsveranstaltungen von Attac-Deutschland bedeutet dies, dass z. B. auch Vertreter*innen der AfD und anderer rechtspopulistischer Zusammenhänge niemals zu Podiumsdiskussionen o. Ä. einzuladen sind (vgl. ebd.).Footnote 74

Attac versteht sich selbst als ein „basisdemokratisches Netzwerk“ (Götz 2004: 152), das vielen politischen Spektren eine Heimat bietet. Dennoch ist das Netzwerk aufgrund seiner politischen Zielsetzung und strategischen Ausrichtung auch innerhalb der globalisierungskritischen Bewegung nicht unumstritten. „Mit seinem innerhalb des linken Spektrums gemäßigten Kurs eines offensiven Reformismus, dem strikten Bekenntnis zur Gewaltfreiheit und undogmatischen Positionen ist Attac“, so Roland Roth und Dieter Rucht, „besonders für linksradikale Gruppen ein ständiger Stein des Anstoßes“ (Roth/Rucht 2008a: 505). Dem Netzwerk wird u. a. vorgeworfen, den Kapitalismus nicht grundsätzlich in Frage zu stellen, sondern ihn durch reformistische Politikansätze, wie z. B. die Tobin-Steuer, im Kern zu stabilisieren (siehe z. B. Krebbers 2005: 41 f.). Damit einher gehe eine Fixierung auf staatliche Regulierungsinstrumente und die Glorifizierung des keynesianischen Wohlfahrtsstaatsmodells. Diesen Gedanken folgend hob auch Albrecht von Lucke hervor, dass Attac zwar „[i]m Namen und Erscheinungsbild radikal, in den Positionen [jedoch] reformistisch“ (von Lucke 2002: 171) sei. Für Hendrik Sander ist diese Trennung von gemäßigten und radikalen Strömungen hingegen nicht ganz so eindeutig auszumachen. So unterscheidet er mit Blick auf die bei Attac vertretenen Positionen grob zwischen einer reformorientierten und einer antikapitalistischen Richtung (vgl. Sander 2016: 24). Dies deckt sich ebenfalls mit dem Selbstverständnis vieler lokaler Attac-Gruppen, wie ein Beispiel aus Koblenz zeigt:

„In diesem Korridor emanzipatorischen Politikverständnisses [gemeint ist hier der Attac-Grundkonsens; Anm. B. A.] haben unterschiedliche Vorstellungen über Wege und Instrumente wie dieser Konsens in praktische Politik umgesetzt werden kann, Platz. Das reicht von jenen, die sich für einzelne Aspekte der Attac Programmatik […] engagieren wollen, über jene, die für eine demokratische Regulierung und Zivilisierung der Globalisierung und einen radikalen Reformismus eintreten, bis hin zu jenen, die der Auffassung sind, dass das bestehende Wirtschaftssystem als solches in Frage zu stellen ist. Der Respekt dieses Pluralismus ist unabdingbare Geschäftsgrundlage von Attac. Die Erarbeitung konkreter Politik und praktischer Maßnahmen werden aus der Vielfalt heraus und in solidarischer Auseinandersetzung unterschiedlicher Meinungen entwickelt.“ (Attac-Koblenz 2020)Footnote 75

Schon in der Gründungsphase des Netzwerks übte vor allem der bzw. die BUKO Kritik an dem sich formierenden „Netzwerk zur demokratischen Kontrolle der Finanzmärkte“. In einem vom BUKO-Arbeitsschwerpunkt Weltwirtschaft am 24. Mai 2000 veröffentlichten offenen Brief bemängelte man u. a. die stark „etatistische und neokeynesianische Schlagseite des Netzwerkes“ (BUKO 2000) und führte hierzu ergänzend an, dass der Nationalstaat mitnichten eine „neutrale Instanz […] [sei], derer sich alle gleichermaßen bedienen [könnten]“ (ebd.). Zudem wäre die von Attac kritisierte „Struktur des globalen Finanzmarktes […] nicht gegen Staaten oder Regierungen, sondern durch sie bzw. mit ihnen verwirklicht“ (ebd.) worden. Der von der bzw. dem BUKO angedeutete Vorwurf des „Nationalstaatsidealismus“ (Aderhold/Roth 2005: 158) wurde in der Folge auch von anderen globalisierungskritischen Gruppen und Akteuren aufgegriffen und prägt bis heute die Debatte um die politische Einordnung des Attac-Netzwerks. Nicht unerwähnt bleiben sollte an dieser Stelle allerdings, dass z. B. die Journalistin Ruth Jung schon 2002 darauf hinwies, dass Attac anstelle einer „Globalisierung ‚von oben‘ […] [auf eine] Globalisierung ‚von unten‘“ (Jung 2002: 33) setze und sich hier eben nicht „auf nationale Souveränitäten, auf tradierte Modelle eines Etatismus“ (ebd.), sondern „auf Demokratie, auf Volkssouveränität, auf die Souveränität einer transnationalen globalisierten Citoyenneté“ (ebd.) fokussiere. Attac selbst führte einige Jahre später an, dass die Ablehnung der „gegenwärtige[n] Form der Globalisierung […], die neoliberal dominiert und primär an den Gewinninteressen der Vermögenden und der Konzerne orientiert“ (Attac-D 2012a) sei, im Umkehrschluss nicht heiße, dass man „zurück zu einer in erster Linie nationalstaatlich verfassten Ökonomie und Sozialpolitik“ (ebd.) wolle. Eine zukünftige Gesellschaft solle vielmehr „im globalen Maßstab soziale Rechte“ (ebd.) verwirklichen, „gerecht und demokratisch verfasst“ (ebd.) sein und „die natürlichen Ressourcen“ (ebd.) schonen.

Das Attac-Netzwerk verstand sich von jeher als „Scharnier zwischen ganz verschiedenen AkteurInnen und Spektren“ (Sander 2016: 45). Es nahm nach Ansicht von Attac-Aktivist*innen, die von Hendrik Sander im Rahmen seiner 2016 erschienenen Studie befragt wurden, stets „eine strategische Schlüsselposition“ (ebd.) ein, in dem es zum einen „hierarchisch strukturierte Verbände mit losen Netzwerken und Aktionsgruppen“ (ebd.) zusammenbrachte sowie zum anderen „zwischen reformorientierten und revolutionären Gruppen“ (ebd.) vermittelte. Wie das langjährige Attac-Ratsmitglied Martin Uebelacker 2020 betonte, war und ist die „Überparteilichkeit von Attac […] eine große Stärke. So finden sich hier Attac-Mitglieder aus allen demokratischen Parteien zusammen mit vielen Menschen ohne Parteibuch, die alle an gemeinsamen Themen, Kampagnen und Zielen zur Gestaltung der Gesellschaft arbeiten“ (Uebelacker 2020). Ob und inwieweit das Netzwerk diesen Ansprüchen überhaupt gerecht wird, ist aber sowohl innerhalb Attacs als auch in der Bewegungsforschung umstritten. Ein von Sander interviewtes Attac-Mitglied stellte rückblickend auf die jüngste Vergangenheit des Netzwerks fest: „Eine Zeit lang [hatte] Attac auf jeden Fall […] eine Scharnierfunktion zwischen radikalen Linken und einem bürgerlichen NGO-Spektrum […]. Aber der Rolle wird es gar nicht mehr gerecht, ist mein Eindruck, weil es nicht mehr die Relevanz hat und in beide Richtungen nicht mehr so die guten Kontakte […]“ (zit. n. Sander 2016: 46).Footnote 76 Des Weiteren hat die sukzessive Ausweitung des Themenspektrums bei Attac-Deutschland bei vielen Beobachter*innen den Eindruck der Beliebigkeit bestärkt.Footnote 77 Denn mittlerweile deckt Attac mit seinen unterschiedlichen Arbeitszusammenhängen eine Vielzahl an inhaltlichen Schwerpunkten ab, von Steuerpolitik, Klimagerechtigkeit, Energiedemokratie, Menschenrechten, Friedenspolitik und Migration bis hin zu Arbeit und Soziales. Hinzu kommt, dass eine wesentliche Kernforderung des Netzwerks, die Einführung einer Finanztransaktionssteuer, inzwischen auch von zahlreichen deutschen und europäischen Politiker*innen aufgegriffen wurde – wenngleich mit unterschiedlichen, inhaltlichen Nuancen und politischer Ausrichtung.

5.2.4 Lernen zum Handeln: Attac als aktionsorientierte Bildungsbewegung

Das Leitmotiv des Attac-Netzwerks ist die Trias aus „Bildung, Expertise und Aktion“ (Attac-D 2019d: 9) bzw. „Analyse, Bildung und Aufklärung“ (Sander 2016: 9)Footnote 78, die auch in der Satzung des Attac-Trägervereins verankert ist. In Letzterer wird z. B. explizit auf die „Förderung der Bildung“ (Attac-D 2015a: 1) hingewiesen und verschiedene Maßnahmen zur Umsetzung dieses Vereinszwecks aufgeführt, so u. a. die „Bildungsarbeit an Schulen und anderen Bildungseinrichtungen sowie die Erstellung von Bildungsmaterialien“, die „Durchführung von Seminaren und Bildungsveranstaltungen“, die „Initiierung und Durchführung von Kongressen, Veranstaltungen und Workshops“ zu unterschiedlichen Themenfeldern (wie bspw. zum demokratischen Staatswesen, Klimapolitik, Umweltschutz oder Nord-Süd-Differenz), die „Durchführung und Förderung wissenschaftlicher Projekte und Forschungsarbeiten“ oder etwa auch „entwicklungs-, umwelt- und friedensbezogene internationale Begegnungen von Jugendlichen und Erwachsenen bei Seminaren, Sommercamps und themenbezogenen Veranstaltungen“ (vgl. ebd.: 1 f.). Dem französischen Vorbild folgend hatten die Gründer*innen von Attac-Deutschland sich ebenfalls „dem mittel- und langfristig angelegten Vorhaben der Volksbildung verschrieben“ (Strobel 2011: 200). Schon in der Gründungssatzung von Attac-Frankreich vom 3. Juni 1998 war bspw. die „Erstellung und Verbreitung von Informationsmaterialien“ (zit. n. Attac-F 2002: 119) als zentrales Motiv des Netzwerks aufgeführt.Footnote 79

Ziel von Attac-Deutschland ist es, „aufklärerisch zu wirken“ (Attac-Mitglied, zit. n. Sander 2016: 48) und die vielfach betonte „ökonomische Alphabetisierung“ der Bevölkerung weiter voranzutreiben. Durch diese Arbeit erhofft man sich, zum Verständnis globaler Zusammenhänge beizutragen und die öffentliche Meinung im Sinne von Attac nachhaltig zu beeinflussen. Des Weiteren ist Attac bestrebt, auch die eigenen Mitglieder zu qualifizieren. Denn für viele ist das Engagement bei Attac mit einem konkreten Bildungsinteresse und dem Wunsch nach Weiterbildung verbunden (vgl. ebd.: 20).Footnote 80 Im Leitfaden für Attac-Gruppen wird der Bildungsanspruch des Netzwerks wie folgt beschrieben:

„Der Bildungsauftrag von Attac ist sowohl nach innen als auch nach außen zu verstehen: Um wirkungsvoll in die Bevölkerung hinein aktiv zu werden, müssen sich die Aktiven in der Gruppe oft erst selbst Wissen über globale und lokale Ökonomiezusammenhänge verschaffen. Unter dem Stichwort ‚Ökonomische Alphabetisierung‘ steht Attac für selbst gesteuerte Lernprozesse; sie dienen als Schlüssel zur Freilegung von kritischem Bewusstsein und zur praktischen Konstruktion einer ‚anderen Welt‘.“ (Attac-D 2019d: 9)

Dieser bildungsorientierte Ansatz wird ebenso von vielen Attac-Gruppen als Leitlinie ihrer örtlichen Arbeit verstanden. Als Beispiel kann in diesem Zusammenhang die Attac-Gruppe aus Marburg aufgeführt werden, die in einem „Steckbrief“ zum 10-jährigen Jubiläum des Netzwerks 2009 folgende Absichtserklärung formulierte: „[W]ir haben auf jeden Fall das Ziel noch viele Menschen über die Hintergründe der Finanz- und Wirtschaftskrise aufzuklären. Da hat Attac ganz klar einen Bildungsauftrag, das heißt wir müssen Informationen bündeln, um sie unter die Leute zu bringen und natürlich Alternativen aufzuzeigen“ (Attac Marburg 2009: 75).

Um im Sinne einer „aufklärenden Bildungsarbeit“ (Leidig et al. 2004: 121) die Menschen „handlungsfähig [zu] machen und sie zur Mitgestaltung […] [zu] befähigen“ (ebd.), bedarf es, nach Ansicht von Attac-Deutschland, einer Durchleuchtung der „Hintergründe und Zusammenhänge der Globalisierung“ (ebd.) mit dem Ziel, „zu erkennen, wer welche Interessen verfolgt und mit welchen Methoden das geschieht“ (ebd.). Zudem wird von Sabine Leidig et al. betont: „Das wichtigste Element ist dabei die ‚ökonomische Alphabetisierung‘, denn wenn wir [gemeint ist hier Attac-Deutschland; Anm. B. A.] die wirtschaftlichen Prozesse als Triebkraft der Globalisierung nicht begreifen, können wir sie nicht wirksam bekämpfen“ (ebd.). Die Bildungsarbeit von Attac-Deutschland zielt demzufolge immer auch auf die Stärkung der Handlungsfähigkeit und die Erzeugung von Gegenöffentlichkeit bzw. den Aufbau einer „anti-neoliberalen Gegenhegemonie“ (Sander 2016: 47).Footnote 81 Bezugnehmend auf letzteren Aspekt lohnt sich ebenfalls ein Blick auf den Wissenschaftlichen Beirat von Attac-Deutschland und den von Elmar Altvater 2004 skizzierten Leitgedanken dieses Gremiums. Demnach ist Globalisierung für den Beirat „nicht nur, aber vor allem, ökonomische[r] und finanzielle[r]“ (Altvater 2004: 167) Natur, woraus die Notwendigkeit abzuleiten wäre, ökonomische Zusammenhänge nicht nur zu verstehen, sondern im Kontext einer „‚ökonomische[n] Alphabetisierungskampagne‘ (Bourdieu) gegen die neoliberalen Erklärungsmuster und deren Hegemonie“ (ebd.) aktiv Aufklärungsarbeit zu leisten. Bildung und Aktion bewegen sich in diesem Kontext im steten Wechselspiel zueinander und sind nicht klar voneinander zu trennen (vgl. auch Attac-F 2002: 91). Bernhard Cassen, Mitbegründer von Attac-Frankreich und ehemals Generaldirektor von Le Monde diplomatique, hat hierfür einst das Begriffspaar der „aktionsorientierten Bildungsbewegung“Footnote 82 gewählt (vgl. Cassen 2002: 7). Darauf bezugnehmend ist im deutschen Kontext des Öfteren auch die Rede von einer „aktionsorientierte[n] Volksbildungsbewegung“ (Eskola/Kolb 2002b: 160) oder einer „Bildungsbewegung mit Aktionscharakter und Expertise“ (Attac-D 2017a), welche über „Vorträge, Publikationen, Podiumsdiskussionen und eine intensive Pressearbeit […] die komplexen Zusammenhänge der Globalisierungsthematik einer breiten Öffentlichkeit [vermittelt] […] [,] Alternativen zum neoliberalen Dogma [aufzeigt]“ (Attac-Koblenz 2019) sowie mit speziellen Aktionen den „notwendige[n] Druck auf Politik und Wirtschaft zur Umsetzung der Alternativen“ (ebd.) erzeugen will.Footnote 83

Neben der ökonomischen Alphabetisierung, die insbesondere „die Aneignung und Verbreitung von Wissen darüber, wie wirtschaftliche Prozesse funktionieren (sollten)“ (Attac-D 2019d: 25), zum Ziel hat, ist die „‚Aktionsorientierung‘, das heißt der Versuch, mit verschiedensten Mitteln die öffentliche Aufmerksamkeit auf diese Zusammenhänge zu lenken“ (ebd.), wesentlicher Orientierungspunkt sowie Richtschnur für die eigene Bildungsarbeit. Dem Leitfaden für Attac-Gruppen ist folglich zu entnehmen: „Bildung ist neben Expertise die Voraussetzung, um in der Öffentlichkeit als kompetente Akteurin der Globalisierungskritik wahrgenommen zu werden. Aktionen ohne das Wissen um die wirtschaftlichen Gesamtzusammenhänge haben keine Substanz – aber umgekehrt blieben Wissen und Expertise ohne Aktion auf halbem Weg stecken“ (ebd.: 31). Wenn es also darum gehe, so Attac-Deutschland, „politische Forderungen zu vermitteln, gehen Bildungsarbeit, inhaltliche Expertise und Aktion Hand in Hand“ (Attac-D 2009c: 140) – womit letztlich wiederum auf die oben genannte Trias aus Bildung, Expertise und Aktion Bezug genommen wird.

Doch wer setzt die „intellektuelle[n] Impulse“ (Grefe 2005: 381) und sorgt für die Umsetzung der „ökonomische[n] Alphabetisierungskampagne“ (ebd.)? Wer trägt zur „Aufarbeitung und leicht verständliche[n] Vermittlung von komplizierten und wenig bekannten ökonomischen Zusammenhängen“ (Esokola/Kolb 2002b: 162) bei? Im Wesentlichen sind dies die Attac-Ortsgruppen, die jährlich eine Vielzahl unterschiedlicher Bildungsformate anbieten und so auf lokaler Ebene – dem eigenen Anspruch als aktionsorientierte Bildungsbewegung folgend – zur politischen und ökonomischen Alphabetisierung der Bevölkerung beitragen. Die von den Ortsgruppen organisierten Bildungsveranstaltungen richten sich sowohl an die eigenen Mitglieder als auch an die breite Öffentlichkeit. Die Angebotspalette reicht dabei von Vorlesungen, Ausstellungen, globalisierungskritischen Stadtrundgängen, Flashmobs, Straßentheatern, Filmvorführungen und abendlichen Diskussionsveranstaltungen bis hin zu mehrtägigen Tagungen, internen Weiterbildungsangeboten, wie z. B. in Form von Methoden-Workshops zu Aktionsfindung, Rhetorikseminaren, Moderationstrainings u. Ä. m. (vgl. hierzu etwa Attac-D 2019d: 57), Schulungen für lokale Attac-Gruppen oder „kollektiven Lernräumen“ (vgl. Sander 2016: 11)Footnote 84, die bspw. im Rahmen der eigenen „Sommerakademien, der Europäischen Sommeruniversität, den Aktionsakademien, der ‚Attacademie‘ und nicht zuletzt durch die gemeinsamen Projekte und Kampagnen geschaffen [werden]“ (ebd.). Ferner gehören z. B. auch Workshops in Schulen zum Repertoire der Attac-Bildungsarbeit. Exemplarisch für dieses Betätigungsfeld steht eine Veranstaltung der Attac-Ortsgruppe Hanau. Diese hatte einst in Kooperation mit der GEW Hanau den Dokumentarfilm „We Feed the World“ des österreichischen Regisseurs Erwin Wagenhofer im Rahmen einer Sondervorstellungen für Hanauer Schüler*innen gezeigt und im Anschluss zur Diskussion eingeladen (vgl. Strobel 2011: 202 f.).

Ein „zentrales Element“ (Leidig et al. 2004: 122) der politischen Bildungsarbeit von Attac-Deutschland und wesentlicher „Ort globalisierungskritischer Weiterbildung“ (Attac-D 2010a: 9) innerhalb des Netzwerks sind die seit 2002 stattfindenden mehrtägigen „Sommerakademien“. Diese richten sich nicht nur an Attac-Mitglieder, sondern sind offen für alle Interessierte. In Seminaren, Workshops, Podiumsdiskussionen, Buchvorstellungen, Exkursionen u. Ä. m. werden unterschiedliche politische Themenfelder beleuchtet, „politisches Handwerkzeug“ (Attac-D 2010b: 9) vermittelt sowie gemeinsame Strategiekonzepte erörtert. Die erste Attac-Sommerakademie fand 2002 in Marburg, die zweite bereits im darauffolgenden Jahr in Münster mit über 1.000 Teilnehmer*innen, „50 mehrtägigen Seminaren, 120 Workshops, drei großen Podiumsdiskussionen und einem breiten Kulturprogramm“ (Attac-D 2003a) statt. Es folgten weitere Zusammenkünfte in Dresden (2004), Göttingen (2005), Karlsruhe (2006) oder Fulda (2007). Für die jüngsten Sommerakademien wählte man u. a. Düsseldorf (2016) und Bochum (2019)Footnote 85 als Austragungsorte – 2021 wurde die Sommerakademie in Zusammenarbeit mit dem Erfurter Verein „Bildungskooperationen für eine gerechte Globalisierung“ pandemiebedingt als Online- und Hybrid-Veranstaltung umgesetzt. In Bochum umfasste das mehrtägige Programm über 60 Workshops und Seminare, vier Foren, eine Podiumsdiskussion zum Thema „Solidarische Stadt“, ein abendliches Kulturprogramm sowie eine gemeinsame Aktion der Attac-Kampagne „einfach-umsteigen: Klimagerechte Mobilität für alle“, in deren Kontext am zweiten Veranstaltungstag eine so genannte „Gehzeug“-Parade in der Innenstadt durchgeführt wurde. Die mehrtägige Veranstaltung in der Bochumer Erich-Kästner-Gesamtschule fand u. a. in Kooperation mit der Otto-Brenner- und Rosa-Luxemburg-Stiftung, der Bildungsstätte Anne Frank und dem Netzwerk Plurale Ökonomie e. V. statt.

Abbildung 5.1
figure 1

Attac-Sommerakademie 2019 in Bochum; Plenum zum Thema „Vom Leben auf Kosten anderer – zu einer solidarischen Lebensweise“ (eigene Aufnahme)

Vielfach bildeten die Sommerakademien in der Vergangenheit den Auftakt für bundesweite Attac-Kampagnen, wie z. B. 2005 gegen den Discounter Lidl, dem seinerzeit Preis-, Umwelt- und Sozialdumping vorgeworfen wurde, oder vertiefende inhaltliche Arbeiten an bestimmten Schwerpunktthemen. Von Johanna Schreiber und Sabine Leidig werden die Akademien aufgrund dessen auch als unverzichtbarer „energiepolitischer Knotenpunkt im Netzwerk“ (Schreiber/Leidig 2011: 533) beschrieben. Neben der Wissensvermittlung stehen hier vor allem die Aktionsplanung, Kampagnenvorbereitung sowie der gegenseitige Austausch und die Vernetzung im Mittelpunkt. In der Regel umfassen die Veranstaltungen ebenfalls ein kulturelles Rahmenprogramm mit Film- und Theatervorführungen, Konzerten, Lesungen und Kultur-Workshops. Hinsichtlich der Zusammensetzung der Teilnehmer*innen und ihrer Vorkenntnisse führten Schreiber und Leidig einst aus: „Die Teilnehmenden kommen aus der ganzen Republik, sind zwischen 17 und 70 Jahre alt und etwa zur Hälfte Frauen. Sie haben viel, etwas oder gar keine Erfahrung mit politischer Aktivität oder mit Attac und sind zumeist sehr bildungsnah“ (ebd.: 532). Die Vorbereitung, Planung und Umsetzung der Sommerakademien obliegt einer ehrenamtlichen Vorbereitungsgruppe, die von hauptamtlicher Seite zusätzlich unterstützt wird (vgl. ebd.).

Anknüpfend an die Sommerakademien, die oftmals auch als „Mitmachakademie[n]“ (ebd.) bezeichnet werden, finden seit 2008 die „Europäischen Sommeruniversitäten“ von Attac statt. Diese dienen als „internationale[s] Bildungs- und Vernetzungstreffen sozialer Bewegungen“ (Attac-D 2017c) und wurden bislang entweder in Frankreich oder Deutschland durchgeführt.Footnote 86 An der ersten Sommeruniversität in Saarbrücken nahmen ca. 800 Aktivist*innen und Interessierte aus insgesamt 28 Ländern teil (vgl. Schreiber/Leidig 2011: 533). Zur vierten, länderübergreifenden Sommeruniversität von Attac in Toulouse kamen 2017 mehr als 2.000 Teilnehmer*innen aus ganz Europa, um in knapp 100 Workshops, Seminaren und Diskussionsforen über Themen wie Klimagerechtigkeit, Rechtspopulismus oder Freihandelsabkommen zu diskutieren, gemeinsame (Gegen-)Strategien zu entwickeln und unterschiedliche Aktionsideen auszutauschen (vgl. Attac-D 2017d). Drei Jahre zuvor war bereits eine ähnlich große Resonanz zu verzeichnen: Mehr als 2.000 Interessierte nahmen damals an den rund 120 Foren, Workshops und Seminaren in der Universität Paris-Diderot teil.

Für Mitglieder des deutschen Netzwerks gibt es in Form der 2005 ins Leben gerufenen Attac-Aktionsakademie die Möglichkeit, sich das „notwendige[.] Handwerkzeug[.] für erfolgreiche Aktionen und Kampagnen“ (Attac-D 2009c: 140) in einer mehrtägigen Bildungsveranstaltung anzueignen; wodurch die Überführung der theoretischen Überlegungen in die Praxis erleichtert und das Handlungsrepertoire der teilnehmenden Akteure erweitert werden sollen. Bei der Aktionsakademie handelt es sich um eine „aktivistische Aus- und Weiterbildung“ (Attac 2019g), die sich, nach eigenem Bekunden, „an Menschen aus allen Teilen der bunten globalisierungskritisch-sozial-ökologischen Bewegung“ (ebd.) richtet und damit auch für Mitglieder anderer politischer Gruppierungen geöffnet ist. Im Jubiläumsband zum 10-jährigen Bestehen von Attac-Deutschland wurden die Grundzüge der Aktionsakademie wie folgt skizziert: „In mehrtägigen Seminaren und Workshops üben rund 100 Attac-Mitglieder und Interessierte gewaltfreie Aktionen und zivilen Ungehorsam, Straßentheater, Medienaktivismus und Pressearbeit, Clownerie, Sambatrommeln, Großpuppenbau, Aktionslogistik, Moderationstechniken, Stelzen-Laufen, Adbusting, Body-painting, Banner-Malen oder Klettern“ (Attac-D 2009c: 140). Die Aktionsakademie wird im eigenen Werbekontext von Attac als „DIE [Hervorhebung im Original] Bildungsveranstaltung zu ‚Kreativen Protestformen‘“ (Attac-D 2020f) beschrieben. Die aktionsspezifischen Schwerpunkte haben sich in den letzten Jahren nur wenig verschoben. So sind Adbusting, Rebel Clowning, Aktionstrainings, Aktionsklettern oder Aktionsfotografie nach wie vor zentrale Bestandteile des Veranstaltungsprogramms. Im Vorfeld von Protestaktionen, Gegengipfeln oder Kampagnen dienen die Attac-Aktionsakademien auch zur Entwicklung von konkreten Methoden und Aktionsformen.Footnote 87 Eine Besonderheit stellte in der Vergangenheit die Aktionsakademie 2014 im oberösterreichischen Steyr dar, die zusammen mit Attac-Österreich, Greenpeace und Südwind sowie mit Unterstützung von Global 2000 und Amnesty International umgesetzt wurde.

Ferner bietet Attac für seine Mitglieder und Aktive „in anderen sozialen Bewegungen“ (Attac-D 2020a) in Form der so genannten Attacademie seit 2006 einen „Weiterbildungskurs[.] für angehende Bewegungsarbeiter und -arbeiterinnen“ (Attac-D 2009c: 142) an. Dort sollen „die Teilnehmenden die Fähigkeit entwickeln, ihr erworbenes Wissen als Multiplikatoren weiter zu geben [sic!] und so emanzipative Lernprozesse in der Bewegung zu initiieren und zu begleiten“ (ebd.). Ziel des Konzepts ist dabei vor allem die Erwerbung von „Urteilsfähigkeit und Handlungskompetenz“ (Schreiber/Leidig 2011: 536). Die Attacademie ist als ein neunmonatiges „studien- und berufsbegleitendes Weiterbildungsprogramm zu Theorie und Praxis der Globalisierungskritik“ (Attac-D 2014b: 8) ausgelegt und umfasst sechs mehrtägige Seminare mit einer Länge von vier bis fünf Tagen sowie begleitenden Webinaren.Footnote 88 Zum Kurskonzept der Attacademie gehört die Umsetzung eines selbstgewählten Praxisprojekts mit Unterstützung und inhaltlicher Begleitung „der Kursgruppe und Mentor*innen aus verschiedenen Zusammenhängen“ (BAK 2020). In der Vergangenheit fanden bereits mehrere Projektideen der Attacademie-Teilnehmenden ihren Weg in die bundesweiten Attac-Strukturen. Zu nennen sind hier bspw. Noya, das Jugendnetzwerk von Attac, oder die zahlreichen „Bildungsmaterialien zu alternativer Wirtschaftsweise“ (ebd.), die in den letzten Jahren über das Netzwerk verbreitet wurden. Mit der Attacademie soll ein „solidarische[r] und selbstbestimmte[r] Lernraum“ (ebd.) zur ökonomischen Alphabetisierung geschaffen werden. Die Kursinhalte und Zielsetzung des Fortbildungsangebots werden von Attac-Deutschland wie folgt beschrieben:

„Die Teilnehmenden der Attacademie erarbeiten sich […] einen fundierten Überblick über verschiedene maßgebliche Wirtschaftstheorien sowie über die theoretische und historische Analyse des Kapitalismus und die Kritik daran. Methodisches Handwerkszeug wie Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Kampagnenplanung, Aktionsplanung, Moderation, Fundraising sowie die Anleitung konstruktiver Gruppenprozesse vervollständigen das Seminarprogramm. Die Kombination von inhaltlichem, theoretischem und methodischem Lernen und konkreter Praxis in einer festen Gruppe schafft einen besonderen Lern- und Reflexionsraum. In der Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Schwerpunktthema eignen sich die Teilnehmenden nicht nur Basiswissen an, sondern sammeln auch konkrete politische Erfahrung.“ (Attac-D 2020a)Footnote 89

Die Attacademie ist ein Projekt der „Bewegungsakademie e. V.“ mit Sitz im Verdener Ökozentrum – „finanziert durch Attac-Deutschland und gefördert von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und durch ENGAGEMENT GLOBAL [Hervorhebung im Original] mit finanzieller Unterstützung des Bundesministerium[s] für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“ (BAK 2020). Die Teilnehmer*innenzahl ist auf 16 Personen beschränkt. Das Kursangebot, das auch als „Weiterbildung für solidarisches, nachhaltiges und demokratisches Wirtschaften“ (ebd.) verstanden wird, umfasst etwa 160 Unterrichtsstunden verteilt auf insgesamt 27 Seminartage. Die Teilnehmenden sollen zum einen zur „aktiven Mitarbeit in Kampagnen, Arbeitsgruppen oder lokalen Attac-Gruppen“ (Attac-d 2014b: 8) ermutigt sowie zum anderen für die „Initiierung wirkungsvoller politischer Projekte auf allen gesellschaftlichen Ebenen“ (ebd.) qualifiziert werden. Folglich geht es bei der Attacademie nicht nur um eine „Auseinandersetzung und Analyse politisch-gesellschaftlicher Verhältnisse“ (Grobe 2017: 41), sondern ebenso um das „Entwickeln von politischer Handlungs- und Vermittlungskompetenz“ (ebd.) anhand der Arbeit an einem konkreten Praxisprojekt. Wie Schreiber und Leidig ergänzend hervorheben, werden als Referent*innen in der Attacademie „hauptsächlich Menschen mit Bewegungshintergrund ausgewählt, die ihre individuellen Erfahrungen mit der Gruppe teilen und in einen gesellschaftlichen Zusammenhang stellen“ (Schreiber/Leidig 2011: 537).

Neben der Attacademie, Attac-Aktionsakademie und Attac-Sommerakademie sind es aber vor allem die größeren Tagungen und Kongresse, die Attacs Bild in der Öffentlichkeit als Bildungsbewegung in den letzten Jahren geprägt haben. Schon in der Konstituierungsphase des Netzwerks organisierte man im Herbst 2001 im Audimax der TU Berlin unter dem Titel „Globalisierung ist kein Schicksal. Eine andere Welt ist möglich!“ den ersten deutschen Attac-Kongress mit mehr als 2.500 Teilnehmenden, insgesamt über 90 Workshops und einer Vielzahl an prominenten Gästen, wie z. B. Bernard Cassen, Horst-Eberhard Richter, Daniel Cohn-Bendit, Susan George oder Jean Ziegler. In den Folgejahren knüpfte man mit den McPlanet-Kongressen (letztmalig 2012), dem Kapitalismuskongress (2009), dem „Jenseits des Wachstums?!“-Kongress (2011) oder dem Europakongress (2018) an diesen Erfolg an; wenngleich zu berücksichtigen ist, dass die genannten Veranstaltungen vielfach mit Kooperationspartnern gemeinsam geplant und durchgeführt wurden. Zu den McPlanet-Kongressen in Berlin und Hamburg kamen jeweils zwischen 1.500 und 2.000, zum Kapitalismuskongress (2009) an der TU Berlin sogar etwa 2.500 Aktivist*innen (vgl. Attac-D 2009d oder Attac-D 2009e: 160). Am Europakongress 2018 in Kassel, der mit dem Fachgebiet „Globalisierung und Politik“ am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der dortigen Universität veranstaltet und durch zahlreiche Kooperationspartner (IG Metall, GEW, BUND, Heinrich-Böll-Stiftung u. a.) unterstützt worden war, nahmen insgesamt etwa 650 Interessierte teil. Das Programm beinhaltete drei Podien, zehn Foren und 60 Workshops. Eine Tagungsdokumentation erschien 2019 im VSA-Verlag unter dem Titel „Ein anderes Europa ist möglich!“. Letzteres war auch in der Vergangenheit nicht unüblich: Schon der oben erwähnte „Gründungskongress“ von Attac-Deutschland 2001 in Berlin war mit einer nachfolgenden Publikation dokumentiert worden.

Die Bereitstellung von Informations- und Weiterbildungsmaterialien ist Teil des Konzepts der „Gegenexpertise“ bzw. „Gegenöffentlichkeit“ und ein wesentliches Merkmal der eigenen Bildungsarbeit. Neben Tagungsdokumentationen zählen hierzu u. a. die Attac-Basistexte, die ebenfalls in Kooperation mit dem VSA-Verlag seit 2002 in unregelmäßigen Abständen zu aktuellen Themen der globalisierungskritischen Bewegung erscheinen (vgl. Attac-D 2002f: 9). Bei den Autor*innen der Texte handelt es sich um Expert*innen des Wissenschaftlichen Beirats und/oder um Attac-Mitglieder mit entsprechender Fachexpertise, bspw. aus Arbeits- oder speziellen Projektgruppen des Netzwerks. Mit den Basistexten verfolgt Attac-Deutschland das Ziel, „die Verständlichkeit von politischen, sozialen, ökonomischen und ökologischen Themen, die im Mittelpunkt der Bildungsarbeit stehen“ (Attac-D 2020b), zu verbessern und zugleich Werbung in eigener Sache zu betreiben. Unter dem Motto „Bücher für eine lernende Organisation“ (Attac-D 2006d: 19) sollen die Basistexte aber auch zur Qualifizierung der eigenen Mitglieder dienen sowie einen Beitrag zu bewegungsspezifischen Fachdiskussionen leisten. Die Verbreitung von Informations- und Bildungsmaterialien, wie den Attac-Basistexten, Broschüren und Zeitungen (siehe z. B. FaktenCheck Hellas) oder themenspezifischen Unterrichtsmaterialien, ist dabei eng verknüpft mit der Öffentlichkeits- und Kampagnenarbeit von Attac-Deutschland. Nahezu bei sämtlichen Aktionen und Bildungsveranstaltungen des Netzwerks kommen die hauseigenen Materialien zum Tragen: Sei es im Rahmen von globalisierungskritischen StadtrundgängenFootnote 90, Straßentheatern und Infoständen, als Begleitmaterial für AusstellungenFootnote 91 oder bei abendlichen Diskussionsveranstaltungen der örtlichen Attac-Gruppen.

Wie sehr der aktionsorientierte Bildungsansatz von Attac immer wieder mit dem Leitmotiv der Gegenöffentlichkeit und dem Anspruch der „ökonomischen Alphabetisierung“ korrespondiert, zeigt eine Aktion vom 21. März 2009. Damals hatte Attac-Deutschland bundesweit in mehr als 90 Städten über 150.000Footnote 92 kostenlose Ausgaben eines selbsterstellten Plagiats der Wochenzeitung DIE ZEIT in Umlauf gebracht (vgl. z. B. Kloth 2009 oder Reißmann 2009).Footnote 93 Darin war u. a. zu lesen, dass die WTO abgeschafft und durch ein weltweites, basisdemokratisches Entscheidungsverfahren ersetzt worden sei oder etwa, dass der Automobilkonzern Opel nun von der Belegschaft geführt werde. Als Erscheinungsdatum der acht Seiten umfassenden Ausgabe, auf deren Titelseite die Schlagzeile „Am Ende des Tunnels“ prangte, war der 01. Mai 2010 angegeben. Durch die Verbreitung der gefälschten Zeitung wollte Attac im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise (2007 ff.) nicht nur Aufklärungs- und Informationsarbeit im Sinne des Konzeptes der Gegenöffentlichkeit betreiben, sondern ebenso im Vorfeld der Großdemonstrationen in Frankfurt am Main und Berlin unter dem Motto „Wir zahlen nicht für Eure Krise“ (28. März 2009) die Öffentlichkeit für globalisierungskritische Themenfelder und alternative Lösungsansätze sensibilisieren sowie letztlich die jeweiligen Leser*innen zur Teilnahme an den Protesten motivieren. Vorbild für das ZEIT-Plagiat war eine Aktion der Aktivistengruppe „The Yes Men“, die bereits im Jahr zuvor zusammen mit mehr als 1.000 Unterstützer*innen über eine Millionen Exemplare einer gefälschten Ausgabe der New York Times in vielen US-amerikanischen Städten verteilt hatte. Einige Jahre später wiederholten „The Yes Men“ diesen Coup und verbreiteten insgesamt 25.000 gefälschte Zukunftsausgaben der Washington Post mit der Schlagzeile „UNPRESIDENTED“ – positioniert über einem Bild von Donald Trump und einem Leitartikel, der den vermeintlichen Rücktritt des US-Präsidenten bekannt gab (vgl. Hackman/Kesling 2019). Und auch für Attac blieb das ZEIT-Plagiat nicht die einzige Aktion dieser Art. So nutze man 2014 bspw. einen nachgeahmten Flyer des Einrichtungskonzerns IKEA, um dessen Steuervermeidungsstrategien bzw. „Steuertricks“ in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken (vgl. Attac-D 2020r: 7).

Allen Attac-Ortsgruppen steht für ihre Bildungsarbeit ein Referent*innenpool zur Verfügung, der die Suche nach geeigneten Fachexpert*innen und damit die Umsetzung der eigenen Veranstaltung vor Ort erleichtern soll. Vermittelt werden diese Referent*innen durch das Attac-Bundesbüro in Frankfurt am Main. Das Angebot richtet sich nicht nur an die eigenen Mitglieder, sondern wird seitens des Netzwerks ebenso als „Service für Bildungsträger, Schulen […] und andere Interessierte“ (Attac-D 2020d) verstanden. Die Themenpalette der Attac-Referent*innen reicht dabei von Postwachstum, alternativen Wirtschaftsformen, Migration, Demokratie und Lobbyismus bis hin zu Methoden politischer Praxis (wie etwa Pressearbeit, Aktionsplanung, Moderation etc.), Konsumkritik und Klimagerechtigkeit (vgl. ebd.). Ergänzend zum Attac-Bundesbüro, das auf verschiedene Weise bei der Planung von Bildungsveranstaltungen unterstützend wirkt (hierzu zählt bspw. auch die Bereitstellung von Bildungs- und Informationsmaterialien), wurde im März 2010 die „AG Bildungskoordination“ (BiKo) an den Attac-Rat angebunden. Das selbst gesteckte Ziel der BiKo ist es, die „Qualität der unterschiedlichen Bildungsangebote [von Attac-Deutschland] stetig zu verbessern“ (Attac-D 2019h) sowie Attac-Ortsgruppen bei der Umsetzung ihrer Veranstaltungen zu beraten und ggf. Hilfestellung zu leisten. Die BiKo begreift sich „als Vernetzungsstelle von an Bildungsarbeit interessierten innerhalb von Attac“ (Attac-D 2012b). Vermittelt über die BiKo beteiligte sich Attac-Deutschland an den Vorbereitungen der Konferenz „Bildung macht Zukunft – Lernen für die sozial-ökologische Transformation?“ (2019), die vom „Konzeptwerk Neue Ökonomie“, der Universität Kassel (Fachbereich Didaktik der politischen Bildung) und dem „Forum Kritische Politische Bildung“ veranstaltet wurde (vgl. Attac-D 2019h oder Eicker et al. 2020). In Gänze betrachtet ist der Einfluss der BiKo – als eine vom Attac-Rat anerkannte bundesweite Arbeitsgruppe (siehe hierzu Attac-D 2020e) – bezogen auf die Bildungsarbeit des Netzwerks aber eher begrenzt. Durch einige personelle Überschneidungen bestehen zwar Verknüpfungen zu anderen Bildungsbereichen von Attac (wie bspw. zur AG-Bildungsmaterial, dem Wissenschaftlichen Beirat oder zum Vorbereitungsteam der Sommerakademie), als koordinierende Instanz des bundesweiten Bildungsangebots konnte sich die BiKo innerhalb Attacs bislang allerdings noch nicht positionieren.Footnote 94

Finanziert wird die Bildungsarbeit in den lokalen Attac-Gruppen durch Gelder, die „anteilsmäßig auf Grundlage der Einnahmen der Mitgliedsbeiträge im [jeweiligen] Einzugsbereich“ (Attac-D 2019d: 39) vom Bundesbüro an die einzelnen Attac-Gliederungen weitergeleitet werden. Die Auszahlung der Mittel erfolgt jeweils zum Quartalsende und umfasst insgesamt ein Drittel der regionsspezifischen Mitgliedsbeiträge (vgl. Attac-D 2017e). Hinzu kommen in diesem Kontext auch noch Fördermittel und Zuwendungen von Stiftungen, öffentlichen Institutionen oder Kooperationspartnern (Gewerkschaften, Kirchengemeinden etc.), die zumeist an bestimmte Projekte oder Maßnahmen gekoppelt sind. Außerdem steht den einzelnen Attac-Gruppen ein so genannter „Regionalgruppentopf“ zur Verfügung. Dieser kann grundsätzlich von allen Regionalgruppen zur Refinanzierung bestimmter Veranstaltungen, öffentlicher Aktivitäten oder Publikationen abgerufen werden. Entscheidendes Kriterium ist hier jedoch, dass die beantragten Maßnahmen „sich unter den Bereich ‚Bildungs- und Informationsarbeit‘ subsummieren lassen“ (Attac-D 2017d) und inhaltlich dem Satzungszweck des Attac-Trägervereins entsprechen. In einer internen „Handreichung zur Mittelverwendung“ für Attac-Regionalgruppen werden als satzungsbezogene Themen bspw. genannt: „Demokratisches Staatswesen (soziale Gerechtigkeit, Steuergerechtigkeit,..) [sic!], Politische Bildung (Ziel: mündige, informierte Bürger/in, der/die sich in aktuellen gesellschaftlichen Fragen zu Wort melden kann); Forschung (Kooperationen Universitäten, Studien, etc.); Umweltschutz; Völkerverständigung (Solidarität)“ (Attac-D 2018a). Die Bewilligung der Mittel aus dem Regionalgruppentopf erfolgt durch die Geschäftsführung des Attac-Bundesbüros: Bei Anträgen, die eine Fördersumme von 300,00 EUR überschreiten, obliegt die Entscheidung der Finanz AG des Attac-Koordinierungskreises (vgl. Attac-D 2017d oder Attac-D 2017e).

Die Regionalgruppen verfügen zwar über eine weitgehende Unabhängigkeit im Attac-Netzwerk, dennoch sind sie dem Trägerverein untergeordnet. So können Regionalgruppen z. B. keine Förderanträge im Namen von Attac-Deutschland stellen oder in anderen Zusammenhängen als Körperschaft des öffentlichen Rechts auftreten. Mitgliedsbeiträge oder auch Spenden an das Netzwerk „sind formal Mittel des Attac Trägervereins“ (Attac-D 2018a), die von diesem verwaltet und an die einzelnen Attac-Gliederungen weitergeleitet werden. Die Einwerbung zusätzlicher Mittel speziell für die eigene Bildungsarbeit ist in jenen Fällen möglich, in denen die Regionalgruppen nicht als juristische Person in Erscheinung treten, sondern letztlich im eigenen Namen die Mittel einwerben und verwalten.

Zusammengefasst bilden die Regionalgruppen das wesentliche Fundament der Bildungsarbeit von Attac-Deutschland. Sie sind es, die die Aktivitäten des Attac-Trägervereins vor Ort durchführen (vgl. Attac-D 2018a) und Attac-spezifische Bildungsangebote auf lokaler Ebene initiieren.Footnote 95 Vielfach geschieht dies in Kooperation mit anderen Initiativen, Gruppen und Organisationen. Dies zeigt etwa das globalisierungskritische Filmfestival „globale“ in Bremen, das seit vielen Jahren von der dortigen Attac-Ortsgruppe in Zusammenarbeit mit dem Kommunalkino Bremen/CITY46 und zahlreichen weiteren Kooperationspartnern veranstaltet wird. Derartige Kooperationsverbünde sind gerade auch im Bildungsbereich, bspw. bezogen auf lokale Erwachsenenbildungsträger, vonseiten des Attac-Trägervereins explizit erwünscht (vgl. Attac-D 2019d: 40). So wurden in der Vergangenheit speziell mit VHSen zahlreiche Projekte erfolgreich umgesetzt: Erwähnenswert ist hier u. a. die seit mehreren Jahren stattfindende Vortragsreihe zu aktuellen politischen Themen mit der VHS LübeckFootnote 96, die Ausstellung „Tatort Erde – ein Planet wird verändert“ mit begleitenden Vorträgen und Foren mit der VHS Essen (2020/2021)Footnote 97 oder die Vielzahl an abendlichen Lesungen und Diskussionsveranstaltungen wie etwa mit der VHS Eschweiler (vgl. AZ 2015), der VHS Recklinghausen (vgl. VHS 2019) oder der VHS Bruchhausen-Vilsen (vgl. KSZ 2020).Footnote 98

Neben den Räumlichkeiten der VHSen nutzt Attac regelmäßig auch Schulen oder Universitäten für die eigenen Bildungsveranstaltungen. So fand die Attac-Aktionsakademie in der Vergangenheit u. a. in der Freien Waldorfschule Augsburg (2019), dem Gymnasium Koblenzer Straße in Düsseldorf (2017) oder in der Hamburger Stadtteilschule Walddörfer (2013) statt. Die Attac-Sommerakademie gastierte 2019 bspw. in der Erich Kästner-Schule Bochum, 2012 in der Johannes Gutenberg-Universität Mainz sowie 2015 in der Richtsberg-Gesamtschule in Marburg. Und für den Attac-Ratschlag nutze man in den letzten Jahren etwa die Freie Waldorfschule Dresden (2010), das Saarbrücker Gymnasium am Rotenbühl, die Fachhochschule in Düsseldorf (2013), die Leipziger Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (2013) oder die Freie Waldorfschule in Frankfurt am Main (2019). Attac-Deutschland ist essentiell auf diese Infrastruktur angewiesen, da es selbst nicht über eine eigene Bildungsstätte oder entsprechende Räumlichkeiten verfügt, um größere Veranstaltungen umsetzen zu können. Diese Abhängigkeit führte bspw. 2018 dazu, dass die Attac-Sommerakademie sogar abgesagt werden musste, da keine geeigneten Räumlichkeiten gefunden werden konnten (vgl. Attac-D 2018f: 2).Footnote 99 Durch den Entzug der Gemeinnützigkeit 2014 hat sich diese Problematik für Attac noch weiter verschärft, da gemeinnützige Vereine bei der Anmietung öffentlicher Räume bspw. von deutlich günstigeren Konditionen profitieren können – ein Umstand, auf den bereits auch das Attac-Ratsmitglied Martin Uebelacker oder Stefan Diefenbach-Trommer von der „Allianz Rechtssicherheit für politische Willensbildung“ hingewiesen haben (vgl. Uebelacker 2020 oder Geers 2020).

Eine Teillösung dieser Raumproblematik zeigte sich im Zuge der weltweiten COVID-19-Pandemie, in deren Folge Attac-Deutschland zahlreiche Bildungsveranstaltungen als Webinare bzw. Online-Seminare umsetzte und seine digitalen Bildungsformate erheblich ausweitete.Footnote 100 Neben Veranstaltungen, die sich inhaltlich explizit auf die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie bezogen, wie z. B. zu den Themenfeldern „Arbeitszeitverkürzung in Zeiten von Corona“, „Arbeit im Kapitalismus – Corona als Transformationsbeschleuniger?“ oder „Corona und die Demokratischen Grundrechte“, wurden vermehrt auch aus den bundesweiten Arbeitsgruppen von Attac heraus Online-Veranstaltungen angeboten; sei es zu den Schwerpunkten „Grundeinkommen“ (AG Genug für alle), „Verschwörungstheorien“ (AG gegen Rechts) oder „Wohnen“ (AG De-Privatisierung). Ferner wurden pandemiebedingt ebenfalls der Attac-Herbstratschlag 2020 und der Attac-Frühjahrsratschlag 2021 nicht in Präsenz, sondern in digitaler Form umgesetzt, da die hierfür vorgesehene Waldorfschule in Frankfurt am Main ihr Raumangebot zurückgezogen hatte und ein anderer Veranstaltungsort in entsprechender Größe nicht mehr gefunden werden konnte. Schon die Attac-Sommerakademie 2020 war aus ähnlichen Gründen ausschließlich im Online-Format abgehalten worden. Wenngleich aus der Not geboren, könnten derartige digitale Veranstaltungstypen perspektivisch sicherlich für Attac-Deutschland eine Alternative oder auch Ergänzung zu den üblichen Präsenzveranstaltungen darstellen und damit die Abhängigkeit bei der Suche nach geeigneten Räumlichkeiten zumindest teilweise reduzieren.

5.3 Attac-Bildungsmaterialien: „Wirtschaft demokratisch gestalten lernen“

5.3.1 Bildungsmaterialien von Attac-Deutschland – ein Überblick

Wie der Attac-Koordinierungskreis bereits in seinem Bericht zum Attac-Ratschlag 2003 in Aachen betonte, ist „ein wesentliches Standbein von Attac […] die Bildungsarbeit“ (Attac-KoKreis 2003a). Diese umfasst sowohl regionale als auch bundesweite Angebote und wird, wie im vorherigen Abschnitt bereits näher ausgeführt wurde, überwiegend von den lokalen Attac-Gruppen im Sinne einer „dezentrale[n] globalisierungskritische[n] Aufklärung“ (Attac-D 2020p) geplant und umgesetzt. Gerade in der Konstituierungsphase des Netzwerks zeigten sich aus den Erfahrungen der eigenen Bildungspraxis heraus zunehmend Bedarfe an eigenen Bildungsmaterialien.Footnote 101 Dies betraf vor allem die inhaltliche, didaktische und methodische Gestaltung von Attac-spezifischen Seminaren, Workshops oder Weiter- und Fortbildungsangeboten. Zudem sah man in der Entwicklung eigener Bildungsmaterialien die Möglichkeit einer Verbreitung globalisierungskritischer Positionen und Sichtweisen im schulischen wie außerschulischen Bildungsbereich – ganz im Sinne des selbstgewählten „Auftrag[s] zur Aufklärung der Öffentlichkeit“ (Attac-F 2002: 95).

Die ersten Materialien des Netzwerks erschienen in den Jahren 2004 bis 2008 als so genannte Attac-Bildungsbausteine. Diese wurden in Zusammenarbeit mit diversen Kooperationspartnern entwickelt und fokussierten sich inhaltlich auf die „Kernbereiche[.] der politischen Agenda des Netzwerks“ (AG PolÖk 2011: 91). Die insgesamt elf Bildungsbausteine umfassten folgende Themenschwerpunkte: (1) Globalisierung, (2) Neoliberalismus, (3) Kranksein in Deutschland, (4) Aktienmärkte, (5a) Butterberg und Hungersnot, (5b) Agrarverhandlungen in der WTO, (6) Tobinsteuer, (7) Verschuldung der Entwicklungsländer, (8) Kapitalverkehr und Entwicklung, (9) Politische Akteure, (10) Fairtrade und (11) Privatisierung öffentlicher Güter. Die Bildungsbausteine 1–6 sowie 9–11 entstanden mit Unterstützung der GEW. Das Material zum Themenfeld „Fairtrade“ wurde zudem mit der österreichischen „Initiative eine Welt Braunau“ umgesetzt. Am Bildungsbaustein zur „Privatisierung öffentlicher Güter“ war neben der GEW auch der Verein „Bildungsgemeinschaft Soziales, Arbeit, Leben & Zukunft“ (SALZ) als Kooperationspartner beteiligt. Eine Besonderheit in der Reihe stellen die Bildungsbausteine 7 und 8 dar. Diese wurden beide in Zusammenarbeit mit der „Berliner Landesarbeitsgemeinschaft Umwelt und Entwicklung“ (BLUE 21) verwirklicht. Der Baustein zur „Verschuldung der Entwicklungsländer“ konnte mit finanzieller Unterstützung der Europäischen Union umgesetzt werden. Gleiches gilt für das Material zur Thematik „Kapitalverkehr und Entwicklung“, obgleich sich hier zusätzlich auch die Rosa-Luxemburg-Stiftung und die InWEnt gGmbH finanziell beteiligten.

Die Attac-Bildungsbausteine waren primär als Materialien für den schulischen Unterricht konzipiert (vgl. Leidig et al. 2004: 122). Sie beinhalteten Anregungen für „die methodisch-didaktische[.] Vorgehensweise […], praktische Beispiele und konkrete Arbeitsaufträge“ (Attac-D 2008: 34). Ergänzt wurden die Materialien u. a. mit Informationstexten, Grafiken, weiterführenden Literaturhinweisen und themenbezogenen Folien (als Kopiervorlagen). Die seinerzeit von Attac-Deutschland kostenlos auf der Webseite zur Verfügung gestellten Bildungsmaterialien richteten sich speziell an Lehrkräfte der Sekundarstufe II und sollten die unterschiedlichen Facetten der Globalisierung beleuchten bzw. „andere Aspekte der Globalisierung in die Aus-[,] Fort- und Weiterbildung“ (Attac-D 2007f: 25) einbringen. Durch verschiedene methodische Zugänge, wie z. B. Planspiele, sollten selbstständige Lernprozesse initiiert und kollaborative Lernformen ermöglicht werden.

Nach einigen Jahren, in denen Attac-Deutschland keine Bildungsmaterialien veröffentlichte, formierte sich 2015 eine ehrenamtliche Arbeitsgruppe „bestehend aus aktiven und pensionierten Lehrer*innen, einem Professor für Fachdidaktik, sowie Personen aus der gewerkschaftlichen oder außerschulischen Bildungsarbeit“ (Brülls 2018) mit dem Ziel, aktuelle Unterrichtsmaterialien zu globalisierungskritischen Schwerpunktthemen zu konzipieren. Unterstützt wurde diese Gruppe hierbei auch vom Attac-Bundesbüro und dem für Bildung zuständigen Mitarbeiter, Holger Oppenhäuser. Noch im Gründungsjahr der Arbeitsgruppe erschienen in Zusammenarbeit mit der GEW, der Otto-Brenner-Stiftung und des IG Metall Vorstands (FB Gewerkschaftliche Bildungsarbeit) bereits die ersten Materialien unter dem Titel „Europa nach der Krise?“, die zugleich auch den Startpunkt für die noch heute bestehende Reihe „Wirtschaft demokratisch gestalten lernen“ bildeten. Seitdem erschienen im jährlichen Turnus weitere Bildungsmaterialien. Hierzu zählen „TTIP & Co: Handelsvertrag sticht Demokratie?“ (2016), „Kapitalismus – oder was? Über Marktwirtschaft und Alternativen“ (2017), „Globalisierte Finanzmärkte – ein Jahrzehnt nach Beginn der großen Krise“ (2018), „Moderne Sklaverei? Über globale Arbeitsverhältnisse“ (2019) oder „Klimaneutral und sozial gerecht – Wege in die Gesellschaft der Zukunft“ (2020).Footnote 102 Das Bildungsmaterial zum Themenfeld Kapitalismus wurde mit der Otto-Brenner-Stiftung, dem IG Metall Vorstand (FB Gewerkschaftliche Bildungsarbeit) sowie der Rosa-Luxemburg-Stiftung umgesetzt; an den Materialien der Jahre 2018 und 2019 wirkten jeweils die GEW, die zu den Mitgliedsorganisationen des Attac-Netzwerks gehört, sowie das „Entwicklungspolitische Netzwerk Hessen“ (EPN) mit. Eine Besonderheit der Reihe stellen die Bildungsmaterialien zu den Themen Freihandel und Demokratie (2016) und Klimagerechtigkeit (2020) dar. Beide wurden nämlich ohne Beteiligung von Kooperationspartnern erstellt.

Neben der Reihe „Wirtschaft demokratisch gestalten lernen“, die für die außerschulische Jugend- und Erwachsenenbildung und den Einsatz ab Sekundarstufe I konzipiert wurde bzw. wird, veröffentlichte Attac-Deutschland 2017 erstmals auch Bildungsmaterialien für die Primarstufe unter dem Obertitel „Wie wollen wir zusammen leben?“. Den Start der Reihe bildete das Material mit dem Titel „Was ist gerecht?“, welches in Zusammenarbeit mit dem HVD entwickelt und herausgegeben wurde. Diese Kooperation wurde auch in den nachfolgenden Materialien zu den Themenfeldern „Kooperation und Solidarität“ (2018), „Demokratie und Mitbestimmung“ (2019) und „Faire Arbeit – gutes Leben?!“ (2020) fortgesetzt. An der Umsetzung der letzten Veröffentlichung beteiligte sich ebenfalls das EPIZ. Wie seitens Attac-Deutschland betont wird, stehen im Zentrum dieser, für die Primarstufe konzipierten, Bildungsmaterialien in erster Linie „ethische Fragen“ (Attac-D 2017h: 11). Ferner sollen „die Kinder altersgemäß an einzelne Aspekte aus den Bereichen Wirtschaft, Gesellschaft und Politik herangeführt“ (ebd.) werden, weswegen sie sich „insbesondere zum Einsatz im Lebenskunde-, Ethik-, Religions- und Sachunterricht“ (ebd.) eignen würden. Zu jedem Schwerpunktthema gibt es einen kurzen Einführungstext, gefolgt von einer Beschreibung des Ablaufs der jeweiligen Übung und den dazugehörigen Kopiervorlagen.

Im Vergleich zu den Materialien der Reihe „Wirtschaft demokratisch gestalten lernen“ ist auffällig, dass die Bildungsmaterialien für die Primarstufe sowohl hinsichtlich des Umfangs als auch hinsichtlich ihrer Auflagenzahl deutlich geringer ausfallen. Während sämtliche bis 2020 erschienenen Titel der Reihe „Wie wollen wir zusammen leben?“ eine Gesamtseitenzahl von 112 sowie eine durchschnittliche Auflage von 475 Exemplaren aufweisen, hat im Vergleich hierzu alleine das 2020 erschienene Material „Klimaneutral und sozial gerecht – Wege in die Gesellschaft der Zukunft“ einen Umfang von über 130 Seiten. Im Durchschnitt erschienen die einzelnen Teile der Reihe „Wirtschaft demokratisch gestalten lernen“ bis 2020 in einer Auflage von 750 Exemplaren. Anzumerken sei in diesem Kontext allerdings, dass die Auflagenzahl beider Reihen seit 2018 deutlich nach unten skaliert wurde. So erschienen in den Jahren 2015 bis 2017 sämtliche Bildungsmaterialien von Attac-Deutschland in einer Auflage von 1.000 Exemplaren. Seit 2018 werden die Materialien der Reihe „Wirtschaft demokratisch gestalten lernen“ mit einer Stückzahl von 500 und jene für die Primarstufe mit einer Stückzahl von 300 Exemplaren angesetzt. Rückschlüsse auf den Erfolg oder Misserfolg der Bildungsmaterialien lassen sich durch diese Kennzahlen nur schwerlich ziehen, da alle Materialien auf der Attac-Webseite auch kostenlos heruntergeladen werden können.Footnote 103

Bis 2020 veröffentlichte Attac-Deutschland insgesamt 21 Bildungsmaterialien: Neben den Attac-Bildungsbausteinen zum Themenfeld Globalisierung, die in diesem Kontext jeweils als Einzelwerke betrachtet werden, zählen hierzu sechs Materialien in der Reihe „Wirtschaft demokratisch gestalten lernen“ sowie vier in der Reihe „Wie wollen wir zusammen leben?“. In der Regel handelt es sich bei den Bildungsmaterialien von Attac-Deutschland um themenspezifische Sammlungen von Arbeitsblättern mit fachlicher Einführung und kurzer didaktischer Kommentierung. Mit Ausnahme der Reihe „Wie wollen wir zusammen leben?“ sind die bislang veröffentlichten Materialien für die Sekundarstufen I und II sowie für die Anwendung in der außerschulischen Bildungsarbeit konzipiert worden. Mit der AG Bildungsmaterial hat sich innerhalb Attac-Deutschlands eine ehrenamtliche „Gruppe von Bildungspraktiker*innen aus verschiedenen Bereichen“ (Attac-D 2020x: 8) gebildet, die mit Unterstützung des Attac-Bundesbüros in Frankfurt am Main mittlerweile im jährlichen Turnus Bildungsmaterialien zu unterschiedlichen Schwerpunktthemen herausgibt. In dieser engagieren sich, wie Holger Oppenhäuser 2020 in einem Attac-Rundbrief anmerkt, derzeit sowohl „angehende und pensionierte Lehrer*innen [als auch] […] Fachdidaktiker*innen aus der Uni und Leute mit Erfahrung in der außerschulischen Bildung“ (ebd.).

Attac-Deutschland sieht in den Bildungsmaterialien die Möglichkeit, globalisierungskritische Themen in den Schulunterricht und die außerschulische Bildung zu integrieren und Lehrkräfte in ihrer Unterrichtsgestaltung zu unterstützen. Mit Blick auf den schulischen Kontext sollen die Materialien mitnichten Schulbücher ersetzen, sondern vielmehr eine tiefergehende Analyse bestimmter Themenkomplexe ermöglichen und neue Perspektiven und Sichtweisen aufzeigen. Zumeist geschieht dies über „exemplarische Konflikte, [die] didaktisch auf[bereitet]“ (Attac-D 2021a) werden und zur weiteren inhaltlichen Diskussion anregen sollen. Die eigene Verortung als Teil einer international vernetzten, globalisierungskritischen „Gegenbewegung zur gesellschaftlichen Vorherrschaft des sogenannten Neoliberalismus“ (Attac-D 2020q) und das Selbstverständnis „als Bildungsbewegung mit Aktionscharakter und Expertise“ (ebd.) spiegeln sich ebenso in den unterschiedlichen Bildungsmaterialien von Attac-Deutschland wider. Denn sowohl die Bildungsarbeit als auch das eigene Bildungsmaterial sind, wie u. a. im bildungsspezifischen Selbstverständnispapier des Netzwerks betont wird (vgl. ebd.), nicht neutral. Gleichwohl versteht Attac seine Arbeit im Hinblick auf die vermeintlich vorherrschenden neoliberalen Erklärungsansätze und Deutungen als wichtigen Beitrag zur Kontroversität und verweist in diesem Kontext darauf, dass das Bildungsmaterial „den Anforderungen des Transparenz-Kodex der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung“ (ebd.) entsprechen würde. Danach sollten sich Unterrichtsmaterialien an folgenden Leitlinien orientieren:

„1. In Schule und Unterricht verwendete Materialien Dritter müssen im Impressum nicht nur die Herausgeber, sondern auch die Finanzierungsquellen sowie die Herstellung und Vertrieb unterstützenden Organisationen angeben. 2. Sofern dies aus Platzgründen als nicht praktikabel erscheint, muss das Material einen direkten Link zu einer Webseite mit diesen Informationen enthalten. 3. Wird eine Organisation wie z. B. ein Verein, eine Stiftung oder ein Institut als Förderer oder Finanzier angegeben, sind auch deren Geldgeber explizit, vollständig und leicht auffindbar zu nennen. 4. Die Autorinnen und Autoren des Materials sind ebenso zu nennen wie ggf. ihre Zugehörigkeit zu einer Organisation.“ (DVPB 2014a: 28)Footnote 104

Die DVPB, als Fachverband der Politischen Bildung in Deutschland, veröffentlichte den Transparenz-Kodex 2014 unter dem Eindruck einer zunehmenden Einflussnahme von „finanzkräftige[n] Wirtschaftsverbände[n] und Konzerne[n]“ (DVPB 2014b) auf die Unterrichtsgestaltung durch größtenteils kostenlos zur Verfügung gestellte Bildungsmaterialien. In einer Pressemittlung hieß es hierzu: „Lobbyisten umwerben Schulen und Lehrkräfte so intensiv wie nie zuvor […]. Weil häufig nicht einmal die Urheberschaft entsprechender Lehr- und Lernmaterialien ersichtlich ist, dringen vermehrt einseitige Positionen in den Schulunterricht“ (ebd.).Footnote 105 Dabei, so die DVPB, reiche das Spektrum der über die Unterrichtsmaterialien vermittelten Sichtweisen „von einschlägigen Formen der Meinungsmache bis hin zur Kundenakquise“ (ebd.). Als Kernprobleme wurden und werden seitens der DVPB vor allem die Zulassungsfreiheit und die fehlende inhaltliche Prüfung dieser Materialien hervorgehoben. Denn im Gegensatz zu Schulbüchern, die einem ministerialen Zulassungsverfahren unterliegen und denen bei etwaigen inhaltlichen Mängeln nachträglich auch die Zulassung entzogen werden kann, sind derartige Verfahren bei den o. g. Unterrichtsmaterialien nicht erforderlich (vgl. hierzu ebenfalls Haarmann 2014: 26). Erschwerend käme hinzu, dass durch die Einflussnahme finanzkräftiger Anbieter ein Ungleichgewicht bezüglich des Materialangebots entstehe: „Während die einen über keinerlei Mittel und Personal“ (DVPB 2014a: 28) verfügen würden, stünden den „anderen Millionenbeträge und professionelle Lobbyisten zur Verfügung“ (ebd.).

Die von der DVPB formulierte Kritik lässt sich durchaus empirisch belegen. Wie eine Studie der Universität Augsburg unter der Leitung von Eva Matthes 2016 ergab, stellen zahlreiche Banken, Unternehmen oder Online-Plattformen, die z. B. durch unternehmensnahe Stiftungen betrieben werden, bereits seit vielen Jahren unterschiedliche Unterrichtsmaterialien kostenlos zur Verfügung (vgl. Balcke/Matthes 2018). So wurden im Untersuchungszeitraum von November 2015 bis März 2016 von 77 der 500 umsatzstärksten Unternehmen in Deutschland insgesamt ca. 11.700 Materialien im Internet angeboten (ebd.: 17).Footnote 106 Hinsichtlich des Umfangs der Materialien waren zum Teil erhebliche Unterschiede erkennbar. Seitens der Autorinnen der Augsburger Studie wurde hier insbesondere das umfangreiche Angebot der Siemens-Stiftung und des Webportals „Wigy – Wirtschaft verstehen“, das vom Verein „Wigy“ in Zusammenarbeit mit dem Oldenburger Institut für Ökonomische Bildung betrieben wird, hervorgehoben. Beide Institutionen stellten über ihre Webseiten jeweils mehr als 2.000 Unterrichtsmaterialien bereit. Vergleicht man die absoluten Zahlen an Materialien, die von einzelnen Banken oder Unternehmen verbreitet werden, mit dem Angebot von globalisierungskritischen Organisationen, wie etwa Attac-Deutschland, wird das von der DVPB beschriebene quantitative Ungleichgewicht offensichtlich: Während bspw. die Santander Consumer Bank 123 Unterrichtsmaterialien anbot, waren zum gleichen Zeitpunkt über die Webseite von Attac-Deutschland lediglich 13 MaterialienFootnote 107 abrufbar.Footnote 108 Und auch auf inhaltlicher Ebene findet die von der DVPB formulierte These, wonach die von bestimmten wirtschaftsnahen Stiftungen, Vereinen oder Firmen veröffentlichten Materialien vorwiegend unternehmensfreundliche Sichtweisen vermitteln würden, in den Ergebnissen der Augsburger Studie ihre Bestätigung. Eva Matthes stellte vor einigen Jahren bezüglich der Zielsetzung dieser unternehmenseigenen oder -nahen Unterrichtsmaterialien heraus: „Es geht darum, den Einzelnen zum Konsumenten zu erziehen, und zwar am besten in Bezug auf die Produkte, die das Unternehmen anbietet. […] Viele der Unterlagen geben sich den Anstrich, neutral zu sein, und betonen, dass sie mit Pädagoginnen und Pädagogen zusammenarbeiten würden. Doch neutral sind sie nicht“ (zit. n. Brülls 2018). Dirk Lange et al. führten ergänzend an:

„In der politischen Bildung und im sozialwissenschaftlichen Unterricht hat das ökonomische Feld in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen. […] Diese Neugewichtung des ökonomischen Lernfeldes ist fachdidaktisch jedoch nicht hinreichend vorbreitet und wird wissenschaftlich nur unzureichend begleitet. In dieses Vakuum sind vermehrt Wirtschaftsunternehmen, Stiftungen, Interessenverbände, Vereine und Initiativen gestoßen, die Unterrichtsmaterialien, curriculare Vorschläge und Lehrerweiterbildungen entwickeln. Die Produkte sind von unterschiedlicher Qualität. Oftmals sind sie tendenziös und genügen den Kontroversitätsanforderungen der Politischen Bildung nicht.“ (Lange et al. 2016: 5)

Zu einem ähnlichen Ergebnis kam auch die bereits 2014 veröffentliche Untersuchung der „Verbraucherzentrale Bundesverband“ (VZBV), in deren Rahmen von Januar 2011 bis Oktober 2013 insgesamt 453 Unterrichtsmaterialien von „verschiedenen Anbietern und Herausgebern aus Wirtschaft, Gesellschaft, öffentlicher Hand und Verlagen“ (VZBV 2014: 4) zu den Themenfeldern Finanz- und Medienkompetenz, Ernährung und nachhaltigem Konsum ausgewertet wurden. Dabei zeichneten sich nach Analysen der VZBV vor allem Materialien aus der Wirtschaft oder von wirtschaftsnahen Verbänden oder Institutionen „überproportional oft durch interessengeleitete oder einseitige Informationen aus“ (ebd.: 16). In ihnen, so die abschließende Bewertung der VZBV, würden „Sachverhalte nicht objektiv dargestellt“ (ebd.: 12), „bestimmte Branchen in einem guten Licht“ (ebd.: 16) gezeigt und Kritikpunkte an unternehmensnahen Positionen oftmals verschwiegen. Zuvor hatte bereits der Kölner Verein „Lobbycontrol“ in einer breit diskutierten und inzwischen mehrfach aktualisierten Broschüre die Einflussnahme von Unternehmen und Wirtschaftsverbänden auf Schulen durch kostenlos bereitgestellte Unterrichtsmaterialien thematisiert und in seinen Analysen u. a. auf die Ergebnisse einer weiteren Studie der Universität Augsburg verwiesen. In Zusammenarbeit mit dem Verband Bildungsmedien hatte das Augsburger Forscher*innenteam um Eva Matthes seit 2011 eine Erhebung zu kostenlosem Lehrmaterial im Internet durchgeführt und dabei im ersten Jahr etwa 520.000 und im Folgejahr sogar etwa 880.000 Materialien erfasst (vgl. Eva Matthes, zit. n. Weinert 2014: 59). Neben Kirchen, Privatpersonen und Verlagen fanden sich unter den Anbietern von Materialien auch Unternehmen und unternehmensnahe Verbände. Letzterer Gruppe wurde von Lobbycontrol vorgeworfen, durch die Zurverfügungstellung kostenloser Unterrichtsmaterialien gezielt Einfluss auf die in der Schule vermittelten Inhalte zu nehmen und vorwiegend unternehmensfreundliche Sichtweisen zu verbreiten. „Nicht selten“, so die Autor*innen der Broschüre, „[würden] die Unternehmensinteressen verschleiert, indem die Unterrichtsmaterialien über Dienstleister und Partnerschaften mit Vereinen herausgegeben werden“ (Lobbycontrol 2017: 9). Zudem sei in Bezug auf die finanziellen Mittel der jeweiligen Anbieter*innen ein erhebliches Ungleichgewicht festzustellen. Dadurch würden „finanzschwache Akteure gegenüber finanzstarken systematisch benachteiligt“ (ebd.: 14) werden:

„Das pluralistische Idealbild, nach dem alle unterschiedlichen Interessenvertreter ihre Argumente gleichermaßen einbringen können, entspricht keineswegs der Realität. Ressourcenunterschiede spielen eine zentrale Rolle in der Frage, wer wie zu Wort kommt. Zwar gibt es zunehmend auch Schulmaterialien und Schulaktivitäten von Umweltverbänden oder anderen Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) und Gewerkschaften. Von einem ausgewogenen Spielfeld kann jedoch nicht die Rede sein.“ (ebd.)

Die verstärkt seit den 2000er Jahren zu beobachtende Einflussnahme von privatwirtschaftlichen Akteuren an Schulen durch eigens konzipierte Unterrichtsmaterialien ist u. a. auf die im „Memorandum zur ökonomischen Bildung“ des Deutschen Aktieninstituts 1999 skizzierten Sofortmaßnahmen für die zügige Einführung des Schulfaches Ökonomie zurückzuführen. Darin wurde explizit „die Erstellung und Verbreitung geeigneten Lernmaterials“ (DAI 1999: 8), „die Erstellung und Verbreitung von Handreichungen für Lehrerinnen und Lehrer“ (ebd.) sowie die „Einrichtung und Durchführung von geeigneten Weiterbildungsmaßnahmen für Lehrerinnen und Lehrer“ (ebd.) angeregt. Durch eine Studie des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung, die seinerzeit von der unternehmensfreundlichen Initiative „Neue Soziale Marktwirtschaft“Footnote 109 in Auftrag gegeben wurde, erlebten diese Forderungen des Memorandums in den Jahren 2007 ff. einen neuen Aufschwung. In einem länderübergreifenden Vergleich kamen die Forscher*innen des Georg-Eckert-Instituts zum Ergebnis, dass der in den Schulbüchern aus Deutschland, Schweden und England skizzierte Bereich der „Arbeitswelt“ in erster Linie als eine „Welt der Arbeitnehmer, streckenweise des Handwerks, nur selten aber [als] eine unternehmerische [Welt]“ (GEI 2007: 91) dargestellt werde. Zwar könne speziell den deutschen Schulbüchern keine „grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber Unternehmertum und Marktwirtschaft […] attestiert werden, wohl aber eine Wertehaltung, die unternehmerisches und rein marktwirtschaftliches Handeln nicht als höchstes Gut einordnet“ (ebd.: 95). Die Ergebnisse der Studie sorgten für großes Aufsehen und wurden vonseiten der Unternehmen und Wirtschaftsverbände als Weckruf interpretiert. Aus den Befunden wurde im Nachgang die Rechtfertigungsgrundlage für die verstärkten Aktivitäten im Bildungskontext abgeleitet.

Flankiert wurden diese Schlussfolgerungen von weiteren Schulbuchstudien, wie etwa vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW 2009), der Friedrich-Naumann-Stiftung (FNF 2010), des Zentrums für ökonomische Bildung Siegen (Hofmann et al. 2011) oder des Verbands der Familienunternehmer/die jungen Unternehmer (Schröder/Schuhen 2017), und von zahlreichen journalistischen Beiträgen. Während das Institut der deutschen Wirtschaft die „Behandlung wirtschaftlicher Themen […] bei einem Großteil der untersuchten Schulbücher als nicht ausreichend“ (IW 2009: 66) bewertete, die Friedrich-Naumann-Stiftung sowohl „Tendenzen zur Emotionalisierungen [sic!] und einseitigen Darstellung“ (FNF 2010: 61) wirtschaftlicher Themenfelder als auch eine eher „marktkritische[.] Grundhaltung“ (ebd.:) in Schulbüchern ausmachte und die Autor*innen des Siegener Instituts für ökonomische Bildung „in Bezug auf die Darstellung der Sozialen Marktwirtschaft“ (Hofmann et al. 2011: 43) hervorhoben, dass diese in den Schulbüchern „weder schülerorientiert noch problemorientiert aufgebaut“ (ebd.) seien, stellten Hans Jürgen Schlosser und Michael Schuhen in der vom Verband Familienunternehmer/die jungen Unternehmer in Auftrag gegebenen Studie fest, dass das „Unternehmerbild […] in Schulbüchern für die Fächer Geographie/Erdkunde und Geschichte vernachlässigt“ (Schröder/Schuhen 2017: 44) werde und in diesem Kontext sogar ein Trend zur „marktskeptische[n] Haltung“ (ebd.: 42) erkennbar sei. Aus der Vielzahl an journalistischen Beiträgen zu den in Schulbüchern vermittelten Bildern des Unternehmers oder der Sozialen Marktwirtschaft ist ein Beitrag von Gary Merrett in der WELT hervorzuheben. In diesem erhob der Autor u. a. den Vorwurf, dass deutsche Schulbücher „von marktfeindlichen Irrlehren und antikapitalistischer Rhetorik“ (Merrett 2008) überquellen würden und eine „systematische[.] Hetzjagd gegen die freie Marktwirtschaft an deutschen Schulen“ (ebd.) betrieben werde. Infolgedessen sei es, so Merrett, auch kaum verwunderlich, „dass immer mehr junge Menschen sich radikal antikapitalistischen Vereinigungen oder Globalisierungsskeptikern wie Attac anschließen, zu Staatsgläubigkeit neigen und umfassende Ansprüche an den Staat stellen“ (ebd.) würden.

Zahlreiche Unternehmen und Wirtschaftsverbände nahmen diese Analysen, wonach Schulbücher in weiten Teilen marktkritisch seien und in ihnen eine differenzierte Darstellung der Wirtschaft oder der unternehmerischen Tätigkeit zumeist fehle, zum Anlass, sich vermehrt auch im Bildungsbereich zu engagieren. So setzte man schon früh vor allem auf unternehmensnahe Stiftungen und Vereine, die mit eigenem pädagogischen Personal gezielt an Schulen gehen, themenspezifische Fortbildungsreihen für Lehrkräfte anbietenFootnote 110 und eigene Unterrichtsmaterialien konzipieren. Mittlerweile stellen von „den 30 DAX-Unternehmen 22 kostenlose Unterrichtsmaterialien für Schulen bereit, entweder direkt, über einen Dachverband oder eine Unternehmensstiftung“ (Lobbycontrol 2017: 9). Das Ziel scheint hier klar: Durch eigens erstellte Materialien sollen unternehmerische Deutungen und Wertevorstellungen gefördert, ein positives Unternehmerbild vermittelt sowie indirekt die Einführung eines Unterrichtsfachs Wirtschaft weiter vorangetrieben werden. Vorteilhaft für die Verbreitung der Materialien ist u. a. der Umstand, dass viele Schulbücher veraltet sind und aktuelle Themen durch sie nicht immer abgebildet werden sowie zahlreiche Lehrkräfte oft fachfremd unterrichten müssen und/oder nur über ein geringes Zeitbudget zur Vorbereitung des Unterrichts verfügen und in Folge ihrer Suche nach geeignetem, zielgruppengerecht gestaltetem Unterrichtsmaterial oft auf kostenlose Angebote aus dem Internet zurückgreifen.Footnote 111 Eine inhaltliche Prüfung der Materialien findet nur selten statt: In einer Umfrage des VZBV gaben vor wenigen Jahren über 70 Prozent der Lehrkräfte an, für eine Qualitätsprüfung der verwendeten Unterrichtsmaterialien aus der Wirtschaft keine Zeit zu haben (vgl. VZBV 2016). Aus der Perspektive der jeweiligen Herausgeber*innen dürfte dies nicht uninteressant sein. Denn durch die erstellten Materialien und die durch sie vermittelten Botschaften können nicht nur Lehrende und Lernende, sondern ebenfalls die sie umgebenen Personen (Kollegium, Eltern, Peer-Group etc.) erreicht werden. Da keine vorherige Prüfung der Unterrichtsmaterialien, wie etwa bei Schulbüchern, erforderlich ist, können im Sinne der Imagepflege Werbung in eigener Sache betrieben und „bestimmte Inhalte und Kontroversen bewusst ausgeblendet werden“ (Lobbycontrol 2017: 16).

Nicht unerwähnt bleiben sollte an dieser Stelle, dass diese Vorgehensweise natürlich auch für Anbieter*innen aus dem NGO-Bereich, die auf Spenden und Mitgliedsbeiträge angewiesen sind, attraktiv sein kann. Daher wurden in der Vergangenheit ebenso einzelnen NGO unterstellt, interessengeleitet zu agieren und mit ihrem Bildungsengagement vornehmlich eigene strategische Ziele zu verfolgen – und sich damit letztlich kaum von unternehmensnahen Interessenverbänden zu unterscheiden. Infolgedessen wurden und werden NGO und „soziale Bewegungen wie Attac […] von vielen BildnerInnen nicht mit politischer Bildung assoziiert, weil sie eine [vermeintliche] Nähe zur Agitation und politischer Willensbildung aufweisen“ (Fritz et al. 2006: 176) würden. Zudem wird ihnen „eine starke Ausrichtung auf den Aktionismus“ (ebd.) vorgeworfen. Neutralität, Ausgewogenheit und Reflexion würden dabei oftmals unberücksichtigt bleiben. Anknüpfend an die Ausführungen von Marie Bludau bezüglich des Verhältnisses von NGO und der Institution Schule, stellt sich in gewisser Weise auch für die Bildungsarbeit von Attac-Deutschland die Frage, ob nicht beide Akteure „zwei grundsätzlich verschiedene Arbeitsaufträge haben[:] Anwaltschaft vs. Kompetenzvermittlung; Lobbying vs. Didaktik; Kampagnen vs. curriculare Vorgaben“ (Marie Bludau, zit. n. Emde 2017: 245). Um zu vermeiden, dass „die zivilgesellschaftlich bedeutende Errungenschaft, dass Nichtregierungsorganisationen in der Schule tätig sein können“ (Scheunpflug 2007: 15), nicht mit dem Vorwurf der Indoktrination oder Überwältigung in Frage gestellt wird, forderte die Erziehungswissenschaftlerin Anette Scheunpflug daher vor einigen Jahren, dass die Bildungsangebote von NGO zumindest „den Standards der politischen Bildung“ (Scheunpflug 2007: 15), also dem Beutelsbacher Konsens, folgen sollten. Denn „[a]nders als Kampagnenarbeit“, so Scheunpflug, „folgt Bildungsarbeit nämlich im Hinblick auf das Ziel der politischen Willensbildung der beteiligten Personen pädagogischen Kriterien“ (ebd.) und nicht etwa der Spendenwerbung oder der Aktionsmobilisierung.Footnote 112

Die oben skizzierte Einflussnahme von Unternehmen, unternehmensnahen Vereinen und Stiftungen oder Wirtschaftsverbänden auf den Bildungsbereich fand ebenfalls ihren Widerhall in den Attac-internen Diskussionen und führte im Ergebnis 2015 zum Start der eigenen Materialreihe „Wirtschaft demokratisch gestalten lernen“. Holger Oppenhäuser betonte hierzu 2018 in einem Interview: „Wir nehmen wahr, dass da immer mehr Material von unternehmerischen Interessengruppen in die Schulen kommt und mehr oder minder subtil auch deren neoklassisches beziehungsweise neoliberales Weltbild transportiert. Da hat Attac gesagt, dem setzen wir was entgegen“ (zit. n. Brülls 2018).Footnote 113 Das Netzwerk versteht sich folglich als Gegenpol zur „Ökonomisierung von Bildung und Wissen“ (Attac-D 2020w) und sieht in der Veröffentlichung eigener Bildungsmaterialien die Chance, eine „Gegenexpertise zu den vorherrschenden neoklassischen Sichtweisen auf wirtschaftliche Prozesse“ (JfPB 2016: 96) herzustellen. Seitens Attac wird in diesem Kontext hervorgehoben:

„Seit vielen Jahren lässt sich die Ökonomisierung von Lehrinhalten in Unterricht und Lehre beobachten. Die Lehrmaterialien von Lobbygruppen wie z. B. dem Bankenverband finden mittlerweile problemlos Zugang zu Schule und Universität. Die Einflussnahme von Wirtschaftsinteressen auf die Inhalte des Unterrichts hat ungeahnte Dimensionen erreicht. Attac weist in seinen Aktivitäten auf diese Entwicklung hin und tritt dem durch politische Interventionen und in der eigenen Bildungspraxis entgegen.“ (Attac-D) (2020w)

Wie Holger Oppenhäuser 2017 in einem Beitrag für den Theorieblog von Attac-Deutschland ergänzend betont, ist „auch das Bildungsmaterial von Attac nicht ‚neutral‘“ (Oppenhäuser 2017a), sondern soll ausdrücklich zu einer kritischen Auseinandersetzung anregen. „Zur Kontroversität trägt das Material schon dadurch bei“, so Oppenhäuser, „dass es hegemoniale Deutungen mit Alternativen konfrontiert und diese Agenda offenlegt“ (Oppenhäuser 2017b: 325).Footnote 114 Dabei gehe es vor allem „um Lernangebote, die bestimmte Perspektiven eröffnen und zur Diskussion einladen und nicht darum, die Lernenden zu manipulieren oder gar zu indoktrinieren“ (Oppenhäuser 2017a). Insofern versteht Attac sein Bildungsmaterial als Alternative „zu manch anderen, scheinbar neutralen Angeboten, die […] von unternehmerischen Lobby-Gruppen finanziert sind und mehr oder minder subtil deren (wirtschaftstheoretische) Sicht auf die Welt transportieren“ (Oppenhäuser 2017b: 325). Ungeachtet dieser Selbstverortung stellt sich mit Blick auf die Ziel- und Schwerpunktsetzung der Attac-Materialien allerdings die Frage, ob diese ebenso von interessengeleiteten Sichtweisen geprägt sind und in ihnen bestimmte Sachverhalte einseitig dargestellt werden. Darüber hinaus ist im Zusammenhang mit dem im Beutelsbacher Konsens formulierten Überwältigungs- bzw. Indoktrinationsverbot kritisch zu hinterfragen, inwieweit in den Bildungsmaterialien von Attac direkt oder indirekt zur Teilnahme an globalisierungskritischen Protestaktionen aufgefordert wird. Denn wie Holger Oppenhäuser betont, erhebt Attac mit seinen Materialien durchaus den Anspruch „Kampagnen oder einzelne Aktionen von Bewegungsgruppen rückblickend zu thematisieren und im Hinblick auf ihre Wirksamkeit und damit die realen Einflussmöglichkeiten von Bewegungen und NGOs zu diskutieren“ (Oppenhäuser 2017a). Auch wenn die Lernenden zwar „nicht unmittelbar (zu den behandelten Themen) politisch aktiv werden sollen“ (Oppenhäuser 2017a), steht die praxisnahe Vermittlung von aktionsspezifischen Handlungsmöglichkeiten im Mittelpunkt vieler Methoden und Konzepte des Attac-Netzwerks.Footnote 115

Neben der Vermittlung einer globalisierungskritischen Gegenexpertise und der Förderung politischer Partizipation sind die „Verknüpfung der Lerngegenstände mit aktivierenden Methoden und […] kooperativen Lernformen“ (Oppenhäuser 2017b: 324) leitende Prinzipien der Attac-Bildungsarbeit. Im Fokus stehen insbesondere „[p]artizipative Lern- und Diskussionsmethoden“ (Attac-D 2002j: 4), welche auch in den einzelnen Bildungsmaterialien und den dort skizzierten Modulen zum Ausdruck kommen. Die Bildungsmaterialien lassen in der Regel eine Verknüpfung mit schulischen Lehrplanthemen zu und sind in vielerlei Hinsicht sogar darauf ausgelegt. Beispielhaft stehen hierfür etwa die Arbeitsblätter und Methoden der Ausgabe „Kapitalismus – oder was? Über Marktwirtschaft und Alternativen“, die Einsatzmöglichkeiten zu den Unterrichtsthemen „Soziale Marktwirtschaft“, „Wirtschaftsordnung“ oder „Marktformen“ bieten. Abseits vom schulischen Kontext können die Materialien aber ebenso im außerschulischen Bildungsbereich, bspw. in Seminaren von Gewerkschaften oder Naturschutzverbänden, angewandt werden. In erster Linie sollen die Bildungsmaterialien von Attac, dem eigenen Verständnis folgend, „zu einem produktiven Dissens beitragen“ (Attac-D 2018b: 9) und einen „Fokus auf die politische Gestaltbarkeit der Wirtschaftsordnung“ (ebd.) legen. Demnach zielen bspw. die Materialien zum Schwerpunkt Kapitalismus auf „Bildungsprozesse, in denen die Teilnehmenden über die ökonomische Verfassung unserer Gesellschaft streiten und sich darauf vorbereiten, die Positionen, die sie dabei entwickeln, als mündige BürgerInnen in demokratischen Prozessen zur Gestaltung zu bringen“ (ebd.). Das eigens formulierte, bildungspolitische Ziel „der Aktivitäten von Attac ist es, die Menschen in die Lage zu versetzen, sich engagiert für solidarische und aufgeklärte Gesellschaften und friedliche und gerechte Globalisierungsprozesse einzusetzen“ (Attac-D 2020w). Dabei beruft man sich auf einen emanzipatorischen Bildungsbegriff, betont die Stärkung des mündigen Bürgers und verweist auf „das Gebot der Kontroversität der politischen Bildung“ (ebd.).

Die Bildungsmaterialien orientieren sich an den aktuellen Themenfeldern der globalisierungskritischen Bewegung und zielen „im Sinne des exemplarischen Lernens […] auf die Erarbeitung von Grundverständnissen“ (Oppenhäuser 2017a) zu aktuellen politischen Fragestellungen ab. Hierzu gehören neben dem „Spannungsverhältnis von Kapitalismus und Demokratie“ (ebd.) auch „die Zusammenhänge zwischen ökonomischen Theorien, sozialen Ungleichheiten, Interessengegensätzen und Machtasymmetrien“ (ebd.). Im Zentrum der Materialien steht aber vor allem „die kritische Auseinandersetzung mit der Dominanz des Neoliberalismus und den damit einhergehenden Tendenzen zur Postdemokratie“ (ebd.). Letzteres knüpft an netzwerkinterne Debatten an, wonach die „repräsentative Demokratie […] sich in einer Krise“ (Attac-D 2020y) befände, deren sichtbarste Anzeichen die nachlassende Wahlbeteiligung oder die weit verbreitete Politikverdrossenheit seien.

5.3.2 Aufbau, Struktur und Zusammensetzung der Bildungsmaterialien

In der Reihe „Wirtschaft demokratisch gestalten lernen“ erschienen bis 2020 im jährlichen Turnus insgesamt sechs Bildungsmaterialien mit einer jeweils unterschiedlichen Anzahl an ModulenFootnote 116. Als Herausgeber fungierte bislang stets der Attac-Trägerverein. Die Gestaltung der Materialien oblag dem Berliner Grafik Design Studio „Dicey“, dass in der Vergangenheit u. a. auch an den Attac-Publikationen zum G20-Gipfel in Hamburg (vgl. Attac-D 2017i) oder den Blockupy-Protesten in Frankfurt am Main (vgl. Attac-D 2012c) beteiligt war. Durchschnittlich haben die Materialien der Reihe einen Umfang von etwa 118 Seiten. Konzipiert werden sie von „einer weitgehend ehrenamtlichen Gruppe aus Lehrer_innen, Politolog_innen, Wirtschaftswissenschaftler_innen, Fachdidaktiker_innen und Pädagog_innen mit vielfältigen Erfahrungen in der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit“ (Attac-D 2016d: 1).Footnote 117 So waren an der Entwicklung der bisherigen Attac-Materialien neben Holger Oppenhäuser (Attac-Bundesbüro) u. a. auch der Politikdidaktiker Andreas Eis oder der Wirtschaftswissenschaftler und ehemalige Koordinator der „Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik“ (MEMORANDUM-Gruppe) Gunter QuaißerFootnote 118 beteiligt. Bezogen werden können die Bildungsmaterialien ausschließlich über den Attac-Webshop als Druckversion oder über die eigens eingerichtete Webseite (www.attac.de/bima) als kostenlos downloadbare Datei im PDF-Format.

Ausgelegt auf die Sekundarstufen I und II und die außerschulische Bildungsarbeit sind die einzelnen Modulabschnitte der Materialien „unterschiedlich voraussetzungsvoll“ (ebd.) und können sowohl in Gruppen mit als auch „ohne größere Vorkenntnisse“ (ebd.) eingesetzt werden. Orientierung für den jeweiligen Anwendungsbereich bieten die den Modulen vorgelagerten Einführungstexte. In diesen wird eine „[f]achliche Erläuterung des Themenschwerpunktes“ (Attac-D 2020ab: 2) sowie eine didaktische Kommentierung der einzelnen Modulbestandteile vorgenommen, wozu ebenfalls die Vorstellung der präferierten Methoden und des verwendeten Quellenmaterials gehört. In der Regel enthalten die Arbeitsblätter der Module sowohl „Vorschläge zum inhaltlichen Erschließen der Materialien“ (ebd.) als auch Druckvorlagen für Requisiten (z. B. Rollenspielkarten), Verlinkungen via QR-Code zu weiterführenden Videos oder „grafisch aufbereitete Daten zum jeweiligen Thema“ (ebd.), bspw. in Form von eigens erstellten Statistiken und Diagrammen. Die in den Empfehlungen zur Bearbeitung des Quellenmaterials hinterlegten Methoden werden in separaten Infoboxen nochmals detaillierter beschrieben. In einigen Ausgaben der Materialreihe sind diese Methodenbeschreibungen zum Teil in zweifacher Ausführung hinterlegt: für Lehrende mit didaktischen Hinweisen zur Anwendung und zu möglichen Varianten sowie für Lernende in gekürzter und sprachlich angepasster Fassung (vgl. Attac-D 2019o: 1–2 oder Attac-D 2016f). Ferner werden seit 2017 für einzelne Module der Attac-Reihe vermehrt auch Interviews mit Fachexpert*innen (wie z. B. Rudolf Hickel oder Klaus Dörre), Journalist*innen oder Klimaaktivist*innen als Materialgrundlage für bestimmte Arbeitsblätter verwendet. Zum Teil bietet Attac-Deutschland sogar zusätzlich Inhalte für den bilingualen Unterricht an. So werden ergänzend zur Ausgabe „Kapitalismus – oder was? Über Marktwirtschaft und Alternativen“ englischsprachige Interviews mit Susan George, Jayati Ghosh und Paul Mason zur Verfügung gestellt.Footnote 119 Im Material „TTIP & Co: Handelsvertrag sticht Demokratie?“ findet sich ebenfalls ein zusätzliches Angebot für den bilingualen Unterricht. Lehrende haben hier etwa die Möglichkeit, die Texte der Arbeitsblätter „Um welche Interessen geht es bei TTIP?“ oder „Handel zwischen EU und Westafrika (EPA)“ in englischer Übersetzung über die Webseite von Attac-Deutschland abzurufen.Footnote 120 Hervorzuheben ist an dieser Stelle zudem das Bildungsmaterial zur Thematik „Globalisierte Finanzmärkte“, in dem ein umfangreiches, den Modulen vorgelagertes Glossar den Zugang zur Thematik und die Bearbeitung der Arbeitsmaterialien erleichtern soll. Je nach Schwerpunktsetzung sind Auszüge aus diesem den einzelnen Arbeitsblättern beigefügt.

Im Schlagwortverzeichnis zu den bis 2020 veröffentlichten Attac-Bildungsmaterialien wird zwischen vier Materialbausteinen unterschieden: Arbeitsblätter, Aktivitäten (Methodenblätter), Info- und Datenblätter (vgl. Attac-D 2021b). Die zahlenmäßig größte Gruppe ist die der Arbeitsblätter, von denen insgesamt 369 aufgelistet sind. An zweiter Stelle folgen die Aktivitäten bzw. Methoden mit 76, an dritter die Informationsblätter mit 44 und schließlich an vierter Stelle die Datenblätter mit sieben Eintragungen (siehe Anlage VFootnote 121). Die meisten Arbeitsblätter sind zu den Themenfeldern Globalisierung (27), Europäische Union (18), Finanzmärkte (14), Handelspolitik (14), Eurozone (12), Krise (13), Alternativen (11) und Demokratie (11) konzipiert worden. Hinsichtlich der in den so genannten Aktivitäten dargelegten Methoden, „die Interaktionen in der Gruppe anregen und […] zur Erarbeitung der Inhalte führen“ (Attac-D 2020ab: 2) sollen, sind Schwerpunkte in den Bereichen Globalisierung (5), Kapitalismus (4), Armut und Reichtum (3) sowie Wachstum und Wachstumskritik (3) festzustellen. Eine Sonderrolle nehmen die Themengebiete Marktformen, Wert (Gebrauchs- und Tauschwert), wirtschaftliche Konzentration und regulatorische Kooperation ein. Während zu den Erstgenannten bisher ausschließlich Methoden- aber keine Arbeitsblätter entwickelt wurden, liegt zum Letztgenannten lediglich ein Infoblatt vor. Angemerkt sei allerdings, dass die im Schlagwortverzeichnis hinterlegten Zahlen nur einen verzerrten Einblick in die Struktur und Zusammensetzung der Attac-Materialien zulassen, da z. B. einzelne Arbeitsblätter oder Aktivitäten zugleich mehrere Themenschwerpunkte abdecken können und folglich in diversen Kategorien aufgelistet wurden.

Tabelle 5.1 Einzelauflistung der unterschiedlichen MaterialbestandteileFootnote

Sofern nicht anders angegeben, basieren die in den tabellarischen Übersichten dieser Arbeit aufgeführten Zahlenangaben auf eigenen Berechnungen bzw. eigenen Recherchen.

Bislang sind für die Reihe „Wirtschaft demokratisch gestalten lernen“ 87 Arbeitsblätter, 21 Aktivitäten, 13 InfoblätterFootnote 124 und ein Datenblatt erstellt worden (siehe Tabelle 5.1). Die zahlenmäßig umfangreichsten Bildungsmaterialien sind jene zu „Kapitalismus – oder was? Über Marktwirtschaft und Alternativen“, „Moderne Sklaverei? Über globale Arbeitsverhältnisse“ und „Europa nach der Krise?“. Dabei hat das letztgenannte Attac-Material mit insgesamt 22 Arbeitsblättern, vier Aktivitäten, sechs Infoblättern und einem Datenblatt den deutlich größten Umfang. Die geringste Anzahl an Arbeitsblättern und Aktivitäten weisen die Materialien „Globalisierte Finanzmärkte – ein Jahrzehnt nach Beginn der großen Krise“ und „TTIP & Co: Handelsvertrag sticht Demokratie?“ auf. Insgesamt sind für die Attac-Materialreihe 22 Module mit 122 Materialbausteinen entwickelt worden. Diese sind durch ein farblich hervorgehobenes Registerblatt, eine eigene Seitennummerierung (jeweils bezogen auf die einzelnen Materialbausteine) und eine separate Struktur voneinander getrennt. Jedes Modul enthält eigene Einführungstexte, didaktische Kommentierungen, Inhaltsübersichten und Legenden. Eine starre, lineare Bearbeitung anhand einer festgelegten Abfolge oder Chronologie ist nicht vorgesehen. Folglich können die Arbeitsblätter je nach Anwendungsbereich und inhaltlicher Schwerpunktsetzung flexibel eingesetzt werden. Die Module der einzelnen Bildungsmaterialien sind zwar inhaltlich aufeinander abgestimmt, letztlich aber nicht direkt aufeinander aufbauend.

Die Attac-Materialien der Reihe „Wirtschaft demokratisch gestalten lernen“ sind primär der Politischen Bildung zuzuordnen. Vielfach gibt es aber auch Überschneidungspunkte zur ökonomischen Bildung – was angesichts der Gründungsgeschichte des Attac-Netzwerks nicht verwundert – oder etwa zur Umweltbildung. Ersteres trifft vor allem auf die Materialien zu den Schwerpunktthemen Kapitalismus, Finanzmärkte und Eurokrise zu. Hingewiesen sei z. B. auf das Arbeitsblatt zur Thematik „Marktwirtschaft und Kapitalismus“, in dessen Kontext u. a. grundlegende marktwirtschaftliche Prinzipien, wie das Angebots- und Nachfragegesetz, behandelt werden (vgl. Attac-D 2017j). Ein weiteres Beispiel ist das Arbeitsmaterial mit dem Titel „Die Kosten der Bankenrettung in Deutschland“, das sich mit der einstigen Rettung der Commerzbank in Folge der Finanzmarktkrise befasst (vgl. Attac-D 2018h). Unter Rückgriff auf eine tabellarische Übersicht der Ausgaben des Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung sollen die Lernenden hier etwa die Zinssätze der „stillen Einlagen“ oder die Zinsentwicklung der deutschen Staatsanleihen berechnen und daraus ableitend eine Bewertung der Bankenrettung unter ökonomischen und politischen Gesichtspunkten vornehmen. Als mögliche Quellen für weitere Recherche werden die aktuellen Geschäftsberichte der Commerzbank, Angaben des Statistischen Bundesamts und Berichte auf der Webseite des Finanzmarktstabilisierungsfonds aufgeführt.Footnote 125 Hinsichtlich der inhaltlichen Überschneidungen zu ökologischen Fragestellungen sei besonders auf das 2020 erschienene Material „Klimaneutral und sozial gerecht – Wege in die Gesellschaft der Zukunft“ (Attac-D 2020ac) verwiesen, in dem u. a. die Themenfelder Klimawandel, soziale Gerechtigkeit und Mobilität der Zukunft behandelt werden. Und auch schon im wenige Jahre zuvor veröffentlichten Attac-Material „Kapitalismus – oder was?“ widmen sich zahlreiche Arbeitsblätter ökologischen Themen. Im Modul „Wachstum und Wachstumskritik“ wird sich bspw. mit den globalen Folgen des Wachstumsdenkens auseinandergesetzt – dabei werden sowohl soziale als auch ökologische Aspekte ins Blickfeld gerückt. Schwerpunkte der Arbeitsblätter sind Fragen nach der Vereinbarkeit von Wirtschaftswachstum und Umweltschutz, den ökologischen Konsequenzen eines Festhaltens am Wachstumsparadigma und den möglichen Alternativen in Form einer Green-Economy oder Postwachstumsökonomie (vgl. Attac-D 2017k und Attac-D 2017l).

Die im Transparenz-Kodex der DVPB aufgeführten Kriterien für Unterrichtsmaterialien finden in allen Ausgaben der Attac-Materialreihe Berücksichtigung. Im Impressum werden stets sowohl der Herausgeber (Attac-Trägerverein) als auch die an der Erstellung der Materialien beteiligten Autor*innen und Kooperationspartner bzw. Finanziers (inkl. ihrer jeweiligen Logos) aufgeführt.Footnote 126 Zudem werden auch jene Personen namentlich erwähnt, die das jeweilige Autorenteam bei der Konzeption der Materialien durch fachliche Anregungen und Vorschläge unterstützt haben. Leider ist jedoch festzustellen, dass zwar die Namen der Autor*innen und Unterstützer*innen des Materials genannt werden, aber keine weiteren Informationen über deren Zugehörigkeit zu einer bestimmten Organisation oder zu deren fachlichen Qualifikation aufgeführt werden. Lediglich bei Holger Oppenhäuser findet sich ein Hinweis auf seine Tätigkeit für das Attac-Bundesbüro. Das Fehlen eines entsprechenden biographischen Abrisses erschwert nicht nur eine genaue politische Einordnung des Autor*innen- und Unterstützer*innenkreises, sondern ebenfalls eine Bewertung des möglichen Einflusses bestimmter Interessenverbände auf die Inhalte und Schwerpunkte der Bildungsmaterialien.

Bis auf einzelne Aktivitäten der Ausgabe „Kapitalismus – oder was? Über Marktwirtschaft und Alternativen“, die unter Creative Commons Lizenz veröffentlicht wurden (vgl. Attac-D 2017m und Attac-D 2017n), obliegen alle Verwertungsrechte dem Attac-Trägerverein und sind als solche auch im Impressum kenntlich gemacht. Sind keine weiteren Unterstützer*innen genannt, wurden die Materialien ausschließlich vom Attac-Netzwerk selbst finanziert. Dies triff etwa auf die Ausgaben der Jahre 2016 und 2020 zu. Hergestellt werden die Bildungsmaterialien von der Göttinger Firma „Pachnicke Druck“ bzw. seit 2019 über deren Marke „recyclingflyer.de“. Bislang beteiligten sich die GEW, die Otto-Brenner-Stiftung, der IG Metall Vorstand (FB Gewerkschaftliche Bildungsarbeit), das EPN und die Rosa-Luxemburg-Stiftung an der Veröffentlichung einzelner Ausgaben der Reihe. Informationen über deren jeweilige Geldgeber und Finanzierungsquellen sind öffentlich zugänglich oder zumindest in weiten Teilen transparent und nachvollziehbar. Insofern ist auch in diesem Fall keine Missachtung des Transparenz-Kodex der DVPB feststellbar.

5.3.3 Materialgrundlage der Attac-Reihe

Die Materialgrundlage der Attac-Reihe „Wirtschaft demokratisch gestalten lernen“ besteht aus unterschiedlichen Text- und Bildarten, wie etwa Beiträgen aus Fachzeitschriften, Karikaturen, Kartenausschnitten, Diagrammen, Schaubildern, Zeichnungen oder Auszügen aus Reden und Stellungnahmen. Diese stehen, ähnlich wie in Schulbüchern, nicht additiv nebeneinander, sondern weisen im Kontext des Bildungsmaterials stets einen inhaltlich-funktionalen Bezug zueinander auf. Insgesamt werden in den Arbeitsblättern, Aktivitäten und den unterschiedlichen Infoblättern 467 Materialien verwendet.Footnote 127 Der deutlich größte Anteil ist mit 422 der Kategorie der Arbeitsblätter zuzuordnen – gefolgt von 27 im Bereich der Aktivitäten.Footnote 128 Den häufigsten Materialtyp bilden mit 75 EintragungenFootnote 129 die Beiträge aus Tages-, Wochen- und Monatszeitungen (meist in Form von Textauszügen). Auffällig ist, dass vor allem Artikel aus dem Tagesspiegel (10), der taz (10), der Süddeutschen Zeitung (11) und der Frankfurter Rundschau (13) als Materialgrundlage verwendet wurden, während Beiträge aus anderen überregionalen Zeitungen bei der Gestaltung der Bildungsmaterialien weitgehend unberücksichtigt blieben (siehe Tabelle 5.2). Dies trifft bspw. auf die Frankfurter Allgemeine Zeitung (1), Die Welt (2) oder das Neue Deutschland (2) zu. Neben den Texten aus Tages-, Wochen- und Monatszeitungen dienen insbesondere auch Pressemitteilungen (34)Footnote 130, Beiträge aus Fachpublikationen (31) sowie Texte, Analysen und Datenmaterial von staatlichen Institutionen/Einrichtungen (23) als Materialgrundlage der Reihe. Zusammengenommen stellen diese vier Materialtypen einen Anteil von etwa 35 Prozent dar.

Tabelle 5.2 Beiträge aus Tages-, Wochen- und Monatszeitungen in den Attac-Materialien

Seit dem Material „Moderne Sklaverei? Über globale Arbeitsverhältnisse“ (2019) kommen vermehrt auch Reden, Stellungnahmen und Positionspapiere in den Attac-Bildungsmaterialien zum Einsatz. Ferner ist festzustellen, dass in den neueren Ausgaben der Materialreihe ebenfalls kurze Videoclips, Erklärfilme und Filmausschnitte als Materialgrundlage Verwendung finden. Erstmals wurde dieser Materialtyp 2017 in den Arbeitsblättern des Moduls „Tendenzen und Alternativen“ eingesetzt. Die unterschiedlichen Videos können via QR-Code bzw. Link auf der Webseite von Attac-Deutschland abgerufen werden. Bislang sind in den Jahren 2017, 2019 und 2020 insgesamt 19 Video-Verlinkungen in den Arbeitsblättern der Attac-Bildungsmaterialien eingesetzt worden. Überwiegend wurde hier auf Fremdmaterial zurückgegriffen, bspw. von „labour.net“, der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz oder der Hans-Böckler-Stiftung. Lediglich im 2020 erschienenen Arbeitsblatt „Blockade der IAA“ ist ein Attac-eigener Videoclip verlinkt, welcher die Proteste gegen die Internationale Automobil-Ausstellung 2019 in Frankfurt am Main dokumentiert.

Die Arbeitsblätter, Aktivitäten und Infoblätter bestehen zu 34,05 Prozent aus Materialien von Attac selbst. In Summe entspricht dies 159Footnote 132 von insgesamt 467 Eintragungen. Einer der Hauptbestandteile sind die vom Attac-Netzwerk eigens für bestimmte Arbeitsblätter erstellten Interviews (30) sowie Aktionsfotos (23), Info-/Autorentexte (47) und Schaubilder (17). Die von den Autor*innen der Attac-Reihe vorgenommene Unterscheidung zwischen den so genannten Infoblättern (13) und den vielfach verwendeten Infotexten (22) ist allerdings nicht immer eindeutig. So weist z. B. der 2018 aufgeführte Infotext „Akteure der Finanzkrise“ (Attac-D 2018j: 1–2) typische Merkmale des im gleichen Modul hinterlegten Infoblatts „Wertpapierhandel/Finanzmärkte“ (Attac-D 2018i: 1) auf. Beiträge von Attac-Arbeitsgruppen oder Mitgliedsorganisationen des Netzwerks sowie Texte bzw. Textauszüge aus Attac-eigenen Publikationen spielen hingegen in den Bildungsmaterialien eher eine untergeordnete Rolle. Die insgesamt 18 Eintragungen entsprechen mit Blick auf die gesamte Materialgrundlage der Attac-Reihe einem Anteil von ca. 4 Prozent. Von den etwa 100 bundesweit arbeitenden Attac-Mitgliedsorganisationen sind mit Texten und Analysen lediglich das INKOTA-Netzwerk, Südwind, Germanwatch, Pro Asyl, BUND, ver.di und medico international vertreten.Footnote 133

Doch nicht immer ist klar erkennbar, in welcher Beziehung bestimmte Autor*innen und Herausgeber*innen zum Attac-Netzwerk stehen, ob diese eventuell sogar selbst Fördermitglieder sind, einer ihm nahestehenden Organisation angehören oder sogar explizit als Vertreter*in einer Attac-Mitgliedsorganisation ausgewählt wurden. Ein Beispiel hierfür sind etwa die im Material „Kapitalismus – oder was? Über Marktwirtschaft und Alternativen“ verwendeten Textauszüge aus dem Sammelband „ABC der Alternativen 2.0“, welcher 2012 im VSA-Verlag erschienen ist und u. a. in Kooperation mit dem Wissenschaftlichen Beirat von Attac-Deutschland herausgegeben wurde (vgl. Brand et al. 2012). Neben zahlreichen Mitgliedern des Beirats, wie Adelheid Biesecker, Elmar Altvater, Achim Brunnengräber oder Frigga Haug, beteiligten sich hieran auch viele bekannte Attac-Akteure, wie z. B. Sabine Leidig, Sven Giegold, Werner Rätz oder Peter Wahl, mit eigenen Beiträgen. Im Attac-Bildungsmaterial werden aus dem Sammelband u. a. Textauszüge von Petra Buhr, Frank Deppe und Michael Krätke verwendet – ohne allerdings in den Quellenangaben oder den einführenden Erläuterungen zum Modul den Attac-Bezug der Autor*innen kenntlich zu machen. So sind Frank Deppe und Michael Krätke Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat von Attac-Deutschland (vgl. Attac-D 2020o)Footnote 134 und Petra Buhr war einst in der bundesweiten Attac-Arbeitsgruppe zur Thematik „Wissensallmende“ aktiv (vgl. hierzu bspw. Attac-D 2007a).Footnote 135 Auch hinsichtlich der in einzelnen Arbeitsblättern aufgeführten Kurzdarstellungen bestimmter Organisationen, deren Texte in den Materialien Verwendung finden, fehlen entsprechende Hinweise darauf, ob diese selbst Mitglied im Attac-Netzwerk sind. Dies ist bspw. bei der Beschreibung von ver.di und Germanwatch im Material „Klimaneutral und sozial gerecht – Wege in die Gesellschaft der Zukunft“ der Fall (vgl. Attac-D 2020af: 6 und Attac-D 2020ae: 1).

Grundsätzlich ist mit Blick auf die Materialgrundlage der Attac-Reihe zu bemängeln, dass eine einheitliche Linie in der Quellennachweisführung fehlt und einige Quellenangaben ungenau, lückenhaft und unvollständig sind. Eine Nachprüfbarkeit ist für die Lehrenden wie auch für die Lernenden teilweise nur äußerst schwer möglich. Insbesondere die Quellennachweise für die zahlreichen Diagramme und Tabellen lassen aufgrund der geringen Informationen keine weitere Überprüfung der jeweiligen Datengrundlage zu. In einigen Fällen wird lediglich auf die Eurostat-Datenbank des Statistischen Amtes der Europäischen Union oder die Ameco-Datenbank der Europäischen Kommission verwiesen, ohne jedoch einen direkten Link oder weitere Informationen zur eigentlichen Quelle zu hinterlegen. So wird in einigen Materialien lediglich die Abkürzung „Eurostat-“ oder „Ameco-Datenbank“ als Quellennachweis gesetzt, deren Zweck und Aufgabe allerdings nicht näher beschrieben.Footnote 136 Und auch an anderer Stelle sind Ungenauigkeiten festzustellen: Bei den Beiträgen aus Tages-, Wochen- und Monatszeitungen fehlen die Seitenzahlen sowie die Angabe zur jeweiligen Ausgabe (Online-/Print-Format), Aktionsfotos werden vielfach ohne Titel, kontextuelle Einordnung und Bezug zum eingesetzten Material aufgeführtFootnote 137 und in manchen Quellennachweisen werden Abkürzungen verwendet, ohne diese bspw. in einem entsprechenden Verzeichnis näher zu erläutern (vgl. bspw. Attac-D 2020ag). Zum Teil werden sogar die gleichen Quellen mit unterschiedlichen Angaben versehen. Dies trifft etwa auf das Dossier „Vom Erz zum Auto“ von Misereor und Brot für die Welt zu, das im Arbeitsblatt „Rohstoffe in der Automobilindustrie“ als Materialgrundlage dient (vgl. Attac-D 2020ah). Zudem ist auffallend, dass an vielen Stellen die Überschriften der Texte bzw. Textauszüge nicht den Originalangaben entsprechen. Exemplarisch lässt sich dies an dem Beitrag von Susanne Ehlerding im Attac-Bildungsmaterial aus dem Jahre 2020 veranschaulichen. Im entsprechenden Arbeitsmaterial „Wer ist vom Klimawandel wie betroffen?“ wurde zwar die Quelle (hier: Der Tagesspiegel) und ein Datum genannt, die Überschrift aber ohne entsprechende Kennzeichnung oder Verweis auf den ursprünglichen Titel seitens der Attac-Autor*innenFootnote 138 geändert – aus „Der Fall Luciano Lliuya gegen RWE“ wurde infolgedessen „Luciano Lliuya aus Peru“ (vgl. Attac-D 2020ai: 5). Der Hinweis, dass der Text von Susanne Ehlerding im Kontext der Pariser Klimakonferenz 2015 entstand und als Teil der Reihe „Köpfe der Klimakonferenz“, in denen Klimaaktivist*innen aus unterschiedlichen Ländern zu Wort kommen, veröffentlicht wurde, fehlt leider ebenfalls. Dies erschwert für Lernende nicht nur die politische Einordnung, sondern ebenso die Überprüfung des verwendeten Textmaterials. Eine Nachvollziehbarkeit und Kontrolle der Informationen sind dadurch kaum gegeben, worunter letztlich auch die Glaubwürdigkeit des Attac-Bildungsmaterials leidet.Footnote 139

In einigen Fällen wären im Sinne der Transparenz zusätzliche Erläuterungen zu einzelnen Personen, Organisationen oder verwendeten Quellen durchaus sinnvoll gewesen.Footnote 140 Dies trifft bspw. auf den Text von Eric Toussaint zu, der aus der Zeitschrift Emanzipation entnommen wurde. Diese erschien von 2008 bis 2015 in Folge der Einstellung der „Sozialistischen Hefte“ zwei Mal im Jahr als Beilage der „Sozialistischen Zeitung“ (SoZ), welche 1986 als Parteiorgan der „Vereinigten Sozialistischen Partei“ (VSP)Footnote 141 gegründet wurde. Die Redaktion der Zeitschrift Emanzipation verstand sich als Teil einer „antikapitalistischen, sozialistischen und linksfeministischen Bewegung“ (Red. Emanzipation 2011).Footnote 142 Aufgrund der engen Verknüpfung zur SoZ lässt sich durchaus eine Nähe zum Trotzkismus konstatieren, wie u. a. auch Bernd Hüttner 2011 in einem Beitrag für das Neue Deutschland feststellte (vgl. Hüttner 2011). Eric Toussaint ist u. a. Mitglied im „Conseil Scientifique“Footnote 143 von Attac-Frankreich, Mitbegründer des „Comité pour l’annulation de la dette du Tiers monde“Footnote 144 sowie nach wie vor aktives Mitglied im trotzkistischen „United Secretariat of the Fourth International“Footnote 145. Auszüge aus seinem Text „Alternativen zur Krise“, in dem er u. a. die „Vergesellschaftung des Bankensektors und seine Überführung in den öffentlichen Dienst“ (Toussaint 2014: 4) fordert, wurden sowohl 2015 als auch 2018 in Arbeitsblättern des Attac-Bildungsmaterial verwendet (vgl. Attac-D 2015i: 3 und Attac-D 2018k: 4). In beiden Fällen finden sich weder weiterführende Informationen zum Autor noch zum Hintergrund der Zeitschrift, in der der Text ursprünglich erschienen ist.Footnote 146

Eine klare Unterscheidbarkeit zwischen Arbeitsblättern und Aktivitäten ist in den Attac-Bildungsmaterialien nicht immer gegeben. So kommen vielfach auch in Arbeitsblättern Requisiten, Rollenkarten oder Methodenboxen zum Einsatz (vgl. Attac-D 2019q oder Attac-D 2018l). In Einzelfällen sind manche Arbeitsblätter hinsichtlich ihrer Struktur und ihres methodischen Aufbaus sogar eher den so genannten Aktivitäten zuzuordnen. Offensichtlich wird dies anhand des Arbeitsblatts „Kritik des Homo oeconomicus“ (Attac-D 2017r), dessen Grundlage im Wesentlichen eine experimentelle Methode darstellt. Diese dient zum einen als spielerischer Einstieg in die Thematik „Nutzenmaximierung“, zum anderen aber auch als Diskussionsgrundlage für die anschließende Textarbeit. Durch die Simulation von Entscheidungssituationen und die damit einhergehende Selbsterfahrung im Experiment sollen der Lernprozess unterstützt und ein zielgruppengerechter, niedrigschwelliger Zugang zum Themenfeld ermöglicht werden. In diesem Sinne dient die vorgelagerte Aktivität hier nicht nur der Vorbereitung der anschließenden Textanalyse, sondern ist zentrales Element des Arbeitsblatts.

Tabelle 5.3 Chronologische Auflistung der Aktivitäten in den Attac-Materialien

Insgesamt enthalten die verschiedenen Ausgaben der Attac-Reihe 21 Aktivitäten mit sehr unterschiedlichem Umfang (siehe Tabelle 5.3).Footnote 147 Während die so genannten Meinungsbarometer zu „Wachstum“ (Attac-D 2017n) oder „Demokratie und Wirtschaft“ (Attac-D 2016i) lediglich eine kurze Methodenbeschreibung enthalten und anhand verschiedener Thesen, die zur Diskussion gestellt werden, zu einem kontroversen Einstieg in das jeweilige Thema dienen sollen, enthält die Aktivität „Die EZB und ich – Einführung in die Geldpolitik“ (vgl. Attac-D 2015k) ein wesentlich umfangreicheres Materialpaket. Neben einer Kurzbeschreibung und weiteren Hinweisen zum benötigten Zeitbudget, der Gruppengröße und dem Ablauf sind außerdem Requisiten, ein Infotext sowie ein Schaubild zum „Zusammenspiel der Wirtschaftsakteure“ als Kopiervorlage hinterlegt. Nicht alle Aktivitäten und Methodenbeschreibungen der Attac-Reihe sind allerdings von den Attac-Autor*innen selbst entwickelt worden. Das „Gummibärchen-Spiel“ in der Ausgabe „Kapitalismus oder was? Über Marktwirtschaft und Alternativen“ stammt bspw. aus dem Bildungsmaterial „Baustein zur nicht-rassistischen Bildungsarbeit“, welches 2003 vom DGB-Bildungswerk Thüringen herausgegeben und inzwischen mehrmals aktualisiert wurde (vgl. DGB-TH 2008). Eine neuere Version des Gummibärchen-Spiels, die u. a. 2006 im Rahmen des JugendbildungsNetzwerks der Rosa-Luxemburg-Stiftung erprobt wurde, fand später ebenfalls Eingang in die Broschüre „Bildung zu Kapitalismus und Kapitalismuskritik“ (vgl. AG PolÖk 2011: 31 ff.) und diente letztlich den Autor*innen der Attac-Reihe als Grundlage für das eigene Bildungsmaterial. Gleiches gilt für die Aktivität „Bildimpuls – Arbeitswelt“ (vgl. Attac-D 2019r), deren ursprünglicher Titel „Wer macht welche Arbeit?“ (vgl. DGB-TH 2008: 396 ff.) lautet, und die Aktivität „Weltverteilungsspiel – Reichtum und Sklaverei“ (Attac-D 2019s), die im Wesentlichen an das Konzept von „Refugee Chair – Die Welt in Stühlen“ (vgl. DGB-TH 2008: 340 ff.)Footnote 148 anknüpft. Beide von Attac verwendeten Materialien erschienen zuvor ebenfalls im Bildungsmaterial des DGB-Bildungswerks Thüringen und unterscheiden sich in Ablauf, Methodik und Zielsetzung letztlich kaum von den Originalen.Footnote 149 Weitere Beispiele sind in diesem Kontext die Aktivitäten „Meinungsbarometer Wachstum“ (vgl. Attac-D 2017n) und „Die globale Perspektive“ (vgl. Attac-D 2017m), deren Bestandteile zu einem Großteil aus dem Bildungsmaterial „Endlich Wachstum“ des Berliner Vereins FairBindung entnommen und für die Attac-Reihe adaptiert wurden (vgl. FairBindung 2016: 19 und 96).

In vielen Arbeitsblättern und Aktivitäten der Attac-Bildungsmaterialien wurden zusätzlich Methodenboxen bzw. Methodenbeschreibungen integriert – im Falle des „Statuen-Theaters“Footnote 150 sind diese sogar explizit für Lehrende und Lernende ausgearbeitet worden. Insgesamt finden sich 18 unterschiedliche methodische Hinweise zur „Bearbeitung der Materialien“ (Attac-D 2020aj: 2) in den einzelnen Ausgaben der Reihe. Neben dem „Statuen Theater“ werden vor allem das „Gruppenpuzzle“ und die „Talkshow“ in den verschiedenen Arbeitsblättern und Aktivitäten eingesetzt. Von den 43 Methodenboxen, die in den Materialien hinterlegt wurden, sind 20 dieser Dreiergruppe zuzuordnen – zusammengenommen entspricht das einem Anteil von 46,51 Prozent (siehe ebenfalls Tabelle 5.4).

Die Arbeitsblätter und Aktivitäten der Materialreihe, einschließlich der in ihnen enthaltenen Methodenbeschreibungen, sollen den Lehrenden in erster Linie als Anregung für ihre Unterrichtsgestaltung dienen und sind oftmals so konzipiert, dass sie angepasst, modifiziert und/oder erweitert werden können (bspw. durch die entsprechende Aktualisierung einzelner Tabellen oder die Wahl des methodischen Ansatzes). Die von den Autor*innen des Bildungsmaterials aufgeführten Arbeitsvorschläge bieten daher in erster Linie einen Orientierungsrahmen für die möglichen Bearbeitungsschritte. Aufgrund der Komplexität einzelner Materialien ist seitens der Lehrenden des Öfteren jedoch eine zielgruppengerechte Anpassung erforderlich. Beispielhaft ist hierfür das Arbeitsblatt zur Fragestellung „Wie funktioniert eine Bank?“ (Attac-D 2018g), in dessen Zuge unterschiedliche Personen/Personengruppen und Unternehmen anhand von Rollenbeschreibungen auf einem Schaubild zugeordnet werden sollen. Als zusätzliche Hilfestellung ist ein Infotext mit zentralen Begriffen aus dem eigens für das Material erstellten Glossar hinterlegt. Nach erfolgreichem Abschluss der Aufgabe kann sich in einem nächsten Schritt mit der Frage „Wie kann eine Bank pleitegehen?“ auseinandergesetzt werden. Beide Arbeitsaufträge erfordern entsprechende Vorkenntnisse und eine gezielte inhaltliche Begleitung seitens des Lehrpersonals. Die den Modulen vorgelagerten Einführungstexte geben zwar einen groben Überblick zum Anwendungs- bzw. Einsatzbereich, spezifische Erläuterungen zu einzelnen Arbeitsblättern und Aktivitäten fehlen jedoch. So bleibt es den Lehrkräften selbst überlassen, eine entsprechende Bewertung, bspw. hinsichtlich der Zielgruppe, des Einsatzbereichs und der genauen Rahmensetzung, vorzunehmen.

Tabelle 5.4 Methodenboxen/Methodenbeschreibungen in den Attac-Materialien

Die einzelnen Lerneinheiten können, wie die Autor*innen der Reihe betonen, nicht nur im schulischen Kontext, sondern ebenfalls „in der Bildungsarbeit von Gewerkschaften, Verbänden und freien Trägern der politischen Bildung“ (Attac-D 2016d: 1) eingesetzt werden. Pädagogisches Leitprinzip der Attac-Bildungsmaterialien ist die „Verknüpfung der Lerngegenstände mit aktivierenden und insbesondere kooperativen Lernformen“ (ebd.). Insofern sind in vielen Materialien insbesondere aktionsorientierte Methoden enthalten. Besonders deutlich wird dies mit Blick auf das Arbeitsblatt „Selbst aktiv werden“ (Attac-D 2020ak), bei dessen Erstellung die Autor*innen auf das Konzept „Hand Print: Wandel in Bewegung setzen“ (vgl. Germanwatch 2021) der Attac-Mitgliedsorganisation Germanwatch zurückgegriffen haben. Als Ziel wird hier formuliert, Menschen zu motivieren, „relevante gesellschaftliche und politische Veränderungen aktiv mitzugestalten und Nachhaltigkeit in der Schule, am Arbeitsplatz, im Verein, in der Stadt, Kommune oder auf landes- und bundespolitischer Ebene strukturell zu verankern“ (ebd.). Diesem Ansatz folgend enthält das Arbeitsblatt einen Fragenkatalog, der zum politischen Engagement motivieren und zugleich erste mögliche Handlungsschritte zur Realisierung einer Aktion aufzeigen soll.Footnote 151 Hiermit vergleichbar ist auch die so genannte Checkliste für Aktionsplanung, die aus dem Leitfaden für Attac-Gruppen entnommen und in den Arbeitsblättern „Widerstand gegen Ausbeutung“ (Attac-D 2019t) und „Politisches Engagement zwischen Mobilisierung, Instrumentalisierung und Misserfolg“ (Attac-D 2015l) als Materialgrundlage verwendet wurde. Im Einführungstext zum Modul „Ansätze zur Finanzmarktregulierung in Europa“, in dessen Rahmen das letztgenannte Arbeitsblatt erschienen ist, wird explizit auf die „Planung politischer Aktionen“ (Attac-D 2015m: 4) Bezug genommen und das pädagogische Ziel formuliert, dass die Lernenden durch die praxisnahen Einblicke in die Kampagnenarbeit erfahren sollen, welche „Möglichkeiten, Probleme und Grenzen“ (ebd.) damit verbunden sind. Eine etwas andere Aufgabenstellung wählten die Autor*innen der Attac-Reihe im Arbeitsblatt „Care Revolution“ (Attac-D 2017s). In diesem werden die Lernenden aufgefordert, selbst auf der Webseite des Netzwerks Care Revolution nach öffentlichen Aktionen zu recherchieren und diese „hinsichtlich ihrer Ziele und der dafür eingesetzten Mittel“ (ebd.: 2) zu bewerten. Anschließend soll inhaltlich begründet werden, ob man sich vorstellen könne, sich in dem eigens untersuchten Bereich zu engagieren.Footnote 152

In vielen Arbeitsblättern und Aktivitäten sind Fotos von vergangenen globalisierungskritischen und Attac-spezifischen Aktionen als Materialgrundlage hinzugefügt, so z. B. von den Anti-G8-Protesten in Heiligendamm 2007 (vgl. Attac-D 2016e: 2), der Besetzung der Tribüne des Saals der Frankfurter Börse 2008 (vgl. Attac-D 2015g: 3 oder Attac-D 2018m: 3), der Großdemonstration gegen TTIP und CETA am 10. Oktober 2015 (vgl. Attac-D 2016g: 1) oder der „Go-In“-Aktion in Frankfurt am Main 2015, in deren Zuge versucht wurde, in die Europäische Zentralbank zu gelangen (vgl. Attac-D 2015f: 4).Footnote 153 Deutlich wird der aktionsorientierte Ansatz ebenso in den zahlreichen Videos von Protestaktionen und Kampagnen, die seit 2017 vermehrt zum Einsatz kommen. Neben dem Kampagnenvideo des Berliner Energietisches zum VolksentscheidFootnote 154 am 3. November 2013 über die Rekommunalisierung der Berliner Energieversorgung enthalten einzelne Arbeitsblätter und Aktivitäten z. B. auch Videos von „Critical Mass” oder den Protesten gegen die Internationale Automobil-Ausstellung 2019 in Frankfurt am Main. Gerade im Vergleich zu früheren Ausgaben der Attac-Reihe ist festzustellen, dass insbesondere in der 2020 erschienenen Ausgabe zur Klimathematik deutlich öfter auf diese Materialarten gesetzt wird und verstärkt aktionsorientierte bzw. handlungsorientierte Ansätze in den Fokus gerückt werden. Hervorzuheben ist in diesem Kontext etwa das Modul „Vor Ort aktiv werden“, dessen Schwerpunkt auf politischen Aktions- und Beteiligungsformen zur Verkehrswende liegt.Footnote 155 Anhand eines Laufzettels für ein Stationenlernen werden u. a. die Besetzung des Dannenröder Forstes, das Kinder- und Jugendparlament in Marburg sowie das Bürgerbegehren für eine fahrrad- und fußgängerfreundliche Stadt in Frankfurt am Main näher vorgestellt und mit dem Arbeitsauftrag verknüpft, eine Stellungnahme zu einer der dargestellten politischen Aktions- bzw. Beteiligungsformen zu formulieren sowie ein persönliches Statement hierzu auf einem selbst gewählten Social-Media-Kanal zu veröffentlichen (vgl. Attac-D 2020am).

Schon im 2016 erschienenen Material „TTIP & Co: Handelsvertrag sticht Demokratie?“, das ebenso wie die 2020 veröffentlichte Ausgabe zu Klimaneutralität und sozialer Gerechtigkeit ohne weitere Kooperationspartner konzipiert wurde, war die für die globalisierungskritische Bildungsarbeit charakteristische Aktionsorientierung bereits deutlich zu erkennen. Dies zeigt sich zum einen an den zahlreichen Aktionsfotos und protestspezifischen Materialien (siehe etwa das Attac-Flugblatt zur Thematik Antiamerikanismus oder den Verweis auf die Infobroschüre zur Kampagne gegen das geplanten Freihandelsabkommen TiSA), zum anderen aber vor allem an den methodischen Elementen und Arbeitsvorschlägen. Im Arbeitsblatt „Europäische Bürgerinitiative“ (Attac-D 2016j) werden die Lernenden bspw. zur Planung einer Bürgerinitiative oder vergleichbaren Kampagne aufgefordert. Dabei soll kritisch hinterfragt werden, welches Vorgehen wohl am besten zur Durchsetzung der eigenen Kampagnenziele geeignet sei und welche potentiellen Bündnispartner einzubinden wären. Zwecks Vorbereitung wird ergänzend auf den Leitfaden der Online-Plattform „Kreaktivisten.org“ hingewiesen, die u. a. praktische Handlungshilfen für unterschiedliche Aktionsformen bereithält (inkl. Ratschläge für die Bildung von Aktionsgruppen). In der Aktivität „Statuen-Theater“ (Attac-D 2016f), um an dieser Stelle ein weiteres Beispiel zu nennen, wird in der Methodenbeschreibung für Teilnehmende auf eine Variante hingewiesen, in der die „Statue“ auch als Teil einer öffentlichen Protestaktion aufgeführt werden kann. Ergänzt wird dies mit einem Aktionsfoto, das ein Straßentheater im Rahmen einer Attac-Aktionsakademie zeigt.

Holger Oppenhäuser zufolge sollen die Bildungsmaterialien von Attac-Deutschland einerseits „das Handlungsrepertoire sozialer Bewegungen, insbesondere die mehr oder weniger unkonventionellen Formen politischer Partizipation“ (Oppenhäuser 2017b: 325), thematisieren sowie andererseits „Gegenexpertise zu den vorherrschenden neoklassischen Sichtweisen auf wirtschaftliche Prozesse“ (ebd.) einbringen. Diese grundlegende Ausrichtung ist letztlich auch in dem für die Reihe „Wirtschaft demokratisch gestalten lernen“ zusammengestellten Material deutlich feststellbar. Im Fokus stehen die Sensibilisierung für globalisierungsspezifische Fragestellungen, die Vermittlung von Basiswissen sowie die Verknüpfung zur praktischen Handlungsebene im Sinne der vielfach von Attac selbst betonten Aktionsorientierung. Die Auswahl der Materialien spiegelt den Leitgedanken der Autor*innen wider, einen Gegenentwurf zu den zahlreichen, teils kostenlos zur Verfügung gestellten Bildungsmaterialien von Unternehmen oder unternehmensnahen Organisationen und Stiftungen zu präsentieren und die Lernenden zum politischen Engagement bzw. zum realen politischen Handeln zu motivieren.

5.3.4 Demokratiebilder und Partizipationsformen

Attac-Deutschland möchte mit seinen Bildungsmaterialien und Lernangeboten „bestimmte Perspektiven eröffnen und zur Diskussion einladen“ (Attac-D 2016d: 2), ohne dabei allerdings die „Lernenden zu manipulieren oder gar zu indoktrinieren“ (ebd.). Die in der Reihe „Wirtschaft demokratisch gestalten lernen“ veröffentlichten Aktivitäten und Arbeitsblätter sollen demgemäß „zu einem produktiven Dissens beitragen“ (Attac-D 2017t: 2) und Bildungsprozesse initiieren, in denen die Lernenden über die „ökonomische Verfassung unserer Gesellschaft streiten und sich darauf vorbereiten, die Positionen, die sie dabei entwickeln, als mündige Bürger_innen in demokratischen Prozessen zur Geltung zu bringen“ (ebd.). Zugleich will Attac mit seinen Materialien aber auch „das Handlungsrepertoire sozialer Bewegungen […] thematisieren“ (Attac-D 2019n: 1) und, wie schon weiter oben erwähnt, „Gegenexpertisen zu den vorherrschenden neoklassischen Sichtweisen auf wirtschaftliche Prozesse [einbringen]“ (ebd.: 2). Als aktionsorientierte Bildungsbewegung setzt Attac-Deutschland neben „Bildung, Information und Debatte“ (Attac-D 2020d) vor allem auf „öffentlichkeitswirksame[.] Aktivitäten“ (ebd.). Dabei sollen „Prozesse der Globalisierung, […] differenzierte Sichtweisen, und Folgen und Gefahren für den/die Einzelnen vor Ort, für Staaten, oder für die Weltgemeinschaft“ (ebd.) in die öffentliche Debatte getragen sowie Ideen zum selbständigen Handeln und zur Gestaltung von Veränderungsprozessen in den Fokus gerückt werden. Die Bildungsangebote von Attac-Deutschland sollen, nach eigenem Bekunden, „insbesondere auf Gerechtigkeits- und Demokratiedefizite“ (ebd.) hinweisen. Neben der Auseinandersetzung mit Defiziten und Mängeln der Demokratie, werden in zahlreichen Arbeitsblättern und Aktivitäten auch Möglichkeiten der Einflussnahme auf politische Entscheidungsprozesse vorgestellt sowie alternative Formen des demokratischen Zusammenlebens aufgezeigt. Dabei sollen die Lernenden durch verschiedene Bildungsprozesse zur kritischen Reflexion ihrer eigenen Demokratievorstellungen angeregt und zugleich zur Beteiligung an politischen Aktionsformen ermutigt werden. Ungleichheitsfragen sollen anhand der eigenen Lebensumstände sowie mit Blick auf mögliche politische Alternativen, wie z. B. die Einführung einer Tobin-Steuer, diskutiert werden.

Im Arbeitsblatt „Wirtschaftsdemokratie“, das 2017 veröffentlicht wurde, werden die Lernenden bspw. aufgefordert, anhand eines Videos der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz und der dazugehörigen Kampagnenseite (https://wirtschaftsdemokratie.ch) eine Stellungnahme zu den dargelegten Vorschlägen zu formulieren und das im Video skizzierte Demokratieverständnis mit seinem eigenen „alltagsverständlichen Demokratieverständnis“ (Attac-d 2017u: 2) zu vergleichen. Doch nicht nur in den Arbeitsblättern, sondern auch in den Aktivitäten und ergänzenden Methodenbeschreibungen zeigt sich dieser aktionsorientierte Schwerpunkt der Attac-Bildungsarbeit. In Rahmen der „Pro- und Contra-Debatte“ erhalten die Lernenden z. B. die Möglichkeit, ihre eigene Sichtweise zu einem politischen Konflikt oder einer (aktuellen) politischen Fragestellung argumentativ zu begründen und mit anderen zu diskutieren. Die unterschiedlichen Argumente sollen dabei in einer offenen Gesprächsatmosphäre ausgetauscht und im Anschluss nochmals gemeinsam in der Gruppe besprochen und ausgewertet werden. Wie Attac betont, ist „das offene Austragen widerstreitender Meinungen zentraler Bestandteil einer Demokratie“ (Attac-D 2015n: 1). Insofern gelte es gerade auch im Unterricht Streitgespräche zu simulieren und deren Regeln einzuüben (vgl. ebd.). Die Methodik des „Gruppenpuzzles“, auf die mehrfach in den einzelnen Ausgaben der Attac-Reihe verwiesen wird, knüpft an diesen Ansatz an und verbindet ihn mit einer arbeitsteiligen Analyse im Rahmen eines Gruppensettings. Auch hier steht der „gegenseitige[.] Austausch und die Diskussion unterschiedlichen Expertenwissens“ (Attac-D 2020ao: 1) sowie die anschließende gemeinsame Reflexion im Vordergrund.

In der „Expertenanhörung“ sollen die Lernenden ein politisches Beratungsverfahren nachahmen. Als Grundlage hierfür dienen ihnen „Expertisen unterschiedlicher Interessengruppen, d. h. von wirtschaftlichen Akteuren, zivilgesellschaftlichen Verbänden, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Wissenschaftler_innen“ (Attac-D 2015i: 1), deren Positionen dann in einer fiktiven Anhörung vor politischen Entscheidungsträger*innen (wie etwa dem Finanzausschuss des Europäischen Parlaments) dargelegt werden sollen. Im Unterschied zur Methode des „Gruppenpuzzles“ ist in der „Expertenanhörung“ neben der inhaltlichen Reflexionsphase besonders die Nachvollziehbarkeit von „politische[n] Beratungsverfahren sowie die Analyse des Einflusses von Expert_innen und Lobbyist_innen auf politische Entscheidungen“ (ebd.) von Relevanz. Die Lernenden sollen sich daher speziell der Frage widmen, wie die jeweiligen „Akteure ihre Positionen durchgesetzt und somit Einfluss auf Politiker_innen ausgeübt“ (ebd.) haben. Im Kontext der so genannten „Machtnetz-Analyse“, die sowohl im Arbeitsblatt „Privatisierung von Krankenhäusern“ als auch im Arbeitsblatt „Ein UN-Abkommen für Wirtschaft und Menschenrechte?“ als Methode hinterlegt ist, wird „eine klassische Konfliktanalyse mit der im Bereich der Mediation entwickelten Spinnwebanalyse“ (Attac-D 2019p: 1) kombiniert. Ähnlich wie in der „Expertenanhörung“ sollen die Lernenden auch hier dazu angeregt werden, sich kritisch mit politischen Machtgefügen und Entscheidungsverfahren auseinanderzusetzen. Zentrale Fragen sind hier: Über welche Mittel verfügen einzelne Akteure, um ihre Interessen durchzusetzen? Wer nimmt in welchem Maße z. B. durch gezielte Lobbyarbeit oder öffentlichkeitswirksame Protestaktionen Einfluss auf Gesetzgebungsverfahren? Bei der Methode der „Machtnetz-Analyse“ geht es nicht um die Erarbeitung von Lösungsvorschlägen für einen bestimmten politischen Konflikt, sondern um das Verständnis des Konfliktfelds als ein Machtfeld und daran anknüpfend um die Entwicklung eigener politischer Positionen.

Für den Einstieg in die Themenfelder „Demokratie und Wirtschaft“ (Attac-D 2016i) und „Wachstum“ (Attac-D 2017n) haben die Attac-Autor*innen auf die soziometrische Übung des so genannten „Meinungsbarometers“ zurückgegriffen. Diese vor allem in der außerschulischen politischen Bildungsarbeit weit verbreitete Methode ermöglicht die Darstellung und Verdeutlichung von Stimmungs- bzw. Meinungsbildern in Gruppenzusammenhängen auf Grundlage der körperlichen Positionierung der Teilnehmenden. Anhand einer gedachten oder markierten Linie, die quer durch den Raum verläuft, sollen sich die Lernenden nach dem Zustimmungsgrad zu einer bestimmten These positionieren. Die Enden markieren dabei die Pole für eine volle Zustimmung oder eine volle Ablehnung; dazwischen liegen u. a. die Bereiche „trifft eher zu“ oder „trifft weniger zu“. Die Teilnehmenden können einen beliebigen Punkt auf dieser „lebenden Skala“ wählen und je nach methodischem Ansatz zusätzlich die Hintergründe ihrer Positionsentscheidung erläutern. Gegensätzliche Meinungen sollen zunächst unkommentiert bleiben und erst in einer anschließenden Reflexionsphase nochmals aufgegriffen und gemeinsam diskutiert werden. Der „Meinungsbarometer“, der auch unter den Namen „Positionslinie“, „Bewertungsstrahl“ oder „Streitlinie“ bekannt ist, soll den persönlichen Einstieg in ein spezifisches Thema erleichtern, für gesellschaftliche Widersprüche und Konfliktfelder sensibilisieren sowie zum Austausch und zur Diskussion anregen. Durch die Aufstellung im Raum werden unterschiedliche Meinungen der Teilnehmenden sowie die eigene Position innerhalb der Gruppe sichtbar.

Die Meinungsbarometer der Reihe „Wirtschaft demokratisch gestalten lernen“ setzen beide, so zumindest die Vorbemerkung der Attac-Autor*innen, ein „gewisses Grundverständnis von Demokratie und von wirtschaftlichen Prozessen voraus“ (Attac-D 2016i: 1) und sollen als Einführung in die jeweiligen Themenfelder der Module dienen. Während das Meinungsbarometer „Demokratie und Wirtschaft“ im Kontext der Verhandlungen über TTIP und CETA entstand und insbesondere Aspekte aufgreift, die im Zuge des Abschlusses von Handelsverträgen immer wieder kontrovers diskutiert werden, liegt der Schwerpunkt des Barometers zur Thematik „Wachstum“ auf den Bereichen Wirtschaftswachstum, Kapitalismus und Demokratie. In beiden Meinungsbarometern werden zum Teil dieselben oder ähnliche Thesen zur Positionsbestimmung aufgeführt. Zu den zentralen Aussagen zum Themenkomplex „Demokratie“ gehören hier etwa:

  • Wenn regelmäßig Wahlen stattfinden, dann ist ein Land demokratisch;

  • Lobbyismus ist gut für die Demokratie;

  • Politiker*innen können nicht alles wissen, es ist sinnvoll, wenn sie sich von Unternehmen in Wirtschaftsfragen beraten lassen;

  • Politiker*innen können nicht alles wissen, es ist sinnvoll, wenn sie sich von Gewerkschaften in Wirtschaftsfragen beraten lassen;

  • Kapitalismus und Demokratie passen nicht zusammen

  • in einer Demokratie muss es möglich sein, über das Wirtschaftssystem zu entscheiden und Unternehmen zu enteignen;

  • Staatsbetriebe sind demokratischer als private Konzerne;

  • eine Gesellschaft, in der Firmenchefs entscheiden, welche Güter wir herstellen, ist nicht demokratisch;

  • in einer demokratischen Gesellschaft müssen die Menschen auch gemeinsam entscheiden, welche Güter sie produzieren (vgl. ebd. und Attac-D 2017n: 1).

Die Thesen werfen zum einen grundsätzliche Fragen nach der Vereinbarkeit von Kapitalismus und Demokratie und dem Einfluss von Lobbygruppen auf politische Entscheidungsprozesse auf, zum anderen verweisen sie aber auch (indirekt) auf die Möglichkeit einer Enteignung von Unternehmen sowie einer Mitbestimmung in Produktionsfragen – oder im weitesten Sinne sogar einer Produktion in Selbstverwaltung. Auf diesen Enteignungs- und Vergesellschaftungsgedanken wird in den Attac-Bildungsmaterialien an mehreren Stellen näher eingegangen. In den Ausgaben von 2016 und 2018 sind einzelnen Arbeitsblättern bspw. Auszüge aus dem Grundgesetz Artikel 14 als Materialgrundlage beigefügt (vgl. Attac-D 2016l: 2 und Attac-D 2018n: 1). In diesem wird in Abs. 3 die Zulässigkeit der Enteignung zum Wohle der Allgemeinheit aufgeführt und in Abs. 2 darauf hingewiesen, dass Eigentum verpflichtet und „sein Gebrauch […] zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen [soll]“ (Grundgesetz 1949, zit. 2019: 37). Auszüge aus dem Artikel 15 des Grundgesetzes, welcher eine Vergesellschaftung von „Grund und Boden, Naturschätze[n] und Produktionsmittel[n]“ (ebd.) und sowohl Art als auch Ausmaß einer etwaigen Entschädigung thematisiert, sind in den Materialien der Attac-Reihe hingegen nicht zu finden. Dennoch wird sich in zahlreichen Texten bzw. Textauszügen sowie in einem eigenen Arbeitsblatt (vgl. Attac-D 2017v) diesem Themenfeld näher gewidmet: In dem bereits erwähnten Beitrag von Eric Toussaint wird z. B. die Enteignung von Großaktionären und eine „Vergesellschaftung des Bankensektors und seine Überführung in den öffentlichen Dienst“ (Toussaint 2014: 4) thematisiert. Die Arbeitsgruppe „Alternative Wirtschaftspolitik“ plädiert in ihrem Text, der ursprünglich schon 1981 erschien und in der Ausgabe von 2017 der Attac-Reihe in gekürzter Version als Materialgrundlage beigefügt wurde, mit Verweis auf den Artikel 15 des Grundgesetzes für eine Vergesellschaftung der Stahlindustrie – verbunden mit der Hoffnung, dass man dadurch „prinzipiell in der Lage [wäre], die Stahlversorgung, […] Beschäftigung und regionale Strukturentwicklung auf demokratische Weise zu planen“ (AAW 1981). Thomas Sablowski und Etienne Schneider vertreten in ihrem Text „Verarmung made in Frankfurt/M. Die Europäische Zentralbank in der Krise“, den die Attac-Autor*innen als Materialgrundlage für das Arbeitsblatt „EZB und Staatsfinanzierung“ (Attac-D 2015f) wählten, sogar die Position, dass nicht nur „eine Vergesellschaftung […] des Finanzsektors, sondern aller kapitalistischen [sic!] Unternehmen“ (Sablowski/Schneider 2013: 5) von Nöten sei. Auf diese Weise, so Sablowski und Schneider, könnten die „Lohnabhängigen sich die Produktionsmittel aneignen und selbst kollektiv entscheiden, was und wie produziert wird“ (ebd.). Deutlich skeptischer bezüglich einer Vergesellschaftung der Banken ist hingegen Rudolf Hickel. In einem Text, der auf einem Interview aus dem Jahre 2018 beruht, äußert sich das Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats von Attac-Deutschland wie folgt: „Ich war selbst lange Jahre dafür, die Banken zu verstaatlichen, aber ich traue der Politik das nicht mehr zu“ (zit. n. Attac-D 2018:0: 4). Stattdessen, so Hickel, solle die Politik „streng regulieren“ (ebd.) – dies hieße folglich auch, „bestimmte Geschäfte [zu] verbieten, [wie z. B.] reine Spekulationspapiere oder Wetten auf Zinsdifferenzen“ (ebd.).

Interessant ist an dieser Stelle, dass die im gleichen Arbeitsblatt hinterlegten Texte der Attac-Autor*innen zum Themenfeld „Vergesellschaftung“ gerade im Vergleich zu den oben skizzierten Beiträgen eher einer sachlich-nüchternen Zusammenfassung der unterschiedlichen Positionen gleichen und Attac-spezifische Forderungen nur eine untergeordnete Rolle spielen. Dies trifft sowohl auf den Überblickstext „Eine neue Finanzkrise?“ (Attac-D 2018p: 1) als auch auf den „Kurztext: Vergesellschaftung“ (Attac-D 2018q: 8) zu. Dem letzteren ist bspw. zu entnehmen:

„Der Staat soll die Banken übernehmen. Banken sollen in den Dienst der gesamten Gesellschaft gestellt werden. Sie sollen nur das machen, was der gesamten Gesellschaft nutzt […]. Andere sagen: Das mit der demokratischen Kontrolle funktioniert nicht. In der Finanzkrise mussten auch Landesbanken, die dem Staat gehören, gerettet werden. Sie meinen: Der Staat soll die Banken streng kontrollieren und riskante Geschäfte verbieten. Aber er soll sie nicht selbst übernehmen“ (ebd.).

Und im „Kurztext: Banken pleite gehen lassen“ wird die Schlussfolgerung gezogen:

„Manche sagen: Im Kapitalismus ist es normal, dass Unternehmen pleitegehen, wenn sie schlecht wirtschaften. Das muss auch für Banken gelten. Der Markt soll das Problem lösen. Andere sagen dagegen: Der Staat muss verhindern, dass eine Bank die nächste mit in die Pleite reißt. Sonst kommt es zu einer chaotischen Finanzkrise. Erst brechen die Banken zusammen und dann die gesamte Wirtschaft. […] Banken in die Pleite gehen zu lassen kann […] eine Lösung sein. Es gibt aber auch das Risiko eines unkontrollierten Zusammenbruchs. Der Prozess muss auf jeden Fall politisch gesteuert werden.“ (Attac-D 2018s: 8)

Ungeachtet des hier durchaus festzustellenden Bemühens um eine ausgewogene Betrachtungsweise zeigt sich mit Blick auf die Materialzusammenstellung des Arbeitsblattes „Was tun, wenn Banken pleitegehen?“ und die in den einzelnen Texten bzw. Textauszügen umrissenen Positionen eine recht eindeutige politische Leitlinie. Diese wurde von den Attac-Autor*innen im Einführungstext der Ausgabe „Globalisierte Finanzmärkte. Ein Jahr nach Beginn der großen Krise“ mit den folgenden Worten näher beschrieben:

„Als Teil der internationalen globalisierungskritischen Bewegung entstand Attac als Gegenbewegung zur gesellschaftlichen Vorherrschaft des sogenannten Neoliberalismus. Dies impliziert die Kritik am neoklassischen Paradigma, das nicht nur die Wirtschaftswissenschaften weithin dominiert, sondern dessen Modelle zudem auf immer mehr gesellschaftliche Bereiche übergreifen und sie Kosten-Nutzen-Kalkülen unterwerfen. Die weltanschaulichen und wissenschaftlichen Grundlagen dieser Kritik sowie die daraus erwachsenden Kampagnen und Projekte von Attac sind vielfältig. Das Spektrum reicht von Vorschlägen für alternative (Wirtschafts-)Politiken bis hin zu radikaler Kapitalismuskritik und der Suche nach Wegen zur Demokratisierung der gesamten Gesellschaft inklusive der Ökonomie. So werden im vorliegenden Material verschiedene Optionen der Bankenrettung von der marktgesteuerten Pleite, über die staatlichen ‚Bail-Outs‘ im Zuge der Krise und die neuen EU-Regeln zum ‚Bail-in‘ bis hin zur Vergesellschaftung diskutiert.“ (Attac-D 2018r: 1)

Von den insgesamt zwölf Texten bzw. Textauszügen des Arbeitsblatts „Was tun, wenn Banken pleitegehen?“ sind sieben so genannte Autorentexte von Attac selbst. Hinzu kommen der schon erwähnte Textauszug von Eric Toussaint zum Thema Vergesellschaftung, ein Interview, das die Attac-Autor*innen mit dem Sozialwissenschaftler und Buchautoren Andreas Kallert geführt haben, zwei Beiträge aus der taz von Jens Berger und Ulrike Herrmann, ein Artikel von Thomas Spang aus der Frankfurter Rundschau sowie ein Auszug aus einer Pressemitteilung der Europäischen Kommission. Während Jens Berger in seinem Beitrag bspw. Islands Vorgehen in der Finanzkrise analysiert und daraus die Schlussfolgerung zieht, dass „[e]in Staat, der nicht seine Banken, sondern seine Bürger rette[.]“ (Berger 2012, zit. 2018: 5), alles richtig mache, stellt Ulrike Herrmann ernüchtert fest, dass die Bankenrettung im Zuge der Finanzkrise gezeigt hätte, „dass die Finanzlobby gesiegt [habe]“ (Herrmann 2012, zit. 2018: 10) und die Idee der europäischen Bankenunion letztlich „eine Farce“ (ebd.) sei. Andreas Kallert kritisiert in seinem Interview die Begrifflichkeit der „Systemrelevanz“ und betont, dass es sich dabei um keine neutrale, sondern um eine politische Kategorie handeln würde (vgl. Attac-D 2018t: 9).

Das Arbeitsblatt „Was tun, wenn Banken pleitegehen?“ ist hinsichtlich der vor allem durch die externen Texte transportierten „Kritik am neoklassischen Paradigma“ (Attac-D 2018r: 1) keine Ausnahme. Besonders deutlich wird die politische Ausrichtung einzelner Attac-Bildungsmaterialien im Modul „Tendenzen und Alternativen“ der 2017 erschienenen Ausgabe der Attac-Reihe. Darin werden in Form eines Stationenlernens „ökonomische Alternativvorschläge […] vorgestellt, die in den vergangen [sic!] Jahren in sozialen Bewegungen diskutiert und erprobt wurden“ (Attac-D 2017t: 1). Im Fokus stehen die partizipatorische Ökonomie, Genossenschaften, Wirtschaftsdemokratie, Care Revolution, Postwachstumsökonomie, Commons sowie das auch in anderen Ausgaben der Attac-Reihe diskutierte Themenfeld der Vergesellschaftung. Grundsätzlich bestehen die Arbeitsblätter der jeweiligen Stationen aus zwei Texten/Textauszügen und einer Verlinkung via QR-Code zu einem themenspezifischen Video, das über die Attac-Webseite abgerufen werden kann. Das Arbeitsblatt „Partizipatorische Ökonomie“ setzt sich bspw. aus einem gekürzten Beitrag von Peter Nowak aus dem Neuen Deutschland, einem Videomitschnitt eines Interviews mit dem linken US-amerikanischen Aktivisten Michael Albert und einem Textauszug von Jochen Körner, der ursprünglich auf der Webseite des Vereins „Kunst des Scheiterns“Footnote 156 veröffentlicht wurde, zusammen. Körner skizziert das von Michael Albert maßgeblich geprägte Konzept einer partizipatorischen Ökonomie (engl. participatory economics), welches oft mit dem Begriff „Pareco“ abgekürzt wird. Dabei handelt es sich um ein postkapitalistisches Wirtschaftsmodell bzw. eine „makroökonomische Utopie“ (Körner 2017: 1), die, wie Körner betont „weder auf Marktwirtschaft noch Zentralplanung beruht, sondern auf Selbstbestimmung und freier Assoziation“ (ebd.). Kernelemente dieses Modells sind u. a. „ein basisdemokratisch-föderativer Aufbau ‚von unten nach oben‘ sowohl der politischen, als auch der ökonomischen Organisation der Gesellschaft[,] […] kein privates Eigentum an den Produktionsmitteln“ (ebd.) sowie eine Organisation der „Produzenten als auch Konsumenten in Rätesystemen“ (ebd.). Albert selbst bezeichnete das Modell in dem auf der Webseite von Attac-Deutschland zur Verfügung gestellten Interviewmitschnitt als eine alternative Wirtschaftsform, die sich durch das Prinzip der gegenseitigen Hilfe, eine gleichmäßige Einkommensverteilung, Klassenlosigkeit und partizipatorische Planung auszeichnet (vgl. Albert 2014).Footnote 157 Der Beitrag von Peter Nowak ergänzt das Arbeitsblatt durch ein konkretes Beispiel. So hatte sich 2011 die Belegschaft einer französischen Produktionsstätte der Teemarke Lipton Elephant, welche zum Unilever-Konzern gehört, nach Bekanntwerden einer drohenden Schließung des Produktionsstandorts zu einer Fabrikbesetzung entschlossen. Nach insgesamt 1336 Tagen, wie Nowak berichtet, konnten sich die Besetzer*innen schließlich durchsetzen und „in Eigenregie weiter produzieren“ (Novak 2015, zit. 2017: 2). Vom Mutterkonzern bekamen sie sogar „eine Starthilfe von 20 Millionen Euro für die Gründung einer Genossenschaft“ (ebd.). Die Fabrik wird seitdem von der Belegschaft selbstverwaltet als Arbeiterkooperative unter dem Namen „Scop Ti“ weitergeführt.

Neben Einblicken in die Theorie und Praxis der partizipatorischen Ökonomie und der Analyse von möglichen Problemfeldern dieses Modells werden die Lernenden zusätzlich dazu aufgefordert, eigenständig, z. B. auf der Webseite www.kollektiv-betriebe.orgFootnote 158, nach Betrieben zu recherchieren, die als Kollektiv organisiert sind. Anhand dieser selbst gewählten Beispiele sollen dann „Übereinstimmungen und Unterschiede zum Ansatz der partizipatorischen Ökonomie“ (Attac 2017w: 2) herausgearbeitet werden. Selbstkritische Darstellungen von Kooperativen bleiben unberücksichtigt. Auch wird nicht erwähnt, dass bspw. im Falle von Scop Ti der französische Staat maßgeblich zum Erhalt des Werks in Gémenos beigetragen hat – wie etwa durch den Aufkauf des Fabrikgeländes (vgl. IGM 2016). Dadurch wird in gewisser Weise ein Idealbild der partizipatorischen Ökonomie als alternative Form des Wirtschaftens gezeichnet, ohne aber auf grundlegende Kritikpunkte oder etwaige Widersprüche des Modells einzugehen. Es bleibt damit den Lernenden zunächst selbst überlassen, mögliche Konfliktfelder und Schwierigkeiten, die bei einer konkreten Umsetzung des Modells auftreten können, zu identifizieren. Auf welche Weise werden bspw. Entscheidungen in den Arbeiterkollektiven (wie bspw. „Scop Ti“) getroffen? Wie ist das von Albert vorgeschlagene Rätesystem aufgebaut? Und inwiefern unterscheiden sich die Diskussions- und Abstimmungsprozesse des so genannten „Pareco“ vom Modell der repräsentativen Demokratie? Die Lehrenden stehen hier ebenfalls vor großen Herausforderungen, da keine weiterführenden Informationen und Hintergrundtexte seitens der Attac-Autor*innen bereitgestellt werden und Antworten auf die genannten Fragestellungen selbst erarbeitet werden müssen.

Wie Attac in einem Einführungstext der Ausgabe „Kapitalismus – oder was? Über Marktwirtschaft und Alternativen“ betont, berühren die „Spannungsfelder zwischen Privatisierung und Vergesellschaftung oder auch zwischen Privateigentum und Gemeineigentum […] immer auch die Frage, nach welchen Organisationsprinzipien die entsprechenden Sektoren und einzelnen Betriebe organisiert werden. Sollen individuelle Nutzenmaximierung und Konkurrenz als Triebkräfte herrschen […]? Oder sollen die Herstellung von Gütern und die Erbringung von Dienstleistungen kooperativ und demokratisch organisiert werden?“ (Attac-D 2017x: 3). Im so genannten „Marktspiel“ und „Fischereispiel“, die beide als Aktivität in der 2017 erschienenen Ausgabe der Reihe aufgeführt sind, sollen diese Fragestellungen auf spielerische Weise erörtert werden. In der erstgenannten Aktivität werden „die Annahmen der neoklassischen Theorie des ‚vollkommenen Marktes‘ simuliert“ (Attac-D 2017z: 1) und im Zuge dessen die Teilnehmer*innen in zwei etwa gleich große Gruppen von Käufer*innen und Verkäufer*innen aufgeteilt. Das Spielprinzip beruht darauf, dass in jeder einzelnen Runde der Verkäufer mit dem wenigsten Gewinn ausscheidet bis letztlich nur noch eine Verkäuferin bzw. ein Verkäufer vorhanden ist. Wie man sich organisiert und nach welchen Prinzipien man das eigene „Geschäftsmodell“ aufbaut ist irrelevant. Die Verkäufer*innen wechseln nach ihrem Ausscheiden umgehend ihre Position und werden selbst zu Käufer*innen – eine Rückkehr zu ihrer vorherigen Rolle ist nicht vorgesehen. Durch das „Marktspiel“ soll, wie die Attac-Autor*innen darlegen, der „durch die Konkurrenz getriebene Konzentrationsprozess“ (ebd.) sowie die grundsätzliche „Rolle des Marktes im Kapitalismus“ (ebd.) sichtbarer und nachvollziehbarer gemacht werden. Als zusätzliche Materialien für die anschließende Auswertung und weitere Bearbeitung des Themenfelds dienen ein von den Attac-Autor*innen selbst verfasster Text zu „Markt und Marktformen“, der die Grundprinzipien von Angebot und Nachfrage (einschließlich der Marktformen Oligopol, Polypol und Monopol) beleuchtet, sowie ein Textauszug von Ulrike Herrmann, welcher in voller Länge 2015 unter dem Titel „Vom Anfang und Ende des Kapitalismus“ in der Reihe „Aus Politik und Zeitgeschichte“ (APuZ) erschienen ist und einen historischen Überblick über den, so Herrmann, „Trend zur Konzentration“ (Herrmann 2015, zit. 2017: 4) liefert. Weitere Hintergrundinformationen oder Gegenargumente, etwa im Sinne einer das Konkurrenzstreben befürwortenden Position, fehlen. Die Arbeitsvorschläge zur Aktivität „Marktspiel“ konzentrieren sich vielmehr auf die unterschiedlichen Marktformen und weniger auf die im Spiel transportierte These, wonach der von Konkurrenz getriebene Markt stets zur Bildung von Monopolen führe und eine demokratische Einflussnahme auf diesen Prozess angesichts der „Naturgesetze“ des Marktes nur bedingt möglich sei.

In der Aktivität „Das Fischereispiel“ werden die Teilnehmer*innen vor die Aufgabe gestellt, gemeinsam einen See zu nutzen und in jeder Spielrunde zwischen Fischbestand, Fischquote und ökonomischen Interessen zu entscheiden. Der Fischbestand ist endlich und eine Überfischung durchaus möglich; es gilt daher eine ausgewogene Bilanz zu finden. Die Teilnehmer*innen werden in fünf Gruppen eingeteilt, die symbolisch für die fünf unterschiedlichen „Fischerfamilien“ stehen, welche den See bewirtschaften. Am Anfang einer jeden Spielrunde beraten zunächst die „Familien“ unter sich, wie sie sich gegenüber den anderen Teilnehmer*innen bzw. Fischerfamilien verhalten wollen und wie hoch die eigene Fangquote sein soll. Anschließend erfolgt die Aussprache im so genannten „Gemeinderat“, in dem alle Beteiligten ihre Sichtweisen und Vorschläge darlegen können. Im Rahmen dieser Beratungen können auch Entscheidungen über ein gemeinsames Vorgehen getroffen werden. Simuliert wird insgesamt eine zehnjährige Nutzung des Sees durch die fünf Fischerfamilien. Durch verschiedene Ereignisse, wie bspw. die Reduzierung des Fischbestands in Folge eines Sturms oder das Angebot eines externen Unternehmens, einzelne Fische zu veredeln, wird die Gruppe immer wieder vor neue Herausforderungen gestellt. Das Fischereispiel dient der Einübung von demokratischen Entscheidungsprozessen und nimmt Bezug auf das Prinzip der Allmende, welches auf der gemeinschaftlichen Nutzung von Gemeindeeigentum beruht. Dem ursprünglichen Allmende-Gedanken folgend erhalten die Teilnehmer*innen im Gemeinderat, der einer Einwohner- oder Dorfversammlung gleicht, die Möglichkeit, „sich vor der Fangsaison auf nachhaltige Regeln zu einigen“ (Attac-D 2017aa: 1), wenngleich die hier getroffenen Entscheidungen nicht bindend sind und „sich alle [Fischerfamilien] in der Fangsaison auch egoistisch verhalten [können], so dass der See übernutzt wird“ (ebd.). Vor der Zusammensetzung des ersten Gemeinderats wählt die Gruppe eine/einen „Bürgermeister*in“, die/der die Diskussionsführung in diesem Gremium übernimmt. Wie die Attac-Autor*innen hervorheben, wird die Aktivität in anderen Varianten „so angeleitet, dass die Gruppen sich nach dem Modell des Homo oeconomicus individuell nutzenmaximierend verhalten, was nahezu zwangsläufig zur sogenannten ‚Tragik der Allmende‘ […] führt“ (ebd.). Seitens Attac steht „[d]ieses Modell […] aber im Widerspruch zu der historischen Tatsache, dass die Allmende und viele andere gemeinschaftlich genutzte Güter lange Zeit Bestand hatten beziehungsweise haben und oft erst durch äußere Einflüsse zerstört werden“ (ebd.). An letztere Geschichte, so die Attac-Autor*innen, wolle man mit der im Bildungsmaterial veröffentlichten Version des Fischereispiels anknüpfen.

Weitere Hintergrundtexte und Hinweise auf neuere Allmende-Formen, wie bspw. die Wissens-Allmende, sind dem darauffolgenden Arbeitsblatt „Von Gemeingütern zum Kapitalismus und zurück?“ (Attac-D 2017ab) zu entnehmen. Hier wird sich sowohl mit der von den Attac-Autor*innen selbst erwähnten „Tragik der Allmende“ auseinandergesetzt als auch Lösungsvorschläge für das „Allmende-Dilemma“ (Böll 2009, zit. 2017: 1) erörtert. Sven Böll stellt unter Bezugnahme auf die Analysen von Elinor Ostrom z. B. fest, dass die Lösung von etwaigen Problemen der Allmende (wie z. B. die Übernutzung der Ressourcen) nicht vom Staat oder Markt, sondern in der Regel von den Menschen vor Ort entwickelt werden sollten. Als Beispiel führt Böll eine Fischerkooperative in der Türkei auf, „in der jeder einen bestimmten Meeresabschnitt zugeteilt bekommt“ (ebd.). Dieser wird unter den Mitgliedern der Kooperative im Rotationsverfahren turnusmäßig getauscht, so dass „jeder eine faire Chance [bekommt] – und gleichzeitig […] alle Fischer von ihren Konkurrenten überwacht [werden können] (ebd.). Ein ähnliches Fazit zieht Fabian Scheidler in seinem Beitrag über die balinesischen Bewässerungsgemeinschaften namens „Subaks“, welche 2012 in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen wurden und eine über 1000-jährige Geschichte aufweisen. Deren Struktur beschreibt Scheidler wie folgt: „Die Subaks sind basisdemokratisch organisiert, sie wählen jeweils einen Vorsitzenden auf Zeit. Hierarchien, die auf Kastenzugehörigkeit oder Besitz beruhen, sind in den Subaks suspendiert. Mehrere Subaks sind jeweils in einer Wassertempelgemeinschaft organisiert, die einen größeren Teil des Flusssystems abbildet und diese Gemeinschaften wiederum versammeln sich an wichtigen Kalendertagen im höchsten Wassertempel an der wichtigsten Quelle der Insel“ (Scheidler 2015, zit. 2017: 2). Nachdem in den 1970er Jahren Schweizer Ingenieure versucht hätten, dieses System effizienter zu gestalten und die örtlichen Bauern motivierten, „künftig so oft und so schnell wie möglich Reis [zu] pflanzen […] und dabei Pestizide, Kunstdünger und Hochertragssorten [zu] verwenden, um ihre Ernte zu maximieren“ (ebd.), endete dies, wie Scheidler ausführt, in einem „Desaster: Große Teile der Ernte wurden von Schädlingen aufgefressen, die Fruchtbarkeit des Bodens sank und Chaos machte sich breit. Die Regierung war schließlich gezwungen, auf das Subak-System zurückzukommen“ (ebd.). In beiden aufgeführten Beispielen sind es die über viele Jahre gewachsenen Strukturen der dezentralen Selbstorganisation, die als Idealbild der Allmende dienen und von äußeren, auch staatlichen Eingriffen geschützt werden sollen. In Paul Masons Text „Der Niedergang des Kapitalismus“, der ebenfalls von den Attac-Autor*innen als Materialgrundlage für das Arbeitsblatt ausgewählt wurde, wird ein Blick auf das Allmende-Konzept im Zeitalter der Informationstechnologie geworfen und insbesondere „nicht-marktwirtschaftlichen Produktionsformen“ (Mason 2016, zit. 2017: 4), wie z. B. Kooperativen von Produzenten und Konsumenten, Genossenschaftsbanken oder Tauschökonomien, eingehender betrachtet. Mason kommt zum Schluss, dass „[d]iese ersten Gehversuche einer kooperativen Wirtschaftsweise und einer Allmendeproduktion […] auf Dauer nur Bestand haben [werden], wenn der Staat das Umfeld für diese neuen Formen wirtschaftlichen Handelns schafft. Wenn er die Monopole wieder einfängt und intelligente Netzwerke in Energieversorgung, Verkehr, Gesundheitswesen in seiner Regie behält“ (ebd.). Somit hätte also der Staat, nach Masons Ansicht, zentrale Regelungen zum Schutz der Allmende zu treffen und zugleich selbst als handelnder Akteur in Erscheinung zu treten.

Die im Arbeitsblatt „Von Gemeingütern zum Kapitalismus und zurück?“ aufgeführten Beispiele vermitteln insgesamt betrachtet ein durchweg positives Bild der Allmende und von kooperativen, basisdemokratischen Wirtschaftsformen. Missglückte bzw. gescheiterte Allmende-Modelle spielen in der inhaltlichen Auseinandersetzung ebenso wenig eine Rolle wie z. B. die so genannte Allmendeproblematik, d. h. die oftmals auch durch Eigennutz verstärkte ineffiziente und/oder übermäßige Nutzung der der Allgemeinheit zur Verfügung stehenden Ressourcen. Dies ist aus zweierlei Gründen durchaus verwunderlich. Zum einen verweisen die Attac-Autor*innen selbst in ihren einführenden Worten zum Fischereispiel auf die Tragik der Allmende, ohne diese aber im weiteren Verlauf, bspw. durch die Bereitstellung entsprechender Materialien, genauer zu erläutern. Zum anderen schließt der offene methodische Ansatz des vorgestellten Fischereispiels eine Hinwendung zu einer auf Nutzenmaximierung und vornehmlich auf den eigenen Vorteil ausgelegten Strategie nicht grundsätzlich aus. So wird etwa in der Ablaufbeschreibung explizit darauf hingewiesen, dass seitens „der Spielleitung […] keine Verhaltensvorgaben gemacht [werden], die über die Situationsbeschreibungen hinausgehen“ (Attac-D 2017aa: 1); die Teilnehmer*innen sollen ihre Entscheidungen möglichst selbst treffen. Zwar wird in der Auswertungsrunde des Fischereispiels nach der Ideallösung, und warum sich diese eventuell im Spielverlauf nicht durchsetzen konnte, gefragt, eine tiefergehende, kritische Auseinandersetzung mit den strukturbedingten Konflikten des Allmende-Modells scheint von den Attac-Autor*innen allerdings nicht vorgesehen zu sein. Dies ist jedoch gerade in Bezug auf die politische Ausrichtung des Netzwerks und vor dem Hintergrund zahlreicher neoliberal geprägter Lösungskonzepte des Allmende-Problems durchaus von Bedeutung. Denn „[u]m den exzessiven Verbrauch eines Allgemeinguts zu verhindern“ (Stefan 2016), gibt es Ansätze, „die von starrer Regulierung bis zu vollständiger Privatisierung reichen“ (ebd.). Wie Leopold Stefan in einem Beitrag für die Neue Zürcher Zeitung anmerkt, „könnte [einerseits] das Kollektiv oder eine höhere Instanz wie der Staat regeln, wer unter welchen Umständen auf ein Gemeingut zugreifen kann. Typische Ansätze sind Quoten, ein fixer Preis, Bedarfsermittlung, ‚first come first serve‘, Lotterien etc. Alternativ wird das öffentliche Gut privatisiert, indem Besitzverhältnisse auf Individuen aufgeteilt und der Zugang zum vormals öffentlichen Gut technisch beschränkt wird“ (ebd.). Auch zu dieser Debatte bieten die im Arbeitsblatt „Von Gemeingütern zum Kapitalismus und zurück?“ hinterlegten Texte keine weiteren Anknüpfungspunkte.

Weitere Fragen betreffen vor allem die Entscheidungsstrukturen: „Wurden alle Vorschläge im Gemeinderat gehört, welche haben sich durchgesetzt?“ (Attac-D 2017aa: 2) Konnten sich alle Akteure in gleichem Maße einbringen? Und an welchen demokratischen Grundsätzen haben sich die Fischerfamilien orientiert? Vorgaben zur Art und Weise der Entscheidungsfindung sind in der Ablaufbeschreibung der Aktivität explizit nicht aufgeführt. Durch den im darauffolgenden Arbeitsblatt hinterlegten Begleittext von Fabian Scheidler wird, auch mangels einer Auflistung gegenteiliger Beispiele, jedoch der Eindruck erweckt, als seien Allmende-Systeme grundsätzlich basisdemokratisch organisiert. Doch in vielen Allmende-Modellen sind Mehrheitsentscheidungen üblich und eine auf Konsens ausgelegte Entscheidungsfindung nur in bestimmten Fällen vorgesehen. Zudem sind Interessenkonflikte zwischen den involvierten Akteuren, bspw. bezüglich der Nutzungsdauer der Allmende, keine Seltenheit – was oftmals langwierige Diskussionen nach sich zieht und eine gemeinsame Entscheidungsfindung erschwert. Im Fischereispiel werden diese Prozesse z. B. durch die seitens der Spielleitung eingebrachten Ereigniskarten simuliert. Eine demokratietheoretische Einordnung ist aber auch hier nicht angedacht. Es bleibt daher offen, inwieweit einzelne Allmende-Modelle, wie z. B. die Subaks, überhaupt übertragbar auf andere gesellschaftliche Bereiche sind und derartige Organisationsformen eine Alternative oder Ergänzung zur parlamentarischen Demokratie darstellen könnten.

Wie Attac-Deutschland schon 2014 in seinem Online-Newsletter hervorhob, wird Demokratie seitens des Netzwerks nicht als „graue Theorie, sondern gelebte Praxis“ (Attac-D 2014d) verstanden. Insofern ist die für die globalisierungskritische Bildungsarbeit so typische Aktions- und Aufklärungsorientierung und das im Zuge dessen immer wieder formulierte Demokratisierungspostulat in zahlreichen Materialien der Attac-Reihe „Wirtschaft demokratisch gestalten lernen“ präsent. Die in den einzelnen Aktivitäten oder Arbeitsblättern aufgezeigten Organisations- und Beteiligungsformen sollen Anstöße für eine Auseinandersetzung mit alternativen, auf basisdemokratischen Entscheidungsprozessen beruhenden Modellen geben sowie der Forderung nach einer umfassenden Demokratisierung der Gesellschaft zusätzliches Gewicht verleihen. In der 2020 erschienenen Ausgabe der Attac-Reihe mit dem Titel „Klimaneutral und sozial gerecht. Wege in die Gesellschaft der Zukunft“ wird im Rahmen eines Stationenlernens u. a. die Besetzung des Dannenröder Forstes aufgeführt und neben einem Artikel von Ursula Wöll aus der taz und einem kurzen Videobeitrag der Oberhessischen Presse ebenfalls ein von den Attac-Autor*innen mit zwei jungen Aktivistinnen geführtes Interview als Materialgrundlage zur Verfügung gestellt. Im letzteren geben die beiden Waldbesetzerinnen einen näheren Einblick in die Ziele und Beweggründe ihrer Aktionen. Die Aktivistin „Halva“ führt bspw. an: „Besetzungen [sind] Orte, an denen Utopien gelebt und ausprobiert werden, es gibt die Möglichkeit, ein freies Leben abseits von Konsum und Zwang zu gestalten. Solche freien Räume und Projekte sind wichtig und wertvoll, sie sind ein Alternativmodell für eine mögliche zukünftige Gesellschaft“ (Attac-D 2020ar: 2). Und die Aktivistin „Sahra“ ergänzt an anderer Stelle: „In einer Besetzung kann […] ein Freiraum entstehen, wo wir von- und miteinander lernen können. Ich kann dort lernen, wie Baumhäuser gebaut werden, aber auch die politischen Aspekte einer Verkehrswende, oder wie wir gemeinsam ein achtsames, offenes und respektvolles Zusammenleben gestalten wollen. […] Ich fühl’ mich wohl, wenn ich mich in dem politischen Raum einer Waldbesetzung engagiere, aber für jede_n gibt es einen unterschiedlichen, persönlich passenden Rahmen der demokratischen Teilhabe“ (ebd.).

Eine detaillierte Darstellung der Organisationsstrukturen dieser bis Ende 2020 existierenden Waldgemeinschaft bleibt aus. Überdies wird auch nicht auf die zentralen Konfliktlinien und die grundsätzlichen demokratiespezifischen Fragen der Besetzung eingegangen. Denn während auf der einen Seite die klima- und umweltpolitischen Aktivist*innen (einschließlich ihrer Unterstützerkreise) mit der Waldbesetzung und den begleitenden Protestaktionen den Stopp des weiteren Ausbaus der A 49 erreichen und die damit einhergehende Teilrodung des Dannenröder Forstes verhindern wollten, hatte die hessische Landesregierung den viele Jahre zuvor getroffenen Beschluss durchzusetzen. Hessens Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir verwies seinerzeit darauf, dass die Entscheidung gar nicht dem Land obliege: „Solche Entscheidungen können wehtun, aber die A 49 ist eine Bundesautobahn und wurde von allen drei Gewalten auf Bundesebene beschlossen – und ein Landesminister kann sich eben nicht aussuchen, welche Gesetze er umsetzt“ (zit. n. Schwarz/Schipkowski 2020). Wolfgang Dennhöfer vom hessischen BUND entgegnete, dass die Lage sich seit dem Planfeststellungsbeschluss von 2012 und dem Beschluss des Bundesverkehrswegeplans von 2016 verändert habe und inzwischen neue Erkenntnisse vorlägen, „wie prekär die Situation bei Klimawandel, Trinkwasserversorgung und Artenschwund tatsächlich ist“ (zit. n. ebd.) und es angesichts dessen doch möglich sein sollte, dass „frühere Entscheidungen noch mal auf den Prüfstand gestellt werden“ (ebd.). Stephan Hebel warf in einem Kommentar zu den Ereignissen im Dannenröder Forst, speziell mit Blick auf die mitregierenden Bündnis 90/Die Grünen, die Frage auf, wo letztlich „der Punkt [sei], an dem der Einsatz für Grundüberzeugungen wichtiger wird als das Regieren?“ (Hebel 2020). Gerade hierin sah Hebel nämlich den Ausgangspunkt für die womöglich wichtigste Frage über die Zukunft der Demokratie. Denn „eine Regierung, die sich über gerichtsfeste Beschlüsse hinwegsetzen wollte, würde der Willkür auch bei weniger willkommenen Anlässen Tür und Tor öffnen“ (ebd.). Eine weitere Frage, die sich hier aufdrängt, ist jene nach der demokratischen Legitimität. Wie schon Claus Leggewie mit Blick auf globale Protestbewegungen und NGO konstatierte, mögen die Aktivist*innen zwar über eine „kognitive, eventuell moralische Überlegenheit“ (Leggewie 2001: 21) verfügen und den Anspruch erheben, stellvertretend die Interessen einer Mehrheit zu vertreten, woraus sich letztlich aber noch kein demokratisch legitimiertes Mandat ableite.Footnote 159 Sowohl die hessische Landesregierung als auch der Vogelsberger Kreistag hatten sich für einen Weiterbau der A 49 ausgesprochen. Dem entgegen stand eine von Greenpeace, BUND und Campact initiierte und von über 225.000 Personen getragene Unterschriftensammlung, in der ein Stopp der Rodungen und ein Autobahnmoratorium gefordert wurden (vgl. BUND 2020). Auf diese grundsätzlichen Fragestellungen und Debattenstränge wird seitens der Attac-Autor*innen allerdings nicht eingegangen. Die zusammengestellten Materialien fokussieren sich insbesondere auf das Aktionsbündnis „Keine A49“ und die Gruppe der Waldbesetzer*innen. Einblicke in den demokratischen Aushandlungsprozess fehlen, so dass die Lernenden nur einen sehr einseitigen Blick in die politischen Auseinandersetzungen um den Dannenröder Forst erhalten.

Formen des zivilen Ungehorsams und der Usurpation spielen in den Bildungsmaterialien von Attac-Deutschland eine bedeutende Rolle und werden in verschiedenen Arbeitsblättern der Reihe behandelt und in den Kontext einer „lebhaften Demokratie“ gestellt. So sind z. B. in der 2020 erschienenen Ausgabe zum Schwerpunkt Klimaneutralität auch Materialien zu den Blockaden und Gegenprotesten im Zuge der Internationalen Automobil-Ausstellung 2019 in Frankfurt am Main enthalten. Neben einem Beitrag von Barbara Schäder aus der Stuttgarter Zeitung, der einen Überblick über die verschiedenen Aktionen der Klimaschutzaktivist*innen gibt, enthält das Modul „Vor Ort aktiv werden“ außerdem ein Interview mit einem Mitglied des Bündnisses „Sand im Getriebe“ sowie einen von Attac selbst produzierten Videoclip. Im letzteren legt eine Aktivistin die Beweggründe für ihre Teilnahme an den Protesten wie folgt dar: „Persönlicher, individueller Schutz ist gut und wichtig. Aber auch ziviler Ungehorsam und auf die Straße zu gehen, um zu zeigen, dass wir nicht alleine sind, dass wir nicht Wenige sind, die eine Verkehrswende wollen, sondern dass wir Viele sind und dass es an der Zeit ist, jetzt die Wende einzufordern“ (zit. n. Attac-D 2020at). Und eine Aktivistin von „Sand im Getriebe“ fügt hinzu: „Der Teil von Sand im Getriebe war, dass eine Aktion des zivilen Ungehorsams organisiert wurde und dort die Messeeingänge einen Tag lang blockiert wurden. Das hat ziemlich gut funktioniert und es gab viele Teilnehmer_innen. In dieser Aktion ist es vor allem gelungen, dass der öffentliche Diskurs beeinflusst werden konnte“ (zit. n. Attac-D 2020as: 2). Zusammengefasst soll also durch die begrenzte, gewaltfreie Regelverletzung eine breite Öffentlichkeit für klimapolitische Anliegen und Missstände bei der Verkehrswende geschaffen werden. Auffällig ist, dass auch hier in den Materialien keine kritische Beleuchtung des Spannungsverhältnisses von Illegalität und Legitimität von derartigen Aktionen des zivilen Ungehorsams stattfindet. Weitere Materialien oder Informationen zu den Hintergründen des „moralisch begründete[n] Protest[s]“ (Habermas 1983, zit. 2017: 215)Footnote 160 gegen die Internationale Automobil-Ausstellung fehlen ebenso wie eine grundsätzliche demokratietheoretische Einordnung. Welche rechtlichen Folgen haben bspw. diese Regelverletzungen? Inwieweit tragen Aktionen des zivilen Ungehorsams zur Belebung und Stärkung der Demokratie bei? Und inwiefern sind sie sogar wesentlicher Teil des demokratischen Willensbildungsprozesses?

Ein ähnliches Bild zeigt sich mit Blick auf das im Jahre 2015 veröffentlichte Arbeitsblatt „Einstieg ins Thema Finanzmärkte“ (Attac-D 2015o) und die darin aufgeführte Pressemitteilung des Blockupy-Bündnisses. In dieser wird Sebastian Drewlo, Sprecher von Blockupy, mit den folgenden Worten zitiert: „Die Krise soll zur Lebensform werden. […] Dem setzen wir unseren Widerstand entgegen und streiten weiter für unsere Alternativen: Demokratie von unten und grenzüberschreitende Solidarität mit den Opfern der Krisenpolitik“ (zit. n. Blockupy 2014: 2). Ergänzt wird die Pressemitteilung, in welcher u. a. auch „massenhafte[.] Aktionen Zivilen Ungehorsams“ (Blockupy 2014: 2) zur Eröffnung des Neubaus der EZB angekündigt werden, durch ein Foto von Attac, das ein Plakat des Blockupy-Bündnisses mit dem Titel „Sie wollen Kapitalismus ohne Demokratie. Wir wollen Demokratie ohne Kapitalismus“ zeigt. Anhand dieser beiden Materialien sowie unter Rückgriff auf die Webseite des Bündnisses sollen die Lernenden die politische Zielsetzung von Blockupy untersuchen, sich über aktuelle Proteste (z. B. von Campact und Attac) informieren und anknüpfend daran eine begründete Stellungnahme zu den verschiedenen Aktionsformen formulieren. Auch in diesem Fall verzichten die Attac-Autor*innen auf eine nähere Skizzierung der angedeuteten Konfliktfelder, wie etwa dem spannungsreichen Verhältnis zwischen Kapitalismus und Demokratie, und des als Alternative beschriebenen Modells einer „Demokratie von unten“. Stattdessen wird angeregt, etwaig auftretende Fragen im Rahmen einer Konfliktanalyse oder Problemstudie zu klären.

Neben den skizzierten Beispielen des zivilen Ungehorsams werden im Attac-Bildungsmaterial aber auch zahlreiche andere nicht-institutionalisierte politische Partizipationsformen in den Fokus gerückt. Zum Teil geschieht dies sogar im Kontext der in den Arbeitsblättern und Aktivitäten aufgelisteten Arbeitsvorschläge. Im Arbeitsblatt „(Kein) Wandel der Autoindustrie?“ (Attac-D 2020af) erhalten die Lernenden bspw. die Aufgabe, einen Social-Media-Kommentar zu verfassen und in diesem eine persönliche Stellungnahme zu den in den Materialien dargelegten Vorschlägen abzugeben. In dem 2016 veröffentlichten Arbeitsblatt zum Thema „Freihandel“ (Attac-D 2016m) werden die Lernenden aufgefordert, einen Leserbrief zu einem Zeitungskommentar von Jaques Schuster, der 2014 in der WELT unter dem Titel „Die grimmige Angst vor der Chlorhuhn-Herrschaft“ erschienen ist, zu schreiben. Dabei sollen vor allem die zuvor erarbeiteten Inhalte aus dem Comic-Auszug „Economix“ von Michael Goodwin berücksichtigt werden. An anderer Stelle der Attac-Bildungsmaterialien wird sogar die Konzeptionierung einer eigenen Kampagne angeregt. So sollen sich die Lernenden im Arbeitsblatt „Politisches Engagement zwischen Mobilisierung, Instrumentalisierung und Misserfolg“ (Attac-D 2015l) der Frage widmen, wie „die europäische Finanzpolitik demokratischer gestaltet werden könnte“ (ebd.: 2) und inwiefern sich die Einflussmöglichkeiten dadurch ändern würden. Berücksichtigt werden sollen hier insbesondere die „vielfältigen Formen politischen Engagements und Protests (Mitarbeit in NGO oder Partei, Demonstrationen, Streiks, Petitionen, Blockaden, Graffiti etc.) und deren reale Einflussmöglichkeiten“ (ebd.). Zur Vorbereitung wird auf die in den Materialien hinterlegte „Checkliste Aktionsplanung“ sowie auf den Leitfaden zur Kampagnenarbeit der Plattform „Kreaktivisten.org“ verwiesen. In einigen Arbeitsblättern werden außerdem Petitionen und Volksbegehren als politische Artikulationsformen behandelt. Im Arbeitsblatt „Von der Straße auf die Schiene?“ (Attac-D 2020ag) erhalten die Lernenden bspw. die Aufgabe, eine Online-Petition zur „Stärkung des Schienenverkehrs“ (ebd.: 3) zu formulieren. Und im Arbeitsblatt „Regulierung des Wohnungsmarktes“ (Attac-D 2018u) steht der Berliner Mietenvolksentscheid über das Wohnraumversorgungsgesetz im Fokus, der 2015 von einem gleichnamigen Verein angestrebt worden war und letztlich von den Initiator*innen zurückgezogen wurde. Nach der Bildung unterschiedlicher „Interessengruppen“ anhand der zur Verfügung gestellten Materialien (hierzu zählen Pressemitteilungen von Deutsche Wohnen, dem Eigentümerverband Haus & Grund, dem Deutschen Mieterbund und der BAG Wohnungslosenhilfe), der Erstellung von eigenen Werbeplakaten und des Zusammentragens von Pro- und Contra-Argumenten sollen die Lernenden die jeweiligen Positionen des damals diskutierten Volksbegehrens nochmals gemeinsam diskutieren und eine geheime Abstimmung über den vorgeschlagenen Gesetzesentwurf durchführen. Im Anschluss daran soll zusätzlich eine persönliche Stellungnahme zum Anliegen des Volksbegehrens vorbereitet werden.

Ein ähnlicher Ansatz wird im Arbeitsblatt „Europäische Bürgerinitiative“ (Attac-D 2016j) verfolgt. In diesem sollen die Lernenden die Initiierung einer Bürgerinitiative oder zumindest einer vergleichbaren Kampagne planen und auch hier zwecks Vorbereitung auf den Leitfaden zur Kampagnenarbeit der Plattform „Kreaktivisten.org“ zurückgreifen. Die leitenden Fragestellungen beziehen sich dabei auf die Möglichkeiten der Einflussgewinnung, der Durchsetzungskraft, der rechtlichen Grundlagen, der Öffentlichkeitsarbeit sowie der Gewinnung von Bündnispartnern. Die Thematik und Zielsetzung der Bürgerinitiative bzw. Kampagne werden nicht vorgegeben und obliegen daher den Lernenden selbst. In der Aktivität „Anfangen aufzuhören“ (Attac-D 2020ap) wird der Fokus wiederum auf die Planung von konkreten Aktionen gerichtet. So sollen die Lernenden im Rahmen der abschließenden Aufgabe „Vor Ort aktiv werden“ Überlegungen anstellen, wie erste Handlungsschritte zur Veränderung des Konsumverhaltens aussehen könnten. Als Beispiele für mögliche Aktionsformen werden etwa die „Einberufung einer Vollversammlung der Schüler_innen, die Gestaltung einer Website und ihre Verbreitung per Social-Media, eine Flugblattaktion, eine Blockade des Schulparkplatzes, eine Podiumsdiskussion oder eine Unterschriftenaktion in der Schule“ (ebd.: 1) aufgeführt.Footnote 161

Charakteristisch für Attac-Deutschland wie generell für die Bildungsarbeit der globalisierungskritischen Bewegung oder etwa auch der so genannten 68er-Bewegung ist der Ansatz eines „Lernen[s] in der Aktionsvorbereitung“ (Ebert/Jochheim 1971: 162), bei dem vor allem die „Analyse des Konfliktgegenstandes und dessen Bezug zu den gesellschaftlichen Gegebenheiten“ (ebd.) sowie „der Gesichtspunkt emanzipatorischer Beteiligung“ (ebd.) im Vordergrund des Lernprozesses stehen. Speziell Letzteres soll „die Herausbildung unkontrollierter Führungsgruppen“ (ebd.) möglichst verhindern und basisdemokratische, auf einen Konsens ausgerichtete Entscheidungsverfahren im Kontext der Aktionsplanung und -umsetzung fördern. Diesem Verständnis folgend ist bspw. das Ziel von Blockadeaktionen nicht nur die eigenen politischen Forderungen einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln und „über den unmittelbaren Brennpunkt des Konflikts hinaus ein emanzipiertes Bewußtsein zu schaffen“ (ebd.: 131), sondern auch eine Einstellungs- und Verhaltensänderung bei den beteiligten Akteuren selbst zu initiieren.

In den Arbeitsblättern der Attac-Bildungsmaterialien werden zahlreiche Aktions- und Protestformen vorgestellt und die Lernenden dazu aufgefordert, diese anhand von Checklisten und Leitfäden zumindest theoretisch vorzubereiten bzw. zu planen. Im Arbeitsblatt „Streit um TTIP“ (Attac-D 2016h) soll bspw. ein Plakat, das die Perspektive von Anti-TTIP-Aktivist*innen „zu den TTIP-Verhandlungen oder einen Teilbereich veranschaulicht“ (ebd.: 2), erstellt werden. Im 2019 erschienenen Arbeitsblatt „Ein UN-Abkommen für Wirtschaft und Menschenrechte?“ (Attac-D 2019u) erhalten die Lernenden die Aufgabe, unter Rückgriff auf die Treaty-Alliance Deutschland, welche ein Zusammenschluss zahlreicher deutscher NGO zur Unterstützung des UN-Prozesses zum Abschluss eines weltweit verbindlichen Abkommens für Wirtschaft und Menschenrechte (UN-Treaty)Footnote 162 darstellt, eine Aktion vorzubereiten, die auf dieses Anliegen aufmerksam macht. Als Beispiele werden u. a. die Gestaltung eines Transparents oder Protestbilds, die Erstellung eines Flugblatts und die Werbung über Social-Media-Kanäle aufgeführt. Durchaus interessant ist in diesem Kontext auch der „Laufzettel – Stationenlernen“ (Attac-D 2020am), der in der Ausgabe „Klimaneutral und sozial gerecht. Wege in der Gesellschaft der Zukunft“ veröffentlicht wurde. Dieser soll von den Lernenden dazu genutzt werden, eine Beurteilung der vorgestellten Aktionsformen „nach inhaltlichen, rechtlichen, politischen und persönlichen Kriterien“ (Attac-D 2020al: 4) vorzunehmen. Dabei soll sich an folgenden Fragestellungen orientiert werden: „Ist die Aktion legal? Ist die Aktion gut begründet? Würden Sie sich (alle) an so einer Aktion beteiligen? Trägt die Aktion zu einer gerechteren Gesellschaft bei? Trägt die Aktion zu einer klimaneutralen Gesellschaft bei?“ (Attac-D 2020am: 1) Wie in der Modulbeschreibung des Arbeitsblattes bereits angemerkt wird, geht es den Attac-Autor*innen hier insbesondere darum, „wie jede_r einzelne für eine klimaneutrale und gerechte Gesellschaft politisch aktiv werden kann“ (Attac-D 2020aa: 2) und welche politischen Veränderungen zur Erreichung dieses Fernziels vonnöten wären. Im Sinne dieser Leitgedanken sollen die gesellschaftlichen Verhältnisse durch zielgerichtetes politisches Handeln beeinflusst und letztlich nachhaltig verändert werden. Die Aktion an sich dient dabei lediglich als „Hebel“ das vermeintlich „betäubte[.] demokratische[.] Bewusstsein[.]“ (Baacke 1971: 55) des Einzelnen wieder zum Leben zu erwecken, wie es Dieter Baacke bereits in den 1970er Jahren in Bezug auf die 68er-Bewegung beschrieb, und ihn aus der Lethargie der Einübung bloßer formaler demokratischer Verhaltensweisen zu befreien. Die Lernenden sollen „Ideen für eine eigene Kampagne entwickeln“ (Attac-D 2015m: 4) und optional selbst Protestaktionen an öffentlichen Orten durchführen.Footnote 163

Die Einflussnahme auf politische Entscheidungsprozesse ist Kernbestandteil der in den Bildungsmaterialien vorgestellten Aktionen und steht folglich im Mittelpunkt der didaktischen Überlegungen der Attac-Autor*innen. Dabei geht es nicht nur um „die realen Einflussmöglichkeiten von NGOs oder Verbänden auf […] politische Entscheidung[en]“ (Attac-D 2015m: 4), sondern vielmehr auch um die Wirksamkeit bestimmter Kampagnen, Blockadeaktionen oder künstlerisch-kreativer Aufklärungsveranstaltungen (wie z. B. Straßenkabarett, Agitationstheater u. Ä. m.). Insofern sollen die Lernenden anhand der eigenständigen Planung und Simulation von Aktions- und Beteiligungsformen erfahren, welche „Möglichkeiten, Probleme und Grenzen“ (ebd.) damit einhergehen. Zu einer in den Attac-Materialien mehrfach aufgeführten Methode gehört etwa die „Expertenanhörung“. Hier simulieren die Lernenden ein politisches Beratungsverfahren, in dessen Zuge unterschiedliche Interessengruppen vor einem Kreis politischer Entscheidungsträger*innen zu einem bestimmten Themenfeld angehört werden, wie z. B. vor dem Rat der Europäischen Finanzminister oder dem Handelsausschuss des Europäischen Parlaments.Footnote 164 Die Lernenden schließen sich in Kleingruppen zusammen, die jeweils eine bestimmte Interessengruppe repräsentiert, bereiten „ein kurzes Statement und eine Empfehlung zur […] Streitfrage“ (Attac-D 2015p: 3) vor und wählen jeweils eine Person, die sie in der Expertenanhörung vertritt. Nach dem fachlichen Austausch der Argumente sollen in einer gemeinsamen Reflexionsphase „die gewonnenen Erkenntnisse und der Ablauf der Expertenanhörung ausgewertet werden“ (ebd.). Für die Attac-Autor*innen ist neben der inhaltlichen Reflexion vor allem die Nachvollziehbarkeit „des Ablaufs politischer Beratungsverfahren sowie die Analyse des Einflusses von Expert_innen und Lobbyist_innen auf politische Entscheidungen“ (ebd.) von Interesse. Welche Akteure konnten sich bspw. mit ihren Positionen am ehesten durchsetzen? Und inwiefern wurden die politischen Mandatsträger*innen in ihren Entscheidungen beeinflusst? Die Verfahrensweise und Ausrichtung der in den Attac-Materialien hinterlegten Methodik der „Expertenanhörung“ gleichen sich in weiten Teilen. Thematisch werden jedoch verschiedene Bereiche in den Fokus der Simulationen gerückt: Von einer Anhörung vor der Europäischen Kommission zum Thema „Ein Europäischer Grüner Deal im Verkehrsbereich“ (Attac-D 2020an: 1) bis hin zu einem Hearing vor der Generaldirektion Handel der Europäischen Kommission zur Frage „Worauf sollte die EU bei den TTIP-Verhandlungen mit den USA besonders achten?“ (Attac-D 2016n: 2). Mit Blick auf das letztgenannte Beispiel ist hervorzuheben, dass im Anschluss an die Expertenanhörung zusätzlich noch eine Podiumsdiskussion des Bündnisses „Stop TTIP“ simuliert werden soll und im Rahmen der Nachbereitung die Lernenden sogar dazu aufgefordert werden, ein „Flugblatt oder ein Plakat für das Bündnis ‚Stop TTIP!‘“ (ebd.) zu gestalten.

Die Kritik an Freihandelsabkommen, verbunden mit dem Vorwurf eines damit einhergehenden Angriffs auf die Demokratie, ist in zahlreichen Arbeitsblättern und Aktivitäten der 2016 erschienenen Ausgabe „TTIP & Co: Handelsvertrag sticht Demokratie?“ zu finden. Nach Holger Oppenhäuser vom Attac-Bundesbüro standen bei dessen Konzeptionierung vor allem folgende Fragestellungen im Vordergrund: „Worum geht es in diesen Verträgen eigentlich? Welche Interessen stehen dabei auf dem Spiel? Und nicht zuletzt: Wie kann ein so abstraktes Thema wie internationale Handelsverträge so mit Lerngruppen bearbeitet werden, dass sie sich über ihre eignen Interessen in diesem Zusammenhang klar werden und Wege erkennen können, sich dafür stark zu machen?“ (Oppenhäuser 2017b: 326). In diesem Sinne sollten durch die Bildungsmaterialien, wie Oppenhäuser darlegt, gemäß der „globalisierungskritischen Agenda von Attac“ (ebd.) den Deregulierungsverlautbarungen „unter dem Schlagwort ‚Freihandel‘ Vorschläge für einen gerechteren, sozial und ökologisch nachhaltigen Austausch von Gütern entgegengesetz[t] oder die implizierte Bevorzugung von Eigentümer_innen (‚Investorenschutz‘) gegenüber demokratischen Entscheidungen“ (ebd.: 326–27) in den Mittelpunkt der Debatte gerückt werden. Die zwei Module der Ausgabe behandeln „zum einen […] die ökonomischen Interessen im Feld der Handelspolitik und zum anderen […] die Frage, wie demokratieverträglich Handelsverträge in ihrer heute dominanten Form sind“ (ebd.: 327). Im Arbeitsblatt „Investorenschutz und Demokratie“ (Attac-D 2016l) sollen die Lernenden z. B. ein Plakat oder eine Mind-Map erstellen und sich speziell mit dem Themenfeld „Schiedsgerichte“ auseinandersetzen. Die Materialgrundlage besteht u. a. aus einem Einführungstext von Attac mit dem Titel „Konzerne machen Staaten den Prozess“, einem Auszug aus dem Grundgesetz (Artikel 14) sowie einem Beitrag der bpb zur Verstaatlichung der Erdgasindustrie in Bolivien. Die Lernenden erhalten die Aufgaben, die Attac-Kampagne „Freihandelsfalle TTIP“ näher zu untersuchen und die darin formulierten Kritikpunkte von Attac an den Schiedsgerichten herauszuarbeiten. Dabei sollen unter Rückgriff auf Artikel 14 des Grundgesetzes sowohl Argumente für als auch gegen die Schiedsgerichte genannt werden. Im Anschluss daran werden die Lernenden dazu aufgefordert, sich anhand des Beispiels der Erdgasverstaatlichung in Bolivien mit der Frage auseinanderzusetzen, ob es grundsätzlich möglich sein sollte, dass „Unternehmen auf demokratischem Weg enteignet werden können“ (ebd.: 1). Als zusätzliches Material steht ein Kurztext des Attac-Aktivisten Alexis PassadakisFootnote 165 zur Verfügung, in dem dieser sich dem „Neuen Konstitutionalismus“ widmet und folgende Bewertung des auf den britisch-kanadischen Politikwissenschaftler Stephen Gill zurückgehenden Konzepts vornimmt:

„In Folge des neo-konstitutionellen Umbaus bleiben zwar die Institutionen der liberalen repräsentativen Demokratie erhalten, werden aber durch die neuen marktliberalen, oft völkerrechtlichen Verträge überformt und ausgehöhlt. Die Interessen der transnationalen Konzerne bzw. ihrer Eigentümer, den sprichwörtlichen oberen 1 Prozent, werden auf diese Weise fixiert, während der Einfluss von Parlamenten, Gewerkschaften und der unteren Bevölkerungsgruppen zurückgedrängt werden. Es werden verfassungsartige rechtliche Strukturen geschaffen, die nur sehr schwer zu verändern sind und alternative politische und ökonomische Entwicklungspfade – jenseits des Neoliberalismus – ausschließen. Das Konzept des neuen Konstitutionalismus beschreibt somit auch einen Modus autoritärer Politik, die eine emanzipatorische Vertiefung von Demokratie verhindert.“ (Passadakis 2016: 4)

Einen Gegenpol zum Thema „Schiedsgerichte“ bildet der von den Attac-Autor*innen für das Arbeitsblatt ausgewählte Beitrag von Helene Bubrowski, welcher 2014 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienen ist. Darin verteidigt Bubrowski die Schiedsgerichte mit den folgenden Worten:

„Die weltweit mehr als 3000 Investitionsabkommen sind kein Freifahrschein für Unternehmen, die staatliche Souveränität zu untergraben. Stattdessen bieten sie ausländischen Investoren ein Mindestmaß an Rechtsstaatlichkeit. Das Schutzniveau liegt dabei weit unterhalb dessen, was die deutschen Gesetze und das Grundgesetz gegen Diskriminierung oder Enteignung an Sicherheiten bieten. Ohne Instrumente zur Durchsetzung – also ohne Institutionen wie Schiedsgerichte – ist auch dieses Mindestmaß nichts wert. Denn wenn der Verstoß gegen die Regeln keine Konsequenzen hat, gibt es keinen Grund, sich daran zu halten.“ (Bubrowski 2014a, zit. 2016: 2)

Trotz dieser positiven Bewertung von Schiedsgerichten überwiegt in den Bildungsmaterialien von Attac-Deutschland jedoch eine TTIP-kritische Sichtweise. Besonders deutlich wird dies im Einführungstext des zweiten Moduls der Ausgabe von 2016 mit dem Titel „Handelsverträge und Demokratie“. Dort skizzieren die Attac-Autor*innen den Verlauf der TTIP-Verhandlungen und die Gefahren, welche von derartigen Verträgen für die Demokratie ausgehen, wie folgt:

„Zunächst erregte vor allem die Intransparenz der Verhandlungen das Misstrauen der kritischen Öffentlichkeit. Nach und nach wurden jedoch […] immer mehr Details öffentlich und bestätigten die Bedenken. So wurde deutlich, dass die Industrielobby auf beiden Seiten des Atlantiks von Beginn an einen übergroßen Einfluss ausübte. Dementsprechend stehen deren Interessen auch hinter zentralen Elementen von TTIP, CETA und TiSA, die wiederum unter demokratischen Gesichtspunkten höchst problematisch sind.“ (Attac-D 2016k: 3)

Und an anderer Stelle wird ausgeführt:

„Insgesamt sind die Auseinandersetzungen um Handelsverträge geradezu idealtypisch für die Tendenzen, die in den Sozialwissenschaften unter Stichworten wie Postdemokratie (Colin Crouch) und Neuer Konstitutionalismus (Stephen Gill) diskutiert werden: Trotz des Weiterbestehens oder gar des Ausbaus formaldemokratischer Verfahren (z. B. Europäische Bürgerinitiative) werden wesentliche Entscheidungen zunehmend hinter verschlossenen Türen und im Interesse von Großkonzernen getroffen. Wobei internationale Verträge dazu genutzt werden, ganze Politikbereiche dauerhaft der parlamentarischen Entscheidung in den Einzelstaaten zu entziehen. Die Vehemenz des Widerstandes gegen TTIP & Co dürfte auch dadurch zu erklären sein, dass hier eine exemplarische Auseinandersetzung um die Zukunft der Demokratie geführt wird.“ (ebd.: 3–4)

Kaum verwunderlich scheint es angesichts dieser Ausführungen, dass sich die letzten Arbeitsblätter des Moduls ausführlicher mit dem „Widerstand gegen TTIP“ (ebd.: 4) beschäftigen und im Zuge dessen einzelne Protest- und Aktionsformen der globalisierungskritischen Bewegung erörtert werden. Im Arbeitsblatt „Großdemonstration gegen TTIP“ (Attac-D 2016g), das zusätzlich mit einem Bild der Anti-TTIP-Demonstration am 10. Oktober 2015 in Berlin versehen ist, werden die Lernenden z. B. gefragt, inwiefern sie selbst „durch die Größe und Vielfalt der Demonstration zu einer Teilnahme motiviert“ (ebd.: 1) werden und welche „Möglichkeiten [und Grenzen] der Einflussnahme auf politische Entscheidungsprozesse“ (ebd.) in diesem Kontext grundsätzlich bestehen. Als Materialien wird den Lernenden (erneut) der Beitrag von Helene Bubrowski mit dem Titel „Freihandel braucht Schiedsgerichte“, ein Hintergrundtext der bpb zur Thematik Antiamerikanismus, ein Textauszug von Hannah Beitzer aus der Süddeutschen Zeitung sowie – und dies ist mit Blick auf die Bildungsmaterialien der Attac-Reihe durchaus eine Besonderheit – ein Flugblatt des Attac-Netzwerks zur Verfügung gestellt. Die Texte von Helene Bubrowski und Attac könnten hier kaum gegensätzlicher sein: Während die erstgenannte Autorin bspw. den „Grund für den schlechten Ruf der Schiedsgerichte […] [in der] Stimmungsmache ideologisch motivierter Kritiker“ (Bubrowski 2014b, zit. 2016: 3) sieht, verweist Attac-Deutschland auf das selbstgesteckte Ziel einer „Globalisierung von sozialen und ökologischen Rechten, von Menschenrechten und Demokratie“ (Attac-D 2016o: 4) an der sich die Handelspolitik letztlich orientieren müsse. Die Ablehnung von TTIP seitens des Netzwerks resultiere daraus, dass die Verhandlungen „in ihrer Durchführung und ihren Zielen“ (ebd.) den Werten von Attac grundlegend widersprechen würden.

Im letzten Arbeitsblatt des Moduls steht vor allem die selbstorganisierte Europäische Bürgerinitiative „Stop TTIP“ im Vordergrund.Footnote 166 Den Lernenden werden hier zwei Materialien zur Verfügung gestellt: Zum einen ein Textauszug aus der Süddeutschen Zeitung vom 12. September 2014 mit dem Titel „EU-Kommission stoppt Bürgerinitiative gegen TTIP“, zum anderen ein gekürzter Beitrag aus der Mitgliederzeitung des Vereins „Mehr Demokratie“, welcher selbst Teil des internationalen Anti-TTIP-Bündnisses war bzw. ist und die Europäische Bürgerinitiative seinerzeit maßgeblich mitgetragen hat. Die Europäische Kommission hatte 2014 den von „Stop TTIP“ gestellten Registrierungsantrag für eine reguläre Europäische Bürgerinitiative aus formalistischen Gründen abgelehnt, da die TTIP-Verhandlungen keine Rechtsakte, sondern, nach Ansicht der Kommission, eine interne Vorbereitungsakte darstellen würden (vgl. hierzu etwa SZ 2014). Von den TTIP-Gegner*innen und Unterstützer*innen der Europäischen Bürgerinitiative, wie bspw. dem BUND, wurde diese Entscheidung als „rechtlich unzulässig und politisch motiviert“ (BUND 2015) bewertet. Michael Efler von der „Stop TTIP“-Initiative äußerte sich zur Entscheidung der Europäischen Kommission damals wie folgt:

„Die Auffassung der Kommission, dass nur Rechtsakte mit Wirkung auf Dritte durch eine EBI [Europäische Bürgerinitiative] berührt werden dürfen, ist offensichtlich rechtsfehlerhaft. Das Verhandlungsmandat der Kommission ist ein förmlicher Beschluss des Rats und ein Rechtsakt. Würde die Rechtsauffassung der Kommission Bestand haben, hieße das im Klartext: Der Bevölkerung sind bei der Entwicklung internationaler Verträge jeder Art die Hände gebunden – eine Auskunft, die ebenso erschreckend wie skandalös ist.“ (zit. n. Rutz 2014)

Ein EuGH-Urteil von 2017 sollte den Organisator*innen von „Stop TTIP“ später Recht geben. Die zuständigen Richter*innen sahen die damalige Ablehnung des Registrierungsantrags seitens der Europäischen Kommission als rechtswidrig an und stellten zudem fest, dass „die Initiative zur rechten Zeit eine legitime demokratische Debatte“ (SZ 2017) ausgelöst hatte.

Die Fragen nach den Einflussmöglichkeiten auf derartige Freihandelsverträge wie auch nach deren demokratischer Legitimität spielen gerade in der 2016 erschienenen Ausgabe der Attac-Reihe immer wieder eine zentrale Rolle. So fokussieren sich die Attac-Autor*innen bspw. in der inhaltlichen Ausgestaltung des zweiten Moduls besonders darauf, „inwiefern durch solche internationalen Verträge demokratische Handlungsspielräume systematisch und dauerhaft eingeschränkt werden“ (Attac-D 2016d: 2) würden und „was […] vertraglich vereinbarte Privatisierungen, Schiedsgerichte oder regulatorische Kooperation im Hinblick auf demokratische Entscheidungsprozesse und die Durchsetzungsfähigkeit bestimmter Interessen“ (ebd.: 2–3) überhaupt bedeuten.Footnote 167 Zusammengefasst dreht es sich in den Arbeitsblättern und Aktivitäten folglich um die Fragen, „[w]ie demokratieverträglich […] Handelsverträge in ihrer heute dominanten Form [sind]“ (ebd.) und welche Möglichkeiten der Einflussnahme und des Widerstands seitens der Kritiker*innen bzw. Gegner*innen von TTIP, CETA und Co. bestehen. In diesem Kontext wird seitens der Attac-Autor*innen ebenfalls die Konfliktanalyse nach Hermann Giesecke näher vorgestellt und u. a. mit den folgenden Schlüsselfragen für die Lernenden verknüpft: „Welche Möglichkeiten der Einflussnahme stehen ihnen zur Verfügung (Macht)? Wie kann ich meinen Einfluss geltend machen (Mitbestimmung)? Welche Bündnispartner_innen stehen dafür zur Verfügung (Solidarität)?“ (Attac-D 2016n: 9).Footnote 168

Während in der Ausgabe von 2016 insbesondere Freihandelsverträge kritisch beleuchtet werden, liegt einer der wesentlichen Schwerpunkte in der Ausgabe „Europa nach der Krise?“ auf der so genannten Troika, bestehend aus der EZB, dem IWF und der Europäischer Kommission, und der ihr zugrunde liegenden „fragwürdigen demokratischen Legitimation“ (Attac-D 2015r: 3), wie die Attac-Autor*innen in der Einführung zum Modul V betonen. Leitende Fragestellungen der Arbeitsblätter sind daher u. a.: „Inwieweit sind die ‚Institutionen‘ legitimiert, Staaten Sparmaßnahmen aufzuerlegen und sie gegebenenfalls zu sanktionieren? [Und] [w]elche Möglichkeiten haben zivilgesellschaftliche Akteure, sich in der Debatte um eine zukünftige europäische Finanz- und Wirtschaftspolitik einzuschalten und diese zu beeinflussen?“ (ebd.) Im Arbeitsblatt „Wer hat die Troika gewählt?“ werden diese Fragen nochmals aufgegriffen und die Lernenden dazu aufgefordert, das grundsätzliche „Verhältnis der Troika zur Demokratie“ (Attac-D 2015q: 1) zu beurteilen und Möglichkeiten der Einflussnahme zu erörtern, wenn „europäische Bürger_innen […] die Lohnkürzungen in Krisenländern für falsch“ (ebd.) erachten. Ähnlich wie in den zuvor dargelegten Beispielen lohnt sich auch in diesem Fall ein Blick auf die Materialgrundlage des Arbeitsblatts. Neben einem Foto von Attac, das im Zuge der „Protest[e] gegen die Politik der Troika“ (ebd.: 3) entstand, und einem Plakat, welches den Schriftzug „Austerität tötet. Für Solidarität in Europa. Demokratie erkämpfen!“ zeigt, erhalten die Lernenden zur Bearbeitung der Aufgaben einen Textauszug von Harald Schumann aus dem Tagesspiegel sowie eine Sammlung von „Infotexten zu Akteuren der Krisenpolitik“, die von den Attac-Autor*innen selbst verfasst wurde. Schumann, der durch den Bestseller „Die Globalisierungsfalle“ in den später 1990er Jahren bundesweite Bekanntheit erlangte, übt in seinem Beitrag erhebliche Kritik an der Krisenpolitik der Troika und verweist etwa auf die fehlende demokratische Kontrolle dieser Institution. In einem Rückblick auf deren Entstehungsgeschichte fasst er zusammen:

„Als die Euro-Staaten im Mai 2010 das erste Kreditprogramm für Griechenland auf den Weg brachten, trafen sie eine weitere folgenschwere Entscheidung. Die Regierung in Athen musste sich im Gegenzug einer Institution unterwerfen, die in keinem europäischen Vertrag und keiner Verfassung jemals vorgesehen war: dem Verbund aus IWF, EZB und EU-Kommission, den griechische Journalisten alsbald mit dem Begriff Troika belegten. Deren Arbeit fußt damit lediglich auf einer Vereinbarung zwischen den Regierungen […]. In der Konsequenz geschieht alles, was die Beamten der Troika tun, juristisch gesehen außerhalb des Vertrags der Europäischen Union und ihren Institutionen. Damit sind sie nicht mal an die EU-Charta der Grundrechte gebunden. So üben die eingesetzten Technokraten aus Brüssel, Frankfurt und Washington in den Krisenstaaten erhebliche Macht aus und sind doch keinem Parlament gegenüber rechenschaftspflichtig.“ (Schumann 2015: 1)

Die erwähnten Infotexte von Attac gleichen eher einer „lexikographischen“ Beschreibung der einzelnen Institutionen und Akteure; eine klare politische Positionierung wird hier weitgehend vermieden. Die Troika wird seitens der Attac-Autor*innen bspw. wie folgt beschrieben:

„Die Troika ist ein Zusammenschluss der Europäischen Zentralbank (EZB), dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der EU-Kommission. Zusammen verhandeln diese drei Institutionen mit Mitgliedsländern der Eurozone über die Bedingungen für Kredite aus dem Europäischen Rettungsfonds ESM und überwachen deren Umsetzung. Die Maßnahmen, die ein Land als Bedingung für einen Kredit umsetzen muss, werden in einem sogenannten ‚Memorandum of understanding‘ festgehalten und formal von der Euro-Gruppe beschlossen.“ (Attac-D 2015q: 2)

Da den Lernenden jedoch abseits des oben erwähnten Fotos, das die Austeritätspolitik der Troika verurteilt und diese als Angriff auf die Demokratie bewertet, keine weiteren Materialien oder Rechercheoptionen (wie z. B. in Form von zusätzlichen Literaturhinweisen oder Verlinkungen zu themenspezifischen Webseiten) zur Verfügung gestellt werden, bleibt das Bild einer von vielen Seiten kritisierten „Institution“, deren demokratische Legitimität nicht gegeben ist und die größtenteils außerhalb der EU-Gesetzgebung agiert. Förderlich wäre in diesem Zusammenhang eine tiefergehende, demokratietheoretische Betrachtung der unter dem Namen der Troika zusammengefassten Institutionen gewesen. So werden die Mitglieder der Europäischen Kommission bspw. von den einzelnen Regierungen der EU-Mitgliedstaaten vorgeschlagen – wenngleich letztlich das Europäische Parlament zustimmen und der Europäische Rat in einer qualifizierten Mehrheit die offizielle Ernennung der Kommissionsmitglieder beschließen muss. Zudem verfügt das Europäische Parlament über die Möglichkeit, durch einen Misstrauensantrag die Kommission wieder aufzulösen. Benötigt wird hierfür eine Zweidrittelmehrheit. Zur Wahrheit gehört an dieser Stelle aber auch, dass bislang sämtliche Misstrauensanträge gegen die Europäische Kommission mangels Mehrheit abgewiesen wurden und seit vielen Jahren bereits eine Reform dieser Strukturen gefordert wird. Ein Überblick über zivilgesellschaftliche Einflussmöglichkeiten auf einzelne Institutionen der Troika und die mit ihnen in Verbindung gebrachten Kritikpunkte wären hier eine sinnvolle inhaltliche Ergänzung des Arbeitsblattes gewesen. Dies schließt etwaige Reformbedarfe oder gar eine grundsätzliche Kritik an der Struktur, Zusammensetzung und politischen Zielsetzung der jeweiligen Institutionen mit ein. In Bezug auf den IWF ist etwa anzumerken, dass die Machtstellung der EU und vor allem der USA eine umfassende Neuordnung verhindertFootnote 169 und die Institution für ihre Strukturanpassungsprogramme bereits seit längerem kritisiert wird.