Katja Hoyer hat recht: DDR-Forschung in Deutschland ist nicht vorurteilsfrei

Katja Hoyer hat recht: DDR-Forschung in Deutschland ist nicht vorurteilsfrei

Unser Autor stammt aus Ostdeutschland. Er wollte als Historiker die DDR erforschen, doch seine Anträge wurden oft abgelehnt. Nur der Mainstream hat Erfolg. Ein Gastbeitrag.

Der Berliner Palast der Republik mit Ährenkranz der DDR
Der Berliner Palast der Republik mit Ährenkranz der DDRRüttimann/imago images

Die Aussage von Katja Hoyer in ihrem Interview in der Berliner Zeitung über die Schwierigkeiten, an deutschen Universitäten objektiv zu Fragen der Geschichte der DDR forschen zu können, kann ich aus jahrzehntelangen Erfahrungen bestätigen.

Ich hatte in den letzten mehr als drei Dezennien an verschiedenen deutschen Universitäten gelehrt, ebenso wie im Ausland, unter anderem in Frankreich, China, diversen Unis in West- und Südafrika. Lehrveranstaltungen direkt zur Geschichte der DDR habe ich nicht angeboten, sondern zur Außen-, Wissenschafts- und Entwicklungshilfepolitik des ostdeutschen Staates.

Während man im Ausland an den behandelten Themen neugieriges Interesse zeigte, bin ich an Deutschlands Universitäten das Gefühl nicht losgeworden, dass man eigentlich schon alles meinte über die ostdeutsche Diktatur zu wissen. Vor der staatlichen Vereinigung Deutschlands hätte ich kaum geglaubt, dass die Anti-DDR-Ansichten aus der alten Bundesrepublik so lange überleben würden, sodass diese nun bis in die nachfolgende Generation reichen. Über eine solche ideologische Hartnäckigkeit hätte jeder SED-Dogmatiker mit Neid geblickt.

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Wiedervereinigung: „Das ist ja wie ein Kolonisierungsprozess“

Ein Beleg: Während einer Vorlesung zur Beziehungsgeschichte der beiden Deutschländer zum Apartheidstaat und zur dortigen Befreiungsbewegung ANC im Süden Afrikas machte mich eine Studentin darauf aufmerksam, dass ich mich wohl laufend verspreche; ich würde immer DDR sagen und meinte doch wohl die BRD, die den ANC unterstützt hätte. Ähnliche Beispiele über das sich festgesetzte, jedoch weitgehend nicht zutreffende Narrativ zur Rolle der DDR in Afrika ließen sich anführen, nicht zuletzt über die kruden Verdrehungen vom Leben der Vertragsarbeiter und Exilanten in der DDR. Anders die Studierenden im Ausland: Da konnte ich bemerken, dass es unvoreingenommenes Interesse an dem untergegangenen deutschen Staat gibt.

Erwähnenswert erscheint mir eine wohl aus komparatistischer Absicht gestellte Frage eines Studenten in einem Seminar an einer togoischen Universität. Er wollte wissen, wie denn der „Vereinigungsprozess“ in meiner Heimat, ihrer ehemaligen Kolonialmacht, verlaufen sei. Ich zählte einige diesbezügliche charakteristische Charakteristiken auf, die in dieser Zeitung des Öfteren zur Sprache gekommen sind. Das sorgte für Unverständnis und sogar Empörung bei einigen der jungen Afrikaner: „Das ist ja wie ein Kolonisierungsprozess“, hieß es. Ein anderer versuchte zu trösten: Erst komme immer die koloniale Übernahme, dann die Absicherung und Erweiterung des neu in Besitz genommenen Territoriums mit Vernichtung oder Verdrängung des Althergebrachten, aber dann setze die postkoloniale Phase ein.

Neue Stellen und Lehrstühle im Osten

Unmittelbar nach 1990 gab es ein von mir als ehrlich angesehenes Interesse von den westdeutschen Kollegen an der ostdeutschen Vergangenheit mit ihren Fehlern, Schwächen und Erfolgen. Man war neugierig und es kam zu Diskussionen, auch zu privat-kollegialem Austausch und gelegentlich gemeinsamen Projekten. In Erinnerung ist mir die Bemerkung des Direktors eines Afrika-Instituts geblieben, der sagte, dass er und seine Mitarbeiter mehr über die Forschungsthemen und diese bearbeitenden Kollegen aus Japan oder Portugal wüssten als von denen des benachbarten anderen deutschen Staates.

Das Interesse an einem Kennenlernen der östlich der Elbe lebenden und zu ähnlichen Themen forschenden Kollegen schwand in dem Maße, wie deutlich wurde, dass es im „wilden Osten“ nunmehr die so begehrten wissenschaftlichen Stellen und Lehrstühle zu besetzen galt. 

Normaler Alltag in der DDR: Auch das gab es.
Normaler Alltag in der DDR: Auch das gab es.imago stock&people

Vergangenheit wird verschüttet, verklärt, missachtet, negiert

Als ostdeutsch sozialisierter Geisteswissenschaftler gehörte ich zu denjenigen, für die Lehrstühle oder feste Stellen nicht vorgesehen waren. Über einhundert erfolglose Bewerbungen an deutschen Universitäten trotz Habilitation und drei Doktortiteln zeugen davon. Wie viele andere Kollegen aus der DDR musste ich mich von einer befristeten Stelle zur nächsten hangeln. Meine Forschungsanträge, die etwas mit der DDR zu tun hatten, wurden abgelehnt. Etwas mehr Glück hatte ich mit Anträgen zur deutschen Missions- und Kolonialgeschichte.

Mit DDR-Geschichtsthemen hatte ich ursprünglich nichts am Hut. Bis ich in den Diskussionen in einer Arbeitsgruppe der neu gegründeten Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) in den 1990er-Jahren erfahren musste, dass mir Kollegen aus dem Westen erzählen wollten, wie ich als Wissenschaftler gelebt und gearbeitet hätte. Da vergaß ich mein Versprechen, welches ich meiner Frau gegeben hatte, mich in der Veranstaltung ruhig zu verhalten, denn den Teilnehmern winkte ein Honorar, welches ich in dieser Höhe aus DDR-Zeiten nicht kannte.

Aber ich habe es nur etwa eine Viertelstunde ausgehalten, bis ich mich in die Diskussion einmischte, weil die dort vorgetragenen Ansichten über mein Lebens- und Arbeitsumfeld doch zu krass waren. So blieb ich in dem Gremium ein etwas scheel betrachteter Außenseiter, denn ich hatte die vorgefassten Meinungen der meisten mit starren Vorstellungen in den Osten gekommenen Kollegen etwas ins Wanken gebracht und diese wohl auch verärgert. Die dort zum Vorschein gekommene offensichtliche Unkenntnis über das reale Leben und das wissenschaftliche Arbeiten in der DDR empörte mich so sehr, dass ich aus den Erfahrungen meiner Mitarbeit an dem BBAW-Projekt „Wissenschaft und Wiedervereinigung“ meine zweite Dissertation über die Geschichte der Afrikawissenschaften in der DDR an der Freien Universität verfasste und damit wohl der erste Geisteswissenschaftler war, der an einer Ost- und einer West-Berliner Uni promoviert wurde.

Dennoch wurde kein Forschungsantrag von mir zu den verschiedensten Fragestellungen der Afrikabeziehungen der DDR genehmigt. So habe ich mehrere Bücher und Dutzende Studien neben meinen „bezahlten Forschungsaufgaben“ schreiben müssen. Denn ein Volk oder eine Gruppierung hieraus verliert den Sinn des Daseins, wenn die Vergangenheit verschüttet, verklärt, missachtet, negiert oder mokant dargestellt wird. Solche Vorgänge gab es, wie ich es aus meiner Forschungsarbeit weiß, in der Vergangenheit mehrere, vornehmlich in den kolonial unterdrückten Ländern des heute sogenannten Globalen Südens. Dagegen wehrten sich die kolonisierten Menschen – was heute in Zeiten des Postkolonialismus verstärkt aufgearbeitet wird.

Die fehlende Quellenkritik bei Historikern

Wie konnte es zu ähnlichen Verzerrungen des Geschichtsbildes eines ganzen Landes im heutigen offiziellen Narrativ des angeblich vereinten Deutschlands kommen? Dass es vieles nach der Wende aufzuarbeiten gäbe, war jedem politisch Interessierten damals klar. Aber wohl kaum jemand hat daran gedacht, dass fast nur solche Menschen – wie es Hans Modrow ausdrückte – sich mit der „DDR-Aufarbeitung“ befassen würden, die dieses Land weder kennengelernt hatten noch sich als Opfer desselben bezeichnen.

Es gab wohl keine Berufsgruppe nach der deutschen staatlichen Vereinigung, die so rigoros abgewickelt wurde, wie die der Historiker. Man kann sich natürlich fragen, warum dies geschehen ist. Dass nunmehr so viel Kritik an dem vorherrschenden Geschichtsbild von der DDR in der ostdeutschen Bevölkerung sichtbar ist und man effektivere Voraussetzungen für Forschungen hierzu eher im Ausland findet, liegt indes auch daran, dass die heutigen Geschichtsstudenten neben all den mehr oder weniger bekannten Unzulänglichkeiten kaum etwas über Quellenkritik lernen. So werden heute noch aus den Zeiten des Kalten Krieges stammende Bewertungen abgegeben, die den historischen Kontext übersehen, also die komplizierten historischen Entwicklungen mit einem Tunnelblick zu erkennen glauben und deshalb lieber auf vorliegende angebliche „Forschungs-“ergebnisse zurückgreifen, die ihren Indoktrinationen oder Intentionen entsprechen. Wer sollte diesen widersprechen?

Ost-Berlin in der DDR im Jahr 1985
Ost-Berlin in der DDR im Jahr 1985imago stock&people

DDR-Wissenschaftler stehen in Bezug auf Afrika nicht schlecht da

Ich habe Konferenzen erlebt, wo mir jüngere Historiker in Pausen oder im Anschluss für meine offenen Worte dankten. Auf meine Frage, warum sie das nicht laut gesagt und ihre Sicht in die Diskussion eingebracht hätten, wurde ich auf Bewerbungen und Befristungen, auf das Angewiesensein von Gutachten, die Notwendigkeit, die Familie ernähren zu müssen etc., verwiesen. Da könne man sich keinen Ärger einhandeln und bliebe lieber im Mainstream.

In Bezug auf die Beziehungen der DDR zu Afrika bzw. den Afrikawissenschaften kommt es letztlich nicht darauf an, was man aus westlicher Sicht dazu meint, bewerten zu müssen, sondern auf das, was die Afrikaner selbst dazu sagen. Und da stehen die DDR-Wissenschaftler nicht schlecht da. Denn vergessen sind die Leistungen der ostdeutschen Kolonialismus- und Afrikaforscher mit ihren Forschungsinhalten nicht, auch wenn ihre Institutionen und vor allem die sie ausgestaltenden Personen zumeist „abgewickelt“ worden sind, sogar – wie in Berlin – noch Jahre später nach der staatlichen Vereinigung Deutschlands.

Vor allem lebt die Sicht auf die Geschichte sowie die Methodologie der DDR-Kolonialhistoriker bei den Kollegen in Afrika fort. So formulierte es vor einiger Zeit der togoische Kollege Adjaï Oloukpona-Yinnon auf einer Tagung der Leibniz-Sozietät: „Aus heutiger Sicht bleibt der Beitrag der DDR-Afrikawissenschaft zur Stärkung afrikanischen Bewusstseins m. E. unvergesslich, vielleicht (ist das) sogar wichtiger als das politische Erbe und die wirtschaftlichen Errungenschaften aus den 40 Jahren Beziehungen Afrikas zur DDR …“ Und weiter: „Viele DDR-Historiker und -Afrikanisten … haben durch ihre wissenschaftlichen Publikationen dem ganzen afrikanischen Kontinent neue Wege der Geschichtsschreibung erschlossen.“

Prof. Dr. mult. Ulrich van der Heyden ist Historiker, Politikwissenschaftler und Spezialist für die Kolonialgeschichte Afrikas, tätig an FU, HU und in Südafrika sowie Autor zahlreicher Bücher.